Das Referendum im Nordirak und der Angriff auf Raqqa

08.06.2017
Der Beginn eines neuen Krieges im Irak? Oder eine historische Chance für einen demokratischen Staat Kurdistan?
Von Jörg Ulrich
Am 07.06.2017 kündigte der Präsident der kurdischen Autonomiegebiete im Irak, Massud Barzani, für den 25. September 2017 ein Referendum zur Unabhängigkeit an. Diese Ankündigung folgte dem Beginn der sog. Großen Schlacht zu Eroberung der arabischen Stadt Raqqa am 06.07.2017 durch ein Bündnis kurdischer Einheiten und den USA. Mit dem Beginn der "großen Schlacht" zur Eroberung von Raqqa zeichnet sich zunehmend die Niederlage der Aufständischen von Anbar ab.

Die Ankündigung eines Referendums über die Abtrennung der kurdischen Autonomiegebiete im Irak lassen die Konturen einer "Neuordnung" für die politische Ordnung der Region erahnen. Doch wer nun glaubt die aus historischen Gründen verständliche Freude der Kurden teilen zu müssen - oder gar den Sieg der "Revolution" in "Rojawa" herannahen zu glauben meint, wird sich meiner Befürchtung nach schnell die Augen reiben. Denn die Unabhängigkeit eines von US-amerikanischen Gnaden abhängigen Kurdistans wird der Auftakt einer neuen Runde im Bürgerkrieg im Irak und in Syrien sein: nämlich um die Ressourcen dieser Länder.

Die Sieger dieser erreichten Unabhängigkeit werden nicht die "Helden" und "Befreier" der US-amerikanischen Hilfstruppen der SDF sein! Vielmehr wird sich der politische und ökonomische Schwerpunkt weiter Richtung Irak/Dohuk verschieben und zunehmend die einstmals "demokratischen Föderalisten" ins politische Abseits drängen. Denn mit dem Ende der US-amerkanischen Finanzspritze wird Dohuk, vermittels seiner ökonomischen Stärke und seinen Freunden aus den USA und Europa, schnell den politischen Einfluss der Rest-PKK in Syrien und im Irak zurückdrängen können. Doch weder der Status um Sindshar noch der Status von Kirkuk sind politisch geklärt. Eine einseitige Abspaltung der erdölreichen Region wird Bagdad nicht hinnehmen.

Des Weiteren steht zu befürchten, dass mit der Abspaltung im Irak auch einer Teilung Syriens Vorschub geleistet wird, der allen Dementis zum Trotz mit der Proklamation einer "Demokratischen Föderation Rojawa" der Weg geebnet wurde. Auch hier geht es um eine für einen Wiederaufbau ökonomisch für den syrischen Staat wichtige Region, die reich an Erdöl und vor allem an Wasser ist. Auch hier ist zu befürchten, dass sich eine jahrelange blutige Auseinandersetzung anbahnen wird. Die große Warnung Abdullah Öcalans - auch als eine Begründung für die Notwendigkeit einer politischen Lösung der kurdischen Frage - scheint sich zu bewahrheiten. Ein unabhängiges Kurdistan unter den aktuellen politischen Bedingungen bedeutet 100 Jahre Krieg!

Die Tragik, die sich heute vor Raqqa abspielt, ist die, dass die kurdischen Verbände dort einen sunnitisch-arabischen Aufstand bekämpfen, dessen Gründe es zuerst zu verstehen gilt. Die Dämonisierung des IS als "faschistisch" und die Gleichsetzungen mit Nazi-Deutschland dienen dabei dazu, genau diese Ursachen, die vor allem mit der US-Besatzung des Irak zusammenhängen, zuzudecken. Statt nach politischen Lösungen zu suchen, die die sozialen und demokratischen Forderungen berücksichtigen, wird der Schulterschluss mit den USA als "taktisches" Manöver legitimiert. Nichts wäre heute dringlicher als eine neue breite antiimperialistische Front gegen die imperialistischen Eindringlinge und für einen demokratischen Föderalen Mittleren Osten!

Jörg Ulrich ist ehemaliges Mitglied der „Volksbefreiungsarmee Kurdistans“ (ARGK)