Nein, wir verteidigen die westliche Zivilisation nicht

10.01.2015
Von Antiimperialistische Koordination
Wir Antiimperialisten sind nicht Teil des Kulturkampfes
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Das Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo ist eine weitere Eskalation in der ungleichen Auseinandersetzung des Westens mit der islamischen Welt, die immer stärker die Form des Kulturkampfes annimmt. Wir verurteilen das Attentat auf Charlie Hebdo. Gleichzeitig reihen wir uns aber nicht in die Einheitsfront der Verteidiger des imperialistischen Westens und seiner „überlegenen Zivilisation“ ein, die sich als Reaktion auf das Attentat formiert. In Frankreich reicht diese von der laizistischen Linken bis zur radikalen Rechten von Marie LePen.

Als Antiimperialisten, Sozialrevolutionäre und rational denkende „aufgeklärte“ Menschen müssen wir darauf drängen:

1.) Den imperialistischen Charakter der Weltordnung nicht zu vergessen, der der Mehrheit der Menschheit jede Entwicklungsperspektive nimmt, ihr das Recht auf Selbstbestimmung verweigert und jeden Widerstand mit Krieg und Gewalt unterdrückt. Wer dieses strukturelle Unrecht ignoriert und toleriert, der kann die Gründe für den Aufschwung des Jihadismus weder verstehen noch überwinden.

2.) Die Augen nicht vor dem totalen sozialen Ausschluss und der Diskriminierung der Migranten zu verschließen, die insbesondere in den Banlieus von Frankreich die „westliche Zivilisation“ und die „demokratische Republik“ nur als Armut, Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt kennen. Solange diese umfassende Gewalt gegen die Unterschicht inmitten einer Welt der Opulenz der weißen Oberschicht besteht – und sie wird auch in den westlichen Zentren immer stärker – solange wird sie Hass und Gegengewalt hervorbringen.

3.) Dass im herrschenden Diskurs die westlichen Werte – Demokratie, Menschenrechte, Laizismus – zu einer Ideologie gemacht wurden, um Kriegspolitik gegen alle Gegner des Westens und Abbau bürgerlicher und sozialer Rechte im Zentrum zu legitimieren. Diese Werte wurden so von emanzipatorischen Errungenschaften der Massen zu inhaltsleeren Kampfbegriffen der herrschenden westlichen Elite. Gelingt es nicht, diese ideologische Hegemonie des Imperialismus zu überwinden, wird sie die soziale Unzufriedenheit in den Zentren unter sich begraben und die Unterdrückten der Welt geradezu in einen Kampf auch gegen diese „westlichen Werte“ drängen.

Dazu sind wir nicht bereit. Daher sind wir nicht Teil der westlichen Querfront von Links bis Rechts, die das Attentat auf Charlie Hebdo nutzen will, um ihre immer unerträglichere Herrschaft noch einmal zu zementieren. Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit:

Denn wo waren sie als, in Guantanamo für „unsere Sicherheit“ gefoltert wurde? Was sagten sie, als die USA im „neuen (EU)-Europa“ Folter subcontracteten oder gar eigenhändig europäische Bürger entführten („renditions“)? Sie schwiegen über die „Kosten der Freiheit“ wie im Kalten Krieg!

Hier geht es nicht um Verteidigung der Demokratie, sondern um skrupellose Machtpolitik, namentlich die westliche Vorherrschaft.

Großer Gewinner: unser Regime

Es wiederholt sich das Muster von 9/11. Die Herrschenden spielen die Opferlämmer und inszenieren eine Hysterie, die einen Schulterschluss der gesamten „westlichen Zivilisation“ über alle Differenzen und Differenzierungen hinweg, gegen die Barbarei der Anderen, die die Masse mit dem Islam gleichsetzt, notwendig erscheinen lässt. Auf einmal getrauen sich die Hollandes, Sarkozys and BHLs, nachdem sie „getortet“ worden waren, wieder auf die Straße und geben sogar die Volkstribunen.

Einerseits rückt damit die soziopolitische Opposition gegen die kapitalistischen Eliten in den Hintergrund, die sich auf Kosten der breiten Massen maßlos bereichern – und das auch weiter in der Krise mit dem zynischen Argument tun, dass sie eigentlich die Retter vor Zusammenbruch und Chaos seien.

Andererseits muss für die Sicherheit der Bürger gegen den Einfall der wilden Horden aus dem Morgenland natürlich gesorgt werden – versteht sich doch von selbst: Der Polizeistaat muss weiter aus-, die Bürgerrechte abgebaut werden. Trifft sich gut, denn das hilft auch bei der Bekämpfung soziopolitischer Proteste.

Nach den tiefen, historischen Ursachen des Kulturkampfes von der anderen Seite fragt natürlich keiner, der selbst über Hals und Kopf im Kulturkampf steckt.

Die Verdammten dieser Erde

Der schwarze französische Psychiater Frantz Fanon, der den Kolonialkrieg in Algerien als Psychiater erlebte, stellte in seinem berühmten Werk die These auf, dass die mit extremer Gewalt Unterdrückten entsprechend mit antikolonialer Gegengewalt reagieren würden. Dadurch überwänden sie ihre Entfremdung.

Das islamische Revival ist eine historische Reaktion auf den westlichen Kolonialismus und das Scheitern der Entkolonialisierung – politisch, wirtschaftlich und kulturell. Symbol dessen ist Israel, ein westlicher Kolonialstaat, der die arabische Urbevölkerung ungestraft vertreibt und tötet und sich dafür als einzige Demokratie des Nahen Ostens feiert. In einem Akt des grenzenlosen Zynismus wird die Judenvernichtung, ein Verbrechen der deutschen Nazis mit Unterstützung der deutschen Elite zur Rechtfertigung der Unterwerfung der Araber genutzt – und wer dagegen aufsteht, dem wird nicht zuletzt auch von den heutigen Vertretern derselben deutschen Eliten mit besonderer Inbrunst Antisemitismus vorgeworfen.

Ist es angesichts der totalen Unmacht gegen die Herrschaft dieses ungerechten Systems nicht nur in Gaza, sondern auch in den Banlieues, nicht verständlich, wenn jemand auf die Idee kommt „den Propheten Mohamed zu rächen“? Gelingt es den Laizisten, die die Religionskritik so vehement einfordern, nicht, diesen Schlachtruf in einen soziopolitischen Kontext zu stellen? Erinnert sich noch jemand an den ersten Teil jenes Satzes, dessen zweiter weltberühmt wurde? „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur.“ Eher wollen sie nicht, denn sie sind Teil des Systems geworden. Sie wollen den Krieg der Kulturen nicht mehr dekonstruieren, sondern schlicht gewinnen.

Das soll erklären und nicht rechtfertigen. Denn der Jihadismus, und noch mehr derjenige der europäischen Armenviertel, ist ein Paroxysmus, die letzte Aufbäumung in der (Selbst)vernichtung der extremen Marginalisierten, ein kollektiver Amoklauf. Er ist eine Reaktion der Hoffnungslosen auf ein globales System der permanenten Aggression, aus dem es keinen anderen Ausweg als den Tod gibt, an dem man sich rächt in dem man möglichst viele mit in den Tod reißt.

Vor allem aber tut der Jihadismus jenen Millionen und aber Millionen Menschen im Nahen Osten Unrecht, die für Selbstbestimmung vom Kolonialismus und Imperialismus kämpfen und kämpften – wie der palästinensische Widerstand verschiedenster Couleur oder der Tahrir des arabischen Frühlings und drückt zugleich die politische Krise ihrer Bewegung aus. Sie werden vom Jihadismus in Geiselhaft genommen, ihr Befreiungskampf in den Krieg der Kulturen transformiert und letztlich in die sichere Niederlage geführt.

Statt Krieg der Kulturen, sozialrevolutionärer Antiimperialismus

Wir verurteilen die (massenweise) Tötung von Zivilisten, sei es historisch durch Sklaverei, Kolonialismus, Nationalsozialismus, den Einsatz von Atomwaffen; und gegenwärtig durch die strukturelle Gewalt des Hungers durch Freihandel und Neoliberalismus, Zionismus, westliche Besatzung, Anti-Terror-Krieg. Genauso verurteilen wir auch die Gewalt des Jihadismus, der immer stärker in den Strudel des Kultur- und Religionskrieges kommt und damit den Widerstand gegen Imperialismus und Besatzung strategisch schwächt. Die Asymmetrie der Gewalt, die überwiegend von den westlichen Herren der Welt ausging und noch immer ausgeht, darf dabei aber nicht aus den Augen verloren werden. Genauso wie die Gewalt der globalen Unterdrücker nicht mit jener der global Unterdrückten gleichgesetzt werden kann, so fehlgeleitet, reaktionär und ihrerseits unterdrückerisch sie auch sein mag. Nach dem 11. September ließen wir die Bibel sprechen: „Wer Wind säht, wird Sturm ernten“ 1. In diesem Kontext verurteilen wir auch den Anschlag auf Charlie Hebdo.

Das Attentat lenkt letztlich politisch dem westlichen Herrschaftssystem Wasser auf die Mühlen. Es intensiviert den Kulturkampf, der die Machtverhältnisse verschleiert, und bedroht auch dadurch Meinungsfreiheit und Demokratie. Er marginalisiert die islamische Unterschicht im Westen noch weiter und führt die islamische Welt selbst in einen blutigen Bürgerkrieg, der auch dort die westliche Herrschaft perpetuiert.

Die Meinungsfreiheit ist ein sehr hohes, ein zu hohes Gut, um sie dem Missbrauch und der Demagogie der Herrschenden zu überlassen. „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, meinte Rosa Luxemburg. Sie hatte und hat recht: Demokratische Rechte müssen auch für deren Gegner gelten, selbst wenn wir deren Positionen ablehnen – seien es islamische oder laizistische Fundamentalisten. Noch wichtiger: Rechte können nicht von den sozioökonomischen Machtverhältnissen absehen, sondern müssen in den Dienst der Armen und Unterdrückten gestellt werden.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel kommt – oder ist das schon fundamentalistische Hasspredigt?