Die Rache des „irakischen Widerstands“

15.06.2014
Malikis konfessionelles Regime provoziert konfessionelle Antwort
von Wilhelm Langthaler
Der Erfolg von ISIS ist offensichtlich. Innerhalb nicht einmal einer Woche fiel ihnen der halbe Nordirak fast kampflos in die Hände. Warum? Große Teile der sunnitischen Bevölkerung betrachten die schiitische Regierung in Bagdad als Hauptfeind. De facto hat eine sunnitische Koalition, die in etwa dem „irakischen Widerstand“ gegen die US-Besatzung vor zehn Jahren entspricht, das proiranische Regime zurückgedrängt.

1) Nicht nur ISIS

Mosul und Tikrit konnten nur kampflos fallen, weil a) die irakische Armee nicht zu kämpfen bereit war und b) die lokale Bevölkerung ebenfalls keinen Widerstand leistete oder den Aufstand sogar unterstützte. Mit ein paar Tausend oder vielleicht Zehntausenden Kämpfern ohne schwere Waffen können sonst nicht derartig große Territorien eingenommen werden.

2) Alter irakischer Widerstand und neuer Volksaufstand

Welche Kräfte sind nun beteiligt? Neben den Jihadis sind da einerseits die Kräfte um die alte irakische Armee und die Baath-Partei. Izzat al Durri, aus der Saddam-Führung, steht dem Naqshbandiya-Orden vor, unter dessen ideologischem Schild bewaffnete Kräfte operieren. Andererseits gibt es die Stammesstrukturen, die in gewissen Bereichen über großen Einfluss verfügen. Diese drei Tendenzen werden hier nur beispielhaft genannt, denn die Grenzen verfließen. Es gibt wohl kaum eine Kraft im sunnitischen Milieu, die nicht auf der Seite des Aufstands steht, der einen stark konfessionellen Charakter trägt. Eine wichtige Figur ist Scheich Harith al Dari, der Vorsitzende der Ulama, der sich von Anfang an radikal gegen das Bagdader Regime gestellt hat.

In einem Telefonat am 15.6.2014 sagte Awni al Kalemji, ein Führer der Irakischen Patriotischen Allianz, die dem irakischen Widerstand eine politische Plattform zu geben versucht hatte, dass es sich um eine „Volksrevolution“ handle. „Natürlich gibt es Islamisten, aber das ist nur eine Kraft von vielen. Teilweise hat die alte irakische Armee die Kontrolle.“

3) Malikis Verantwortung

Maliki bekam die Macht von den USA gegen den irakischen Widerstand ausgehändigt. Und das mit der Unterstützung Teherans. Er bildete ein schiitisch-konfessionelles System. Die von den USA entwickelte Sahwa-Bewegung (Erwachen), die eine Sektion der sunnitischen Gesellschaft einbinden sollte (Stämme, Milizen, soziale Eliten) führte er nicht weiter. Proteste dieses Milieus in Falluja und Ramadi lies er mit militärischer Gewalt niederschlagen, womit die Grundlage des Bündnisses mit den Jihadisten gelegt wurde.

Die konfessionelle Spaltung und Eskalation ist nicht einer Seite zuzuordnen. Beide Seiten drehen kräftig an der Spirale und auch die USA hatten sich daran beteiligt.

4) Konfessionelle Teilung des Landes und Ende von Sykes-Picot

ISIS wird kein weiterer Vormarsch in die schiitischen Gebiete gelingen. Bei Samarra, in dem sich ein wichtiger schiitischer Schrein befindet, ist Schluss. Ohne massive ausländische Hilfe wird es aber umgekehrt dem schiitischen Regime schwer fallen verlorene sunnitische Territorien zurückzuerobern. Seitens der USA wird es wohl nicht zur Intervention kommen, die bereits einmal gescheitert ist. Einzig der Iran wäre dazu in der Lage, doch das würde die arabisch-sunnitische Seite noch mehr als in Syrien auf den Plan rufen.

De facto sind damit im Kontext mit dem syrischen Bürgerkrieg und der Konsolidierung der kurdischen Macht die vom europäischen Imperialismus nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen hinfällig, auch wenn sie de jure noch weiter bestehen könnten.

Denn Bagdad und der Süden bleibt weiterhin fest in der Hand des schiitischen Regimes, das auch die notwendige Unterstützung in der Bevölkerung geniest – nicht notwendigerweise die Regierung Maliki, sondern das konfessionalistische politische System.

Mit der bekannten konfessionellen Mobilisierung und Konfrontation muss gerechnet werden, die unweigerlich mit Massakern und Vertreibungen einhergehen werden. Größter Konfliktpunkt war und ist Bagdad, in dem schiitische Mehrheit und sunnitische Minderheit seit dem Bürgerkrieg 2006/7 bereits getrennt leben.

5) Innerer sunnitischer Bürgerkrieg mit ISIS

Es muss angenommen werden, dass ISIS wie in Syrien den alleinigen Machtanspruch stellt, wenn vielleicht nicht sofort. Wie in Syrien kann mit heftigen internen Konflikten gerechnet werden. Obwohl der Jihadimus große Unterstützung im Volk geniest, erweist er sich zur Hegemonie unfähig. Zudem fehlt ihm die zur Staatsbildung unumgängliche internationale Unterstützung. Der „natürliche Verbündete“ Türkei ist so nicht an Bord zu holen. Ein jahrelanger Bürgerkrieg kann nicht ausgeschlossen werden.

6) Rückwirkung auf Syrien

Der sunnitische Aufstand im Irak zeigt nicht nur das Scheitern der konfessionellen Strategie Malikis, sondern auch Assads an. Dessen Regime feiert militärische Siege gegen die sich gegenseitig bekämpfenden Jihadisten, die sich auch von Teilen des sunnitischen Volkes entfernt haben. Es denkt mit der konfessionell-militärischen Linie siegen zu können. Das irakische Beispiel zeigt dessen Unmöglichkeit.

Die irakischen Ereignisse führen sehr deutlich auch die Grenzen der iranischen Strategie vor Augen. Viel mehr als um eine „Achse des Widerstands“ gegen den Imperialismus handelt es sich um eine schiitische Achse, die da und dort mit dem Westen in Konflikt gerät aber genauso gut da und dort von diesem unterstützt wird. Das Bagdader Regime basiert letztlich auf ein iranisch-amerikanisches Kondominium, so sehr Washington und Teheran sich im Syrien bekriegen.