Mosul: Ohne Selbstverwaltung kein Frieden

20.09.2017
Oder: warum sind US-Bomben auf Mosul humaner als russische auf Aleppo?
Von Wilhelm Langthaler
Nur mit äußerster Gewalt konnte Mosul vom IS zurückerobert werden. Vielfach vernahm man Berichte, die die Operation als Rachefeldzug erscheinen lassen. Selbst viele Wochen nach der Siegesmeldung gibt es kein Anzeichen dafür, dass die Bagdader Regierung Bereitschaft hätte, die lokale Bevölkerung politisch einzubinden. Es deutet alles auf eine fortgesetzte quasi-militärische Herrschaft, die auf Ablehnung in der Bevölkerung stoßen wird. Damit ist auch vorauszusehen, dass der Bürgerkrieg und der Jihadismus sich in der einen oder anderen Form fortsetzen werden.

Eine weitere Episode im Kampf ums Zweistromland

Der Westen zeichnet ein klares Bild im irakischen Konflikt – das Gute, geleitet von den USA, führt einen unversöhnlichen Kampf gegen das Böse, den IS, der die Welt bedroht. Bei so einer epochalen Schlacht darf man natürlich nicht zimperlich sein.
Die gesellschaftliche Realität ist, wie immer, viel komplexer und kann ohne den historischen Kontext gar nicht verstanden werden. Im Großen gesehen handelt es sich um eine weitere Schlacht im Krieg um das Zweistromland, wie er zumindest seit 1980 andauert, als der Erste Golf-Krieg begann. Schon damals hatten die Groß- und Regionalmächte einen wesentlichen Anteil daran. Wenn man will, kann man den Konflikt auch viel weiter zurückverfolgen, denn das Zweistromland war nicht nur Wiege der Zivilisation, sondern Jahrhunderte auch Stoßzone verschiedener Mächte der Region.

Wir beschränken uns der Kürze halber auf die unmittelbar vorangegangene Episode, die fast kampflose Machtübernahme des IS in Mosul und in weiten Teilen des Nordostens des Irak im Sommer 2014. Das westliche Narrativ bietet dafür keinerlei Erklärung und vermeidet tunlich tiefer zu kratzen. Tatsächlich hatte das Bagdader Regime, das sich insbesondere unter dem damaligen Regierungschef Maliki auf einen schiitischen Konfessionalismus stützte, im sunnitischen Kerngebiet der Oberläufe von Euphrat und Tigris jeden Einfluss verloren. Sie hatten die sunnitischen Eliten ausgesperrt. Bezeichnend ist die Geschichte mit dem sunnitischen Vizepräsidenten des Irak, Hashemi, der 2012 „wegen Terrorismus“ zum Tode verurteilt wurde, sich allerdings zuvor in die Türkei absetzen konnte.

So wird besser verständlich wie ein paar Tausend sunnitisch-islamistische Kämpfer die Kontrolle über ein ausgedehntes Gebiet mit mehreren Millionen Einwohnern im Handstreich übernehmen konnten. Wir haben unter dem Titel „Die Rache des ‚irakischen Widerstands'“ (http://www.antiimperialista.org/de/Rache_des_irakischen_Widerstands) analysiert, wie Mosul ihnen als reife Frucht in die Hände fiel.
Die USA waren nach der Besetzung des Irak 2003 mit der Debaathizierung zwar Architekten dieser Politik gewesen, hatten dann gegen Ende des Jahrzehnts mit der Sahwa-Politik der Einbindung der sunnitischen Stämme eine Kehrtwende vollzogen. Den USA geht es nicht nur darum, zumindest Teile der sunnitischen Eliten zurückzugewinnen, sondern damit auch den iranischen Einfluss auf den Irak zu beschränken. Doch das will und kann das Bagdader Regime nicht einfach nachexerzieren, denn es ist organisch auf den politischen Schiitismus aufgebaut. Ein bisschen mehr Spielraum gegenüber Teheran wünschen sich Teile des irakischen politischen Systems indes durchaus und die politische Klasse fächert sich diesbezüglich auf. (Nur so kann man erklären, wieso Muqtada as-Sadr, die einzige Komponente des schiitischen politischen Islam die zumindest am Rande bereit war am Widerstand gegen die US-Besatzung mitzumachen und immer mit der arabischen nationalen Karte spielte, nun auf einmal im Einvernehmen mit Riad steht. Man soll sich nicht täuschen lassen und annehmen, dass sie sich über Saudi-Arabien an die USA angenähert hätten. Sondern da geht es lediglich um ein arabisches Gegengewicht zu Teheran.)

Zähe und schwierige Vorbereitungen auf den Angriff

Die Bagdader Regierung hatte gleich nach der Machtübernahme des IS im Nordwesten des Landes vollmundig eine Offensive zur Rückeroberung angekündigt. Doch diese wollte nicht in die Gänge kommen und stieß auf größte Schwierigkeiten. Die militärischen Versuche auch in kleineren Städten wie Falluja, Ramadi, Tikrit, Baiji usw. bedurften der massiven Luftunterstützung der USA. Doch diese wiederum verlangten, dass die schiitischen Milizen sich im Hintergrund halten sollten oder am besten ganz wegblieben. Das war für Bagdad ein Gang auf des Messers Schneide. Denn einerseits brauchten sie die Milizionäre aus militärischen Gründen, andererseits machten die proiranischen Kräfte über sie ihren Einfluss geltend.

Dabei soll es zu konfessionellen Massakers gekommen sein, insbesondere auch im gemischten Gebieten wie im Nordosten von Bagdad. Es gibt darüber zahlreiche Berichte auch aus westlichen Quellen (https://www.hrw.org/news/2015/09/20/iraq-militia-abuses-mar-fight-agains...). Die alte Hauptstadt des Widerstands, Falluja, soll nach einer brutalen Belagerung durch die irakischen Truppen im Frühjahr 2016 monatelang kaum bewohnt gewesen sein. Man kann sich vorstellen, dass die Bevölkerung politisch weiter in Richtung des sunnitischen Konfessionalismus und ihres aktuellen politisch-militärischen Ausdrucks, dem IS, gedrängt wurde.
Die Narrative über die gegenseitigen Massaker sind natürlich nie neutral, sondern immer gefärbt. Das ist Grundelement eines (konfessionellen) Bürgerkriegs. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch die Darstellung zu überwinden, dass nur der IS oder radikale Sunniten Verbrechen begehen, sondern dass es sich um einen wechselseitigen und sich aufschaukelnden Prozess von Revanchen handelt.

Nochmals zum Westen: Dieser hat das letzte Wort darüber, wer als Terrorist und wer als Freiheitskämpfer gibt. Und da gibt es mitunter langfristige und auch kurzfristige Wendungen. Speziell im irakischen Fall stimmt es allerdings nicht, dass die USA auf Seiten des IS wären. Wieso hätten sie sonst Mosul in Schutt und Asche gelegt? Ihr Druck auf Bagdad geht, wie dargestellt, aber in Richtung der Einbindung von Teilen der sunnitischen Eliten. Darum haben NGOs, die vorgelagerte Institutionen der westlichen Staaten sind, auch gegenüber schiitischen Gräueltaten einen Spielraum für Berichte. Wäre Washington voll auf der Seite Malikis und Abadis, wären solche Enthüllungen wohl nicht möglich oder zumindest nicht hörbar.

Dass der Angriff dann doch stattfand, hängt auch mit dem gewachsenen Einfluss Russlands in Syrien und damit in der Region, sowie den amerikanisch-türkischen Differenzen zusammen. Anfangs hatten die USA die Türkei in Syrien gewähren lassen. Doch das Erstarken des Jihadismus auf der einen Seite und die Konsolidierung des Regimes mit russischer Unterstützung auf der anderen, haben die USA auf die Kurden setzen lassen. Um zu verhindern, dass das vom IS hinterlassene Vakuum gänzlich von Assad, dem Iran und Russland gefüllt wird, musste Washington dringend gegen den IS in seiner irakischen Heimat vorgehen. Dort verfügen sie mit dem Bagdader Regime zumindest über einen kräftigen lokalen Verbündeten.

Hinsichtlich der eminenten militärischen Schwäche der irakischen Armee haben die USA reagiert indem sie Sondereinheiten („Counter Terrorism Services“ https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2016/06/David-Witty-Paper_F...) aufbauten, die sehr eng an das US-Kommando angegliedert sind und fast so wie US-Einheiten funktionieren. Sie haben dann tatsächlich beim Angriff eine wesentliche Rolle gespielt und sollen ungefähr die Hälfte der Truppe dabei verloren haben.

Zu erwartendes Massaker

Wie beschrieben war es sowohl Bagdad als auch Washington klar, dass die Militäroperation gegen Mosul im Grunde ein politisches Problem ist und in erheblichen Teilen der lokalen Bevölkerung auf Ablehnung stoßen würde (http://www.antiimperialista.org/de/mosul), trotz des extremistischen Regimes der IS. Die Öffentlichkeit wurde also auf Schlimmes eingestimmt.
Als erstes Angriffsziel wählte man Ostmosul, das einen hohen Anteil von Minderheiten und Kurden aufweist. Man erwartete richtigerweise weniger politische Schwierigkeiten. Zudem ging man langsam vor, bedacht möglichst die Zivilbevölkerung zu schonen. So wurden wenig Artillerie und Luftschläge eingesetzt, sondern überwiegend der verlustreiche Kampf Haus um Haus, Straße um Straße, geführt. Wohlgemerkt, der Kampf entfaltete sich noch unter der Präsidentschaft von Obama, der aus politischen Erwägungen auf eine behutsame Gangart bestanden haben mag. Die irakischen Spezialtruppen brauchten dafür ein halbes Jahr und rieben sich dabei auf. Trotzdem kam es zu einer enormen Fluchtbewegung von mehreren Hunderttausend Menschen.
Sowohl die Peschmerga von Barzani, die sich als Schutzmacht der Kurden verstehen, als auch die türkische Armee, die sich als Schutzmacht der Turkmenen geriert, hatten ihr Interesse angemeldet, bei den Kämpfen dabei zu sein. Doch Bagdad blockte ab. Die Türkei hielt man ganz draußen, die Peschmerga bekamen Aufgaben am Rande, aber nicht in Mosul selbst.
Doch im Kern der IS-Macht, in der Altstadt am westlichen Ufer des Tigris, war dann alles anders. Einerseits waren die Kräfte der irakischen Armee schon stark beansprucht, andererseits brauchte man aus politischen Gründen schnelle Erfolge, denn der Krieg hatte bereits mehrere Monate in Anspruch genommen. Allerdings sollte es dann nochmals ein halbes Jahr dauern, bis die Rückeroberung Mosuls verkündet werden konnte. Die irakische Armee hatte massiv schwere Artillerie eingesetzt und die US-Luftwaffe ihre Bombenteppiche über die engen Gassen gelegt. Es gab keinen Unterschied zum Vorgehen der syrischen Armee, ihrer Verbündeten sowie der russischen Luftwaffe in Ostaleppo einige Monate davor.

In dieser Form des Krieges kann praktisch kein Unterschied zwischen Zivilbevölkerung und Kämpfern gemacht werden. Entsprechend hoch waren die Verluste unter den Zivilisten. Hinzu kommt das tiefe gegenseitige Misstrauen, wo jeder erwachsene Mann als potentieller IS-Kämpfer verdächtigt wird und die Kollektivschuldvorwurf in der Luft liegt. Tatsächlich gab es Berichte von Revanche-Tötungen von Gefangenen und Verdächtigen. Viele der Frauen und Kinder aus Westmosul befinden sich bis heute in Internierungslagern. Es gibt einen Bericht von Amnesty International über die begangenen Gräueltaten auch der irakischen und amerikanischen Armee: At Any Cost: The Civilian Catastrophe in West Mosul (https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2017/07/at-any-cost-civilian...)

Umso entlarvender ist der doppelte Maßstab, der von der westlichen Medienmaschine angelegt wird. Ein einfacher Konsument kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass die bösen Russen und ihre lokalen Verbündeten in Syrien eine Massenschlächterei begangen hätten, während im Irak nun endlich die guten Amerikaner mit ihren Verbündeten obsiegt hätten und dabei unvermeidliche Kollateralschäden entstanden wären.

Politische Einbindung?

Der Irak ist Kern des konfessionellen Konflikts in der Region. Dort ist die Spaltung am tiefsten in das gesellschaftliche Geflecht eingedrungen, denn die zwei Konfessionen waren in den letzten Jahrhunderten gleichzeitig politisches Bekenntnis zu einem der beiden Machtzentren der Region – nämlich dem Persischen und dem Osmanischen Reich.
Doch Achtung: Auch die Interpretation des Konfessionalismus selbst ist politisch umstritten und transportiert Interessen.
Im Westen herrscht ein essentialistisches Konzept vor, dem eine koloniale Abwertung anhaftet. In den unterentwickelten Regionen seien Ethnie und Religion stärker als Nation. Dabei wird geflissentlich darüber hinweggesehen, dass der Westen sich selbst des Konfessionalismus bediente, zuerst mit Saddam und später dann auf der anderen Seite gegen ihn. Zudem wird verschwiegen, dass es der Westen war, der die nationale Befreiung und Entwicklung mit allen Mitteln zu behindern versuchte und nach wie vor tut. Krieg und Besatzung wird, wie beim alten Kolonialismus, eine zivilisatorische Funktion zugeschrieben.

Besonders bösartig wurde dieses Konzept gegen Jugoslawien eingesetzt. Dort gab es einen antiimperialistischen und antikapitalistischen Befreiungsversuch, der die Völker des Balkans in einer schwierigen und veränderlichen Form des Föderalismus vereinigen wollte. Seitens des Westens wurde das immer als Völkergefängnis verunglimpft und die alten Nationalitäten als naturgegebene ewige Entitäten dargestellt. Dabei schreckte man weder davor zurück, auf die profaschistischen Nationalismen des Weltkrieges zurückzugreifen, noch konfessionell-ethnisch-nationale Bürgerkriege zu befördern, nur um die Herrschaft zurückzuerlangen.
Tatsächlich war es in Jugoslawien aber so, dass über Jahrzehnte eine gemeinsame übergeordnete staatliche Identität herangewachsen ist, die nicht unbedingt die anderen Identitäten aufgehoben hat, ihnen aber eine andere Bedeutung gab. Jedenfalls funktionierte die Kooperation über lange Jahre. Es gibt viele Gründe, warum Jugoslawien gescheitert ist, auch die konkrete Ausgestaltung des Föderalismus trug ihr Scherflein dazu bei. Doch dass der föderative Zusammenschluss nicht funktionieren kann, ist damit keineswegs gesagt. Im Gegenteil, wir sehen es als Modell zur Anknüpfung an.
Auf der anderen Seite gibt es Strömungen des Panarabismus, die jeden Konfessionalismus leugnen und ihn als reine von außen hereingetragene Machination sehen. Sie stehen in gewisser Weise in der Tradition des französischen Säkularismus, der sich auch im Kemalismus fortgesetzt hat. Wenn sie die formale Gleichheit nicht oktroyieren können, dann imaginieren sie sie wenigsten. Doch das ist selbst im Mutterland Frankreich gescheitert. Unter dem Deckmantel der formalen Gleichheit wird die reale Ungleichheit nicht nur ignoriert, sondern sogar noch verstärkt. Das Asad-Regime ist dafür ein beredtes Beispiel. Formal säkular hat das Regime einen de-facto-konfessionellen Charakter, was wiederum dem sunnitischen Konfessionalismus Munition für seinen Revanchismus gab und gibt.

Tatsächlich ist das Phänomen des Konfessionalismus vielschichtig und widersprüchlich. Die Explosion des syrischen Bürgerkriegs macht ihn trotzdem nicht absolut. Es gibt viele andere Faktoren, wie den sozialen oder auch nationalen, die bisweilen überwiegen. Noch vor zehn Jahren war die schiitische Hisbollah wegen ihres Widerstands gegen Israel im arabischen Osten eine gefeierte Kraft selbstverständlich auch unter Sunniten. Und nicht nur im libanesischen Bürgerkrieg waren die meisten Opfer im Bruderkrieg innerhalb der jeweiligen konfessionellen Lager zu beklagen. Tatsächlich wird der Konfessionalismus über Saudi-Arabien massiv von außen hereingetragen, insbesondere beim Versuch der Eindämmung der aufstrebenden Regionalmacht Iran. Die USA und der Westen sind direkt und indirekt stark daran beteiligt. Gegenwärtig hat das Konfessionelle das Soziale stark überdeckt und sich mit dem Nationalen vermischt. Das kann sich aber ändern, unter gewissen Umständen sogar schnell. Zum Beispiel durch einen Wechsel von Bündniskonstellationen.
Für demokratische, soziale und antiimperialistische Kräfte ist eine Formel der konfessionellen Aussöhnung entscheidend, selbst wenn sie nicht unmittelbar verwirklicht werden kann. Sie macht erst den Platz für die demokratischen und sozialen Fragen frei, die subkutan natürlich weiterwirken, aber nur schwer direkt angesprochen werden können.

Selbst aus Sicht der Herrschenden wäre es sinnvoll zur Stabilisierung der Lage einen kooperationsbereiten Teil der hinausgedrängten sunnitischen Eliten zurückzuholen, sei es aus dem konservativ-sunnitischen Bereich, des Sufismus, des Baathismus, des alten Staatsapparates und der Armee, der Stämme usw.
Doch aus Bagdad ist absolut nichts in diese Richtung zu vernehmen, auch nicht aus Washington und seinen Think-Tanks. Alles deutet darauf hin, dass ein solcher Versuch nicht unternommen werden wird. Es scheint damit nur eine Frage der Zeit, dass der schwelende Konflikt erneut eruptiert.

Kurdisches Referendum

Es gibt noch ein weiteres Element der Unsicherheit. Für Ende September hat der KDP-Chef Barzani ein Referendum für die Unabhängigkeit Kurdistans vom Irak angesetzt. Von den Regionalmächten wie auch von den USA und der EU wird der Schritt abgelehnt, jedoch nicht in frontaler Weise. Denn die KDP ist nicht nur ein verlässlicher Partner des Westens, in einer Region wo letzterer zunehmend an Einfluss verliert, sondern auch der Verbündete von Erdogan.
Obwohl es keinen Zweifel am Ausgang der Abstimmung gibt, wird sie denn abgehalten, ist doch die Ablehnung des Referendums im Land selbst erstaunlich hörbar. Alle Oppositionskräfte, die historische PUK, die neue liberale Gorran sowie die Islamisten sind für Absage oder Verschiebung. (Einzig die PKK hält sich bedeckt.) Das Motiv ist eine weitere Machtkonzentration des halbautoritären Barzani-Regimes zu verhindern.
Innerhalb des Iraks sind durch das Referendum neue bewaffnete Konflikte vorprogrammiert. Denn die Implosion der irakischen Armee, die Machtübernahme des IS im Nordosten und der Kampf gegen den IS haben zur territorialen Kontrolle der kurdischen Peschmerga über historisch zwischen Arabern und Kurden umstrittene Landstriche geführt. Insbesondere geht es um die Ölstadt Kirkuk, die von Kurden, Turkmenen und Arabern bewohnt wird. In den 1960er Jahre gab es eine erzwungene Arabisierung. Das von den USA unterstützte Bagdader Regime hatte einer Rekurdisierung und anschließenden Abstimmung zugestimmt, dessen Details aber immer umstritten blieben. Zu dem Referendum ist es daher auch nie gekommen. Die Kurdisierung fand nun unilateral unter der Präsenz der Peschmerha unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den IS statt.

Politisch anders gelagert aber formal ähnlich ist die Situation in Sinjar, das ebenfalls von Erbil beansprucht wird. Die dort angesiedelte Gruppe der Jeziden sind national gesehen Kurden, doch beklagen sie, dass sie aufgrund ihrer Konfession von den KDP-Kräften nicht ausreichend vor dem IS verteidigt wurden. PKK-nahe Kräfte gewannen in der Folge stark an Einfluss und bildeten Milizen. Jedenfalls will ein guter Teil der Jeziden nicht unter die Herrschaft der KDP und damit auch nicht zu Erbil.
Ob und wie das Referendum außerhalb der offiziellen Grenzen der Autonomen Region Kurdistan aber unter ihrer militärischen Kontrolle abgehalten werden soll, ist derzeit nicht bekannt. Sollte Erbil annexionistische Ziele zu verfolgen versuchen, wird es mit Sicherheit bewaffnete Konflikte mit den schiitischen Milizen unter dem Kommando von Teilen des Bagdader Apparats geben, denn dieser wird seine Ansprüche mit Sicherheit nicht kampflos aufgeben. Scharmützel gab es bereits in den vergangenen zwei Jahre immer wieder.
Auch hier spielt die Form der Einbindung des arabisch-sunnitischen Milieus in der arabisch-kurdischen Stoßzone eine wichtige Rolle für das Kräftegleichgewicht. Denn die arabisch-schiitischen Milizen befinden sich jedenfalls in den umstrittenen Gebieten auf politisch fremdem Territorium. Die arabischen Christen, die historisch glühende Arabisten gewesen waren, haben sich angesichts des sunnitischen Konfessionalismus den Kurden angenähert, die noch am ehesten ihren Schutz gewährleisten.

Das Schicksal des IS und des Jihadismus

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der IS eine schwere historische Niederlage hat einstecken müssen, von dem er sich wahrscheinlich nicht mehr erholen wird. Er repräsentierte den akuten Wundbrand nach der totalen Zerschmetterung der historischen Organisation der irakischen Gesellschaft durch die US-Besatzung, die Machtübernahme des politischen Schiitismus sowie das Scheitern des Widerstands an der konfessionellen Spaltung. Der IS ist die totale konfessionelle Revanche, die die Selbstvernichtung in Kauf nimmt.
Doch in allem, was den IS in der Galaxie des Jihadismus besonders macht, ist er gescheitert, insbesondere bei der Umwandlung der terroristischen Guerilla in einen Territorialstaat. Der extreme Autoritarismus, der Takfirismus (die Exkommunikation bei der kleinsten Abweichung) und die kulturelle Rigidität funktionieren nur in der Expansion. Stagnation oder Rückzug müssen bald zum Zusammenbruch führen, insofern ein unmittelbarer Millenarismus enttäuscht wird.
Doch man darf sich nicht täuschen. Der IS war die einzige Möglichkeit der Repräsentation der sunnitisch-arabischen Bevölkerung, die noch viele Millionen zählt. Wird sie abermals kollektiv bestraft, ihr nochmals die Repräsentation verweigert, dann wird es wieder zu gewaltsamen Aufständen kommen.
Der Jihadismus ist jedenfalls als Anwärter auf die Führung noch da. Es gibt nämlich durchaus auch Formen, die innerhalb ihrer Galaxie einschließender operieren, ja fast gramscianisch um Hegemonie ringen. Das gilt beispielsweise für die Transformationskette Al Quaida / Nusra-Front / Jabhat Fatah al Sham und ihre Bündnisse, zuletzt Hayat Tahrir al Sham, die sich sicher auch in Abgrenzung zur Gegenfolie Daesch entwickelten. Das bezieht sich zwar auf Syrien, aber die Grenzen sind permeabel. Zudem ist die Bewegung auch taktisch flexibel und zur Kooperation mit lokalen und regionalen Mächten fähig, zumal sie sich ideologisch/dogmatisch kaum von der saudischen Staatsreligion des Wahhabismus unterscheiden.

Um den Weg für demokratische, soziale und antiimperialistische Kräfte frei zu machen, bedarf es einer politischen Kraft, die einerseits für die konfessionelle Versöhnung, andererseits für den Föderalismus und die Selbstbestimmung eintritt. Nach der Niederlage des IS gebe es dazu eine neue Chance, zumal es auch auf der anderen Seite, dem schiitischen Islamismus gärt.