System und Gleichgewicht, Steuern und Staat: Boisguilbert

29.06.2014
Von A.F.Reiterer
Tendenzen der Politischen Ökonomie 8: Theorien über den Mehrwert 3

Man hat Pierre Le Pesant de Boisguilbert (1646 – 1714 Rouen) als einen der Väter der politischen Ökonomie bezeichnet. Er stammt aus der noblesse de robe, dem französischen Beamtenadel des 17. Jahrhunderts, und gehörte als hoher Verwaltungsbeamter selbst dazu. Vieles aus seiner Gedankenwelt und nicht zuletzt sein Stil findet hier seine Erklärung. Als er sich mit der Situation Frankreichs zu beschäftigen beginnt, sieht er den allgemeinen Verfall und schreibt ihn mit viel Recht der Politik und den Kriegen Ludwig XIV. zu. Insbesondere ist es das Steuersystem, das ruinös wirkt. Mit Blick auf seinen Ertrag ist es völlig ineffizient.

In einer auf Privateigentum, auf privatem Kapitalbesitz beruhenden Wirtschaft ist das Steuer­system das Interface zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen der Produktion und dem vorerst nur nichtproduktiv konsumierenden Staat. Diese strategische Position muss notwendig den Wirtschaftsablauf massiv beeinflussen. Funktioniert das Steuersystem schlecht, so wird dies höchst nachteilig für die Wirtschaft insgesamt sein. Umgekehrt fragt es sich: Welche Funktion hat der Staat? Die Fragen können genauso gut heute wie damals gestellt werden.

Aber Boisguilbert ist ein Pragmatiker des 17. Jahrhunderts. Es geht ihm nicht sosehr um die Höhe der Steuern  oder des Steuersatzes. Es geht ihm um das korrupte und für die Steuer­zahler ebenso wie den Staat ruinöse Einhebe-System (Steuerpächter!) und um "Gerechtig­keit". Er verspricht sogar einen höheren Steuerertrag, und in diesem, aber nur in diesem Sinn ist er Lafferist. Das scheint nicht nur Taktik gegenüber der Staatsmacht zu sein, die er schließlich überzeugen will.

Als Beamter ist er das fiat gewöhnt. Man, der König, äußert einen Befehl, und Alles ändert sich auf der Stelle. Mit einem Erlass, mit der Arbeit von "zwei Stunden", kann der Minister das Elend beheben. In 24 Stunden ist dann die Reform geschehen, und es wird nicht länger als drei Monate dauern, bis sie sich allgemein durchgesetzt hat. Diese Art der Argumentation und sein Umgang mit Zahlen – Alles wird sich nach der Reform verzehn- und verzwanzigfachen  – macht es nicht leicht, ihn wirklich ernst zu nehmen. Hier zeigt sich seine Schwäche mar­kant. Er spricht in seinem ersten Werk ("Detail") ständig von einer Vervielfachung der Leis­tung. Aber das sieht er stets als eine Rückkehr zu den alten Zuständen um 1660. Seine Ver­sprechungen ("das Doppelte...", usw.) sind reine Rhetorik in der Art antiker Autoren.

Die Einsicht, dass es die Institutionen sind, welche zählen, ja entscheiden, wird durch seinen stilistischen Voluntarismus verdunkelt. Und doch ist der Verweis auf die politischen Verhältnisse eine fundamentale Feststellung. Die Entwicklungspolitik heute mit ihrem Hinweis auf good governance tut im Grund auch nichts Anderes. Sie ist aber ideologisch durch ihre Abhängigkeit vom Neoliberalismus (Washing­toner Consens) enorm belastet. Man kann den Vergleich weiter ziehen: Boisguilbert nennt ausdrücklich England und Holland als Beispiele für die Entwicklung, wie er sie gern haben möchte und anstrebt. Er denkt also strukturell entwicklungspolitisch, wenn auch nicht als Wachstums-Theoretiker.

Boisguilbert beginnt also, wie William Petty kurz zuvor, seine Analyse aus dem Politischen heraus. Die Politische Ökonomie entsteht aus dem Prozess des Staats- und Nationenaufbaus.

Tatsächlich ließe sich an der bei Boisguilbert systematisch angeführten Zeitreihe der Einnahmen des Königs der französische Staatsaufbau zahlenmäßig nachverfolgen. Unglücklicher Weise sind sie nominell, wenn er auch stets auf die unterschiedlichen Geldwerte hinweist. Er gibt das Preisniveau von 1695 im Vergleich mit 1582 mit dem Fünffachen an.

Boisguilbert hat zwei Hauptprobleme:

(1) das Steuersystem und seine Wirkungen;

(2) Wirtschaft als System.

Beide behandelt er auf eine Weise, die uns unmittelbar nichts mehr bringt. Aber beides kann uns – mit einem Schritt zurück, um es besser zu sehen – schnell zu aktuellen Problemen bringen.

Boiguilberts große Einsicht ist Wirtschaft als System. Allerdings verleitet ihn dieser System-Charakter zu einem Gleichgewichtsdenken, das sogleich einen normativen Sinn erhält und überdies sehr statisch gedacht ist. Das Systemdenken bringt ihn zu einer Überbetonung aller Zusammenhänge. Insbesondere erwähnt er immer wieder die Gefahr einer deflationären Spirale. Da vertritt er eine Art malthusianische Verteidigung des Luxus-Konsums: Die Rei­chen sollen nur verschwenden, das hält die Wirtschaft in Gang. Im Unterschied zu Malthus rechtfertigt er diese aber mit einer Trickle-Down-These. Wenn es denen oben gut geht, sickert Wohlstand auch nach unten, zu den Armen durch.

Externe Schocks, "Störungen" auch des kleinsten Ausmaßes, führen unweigerlich zu einem Zusammenbruch. Das erinnert ein wenig an die Hayek'sche Besessenheit von jedem Staats­eingriff, der unweigerlich zum Kommunismus führe. Ein wesentlicher Schritt fehlt: Wie kommt man – oder das System – nach einer solchen Störung oder einem Zusammenbruch  zurück ins Gleichgewicht? Wir kommt die Wirtschaft aus ihrem Loch wieder heraus?

In einer von der Agrar-Produktion bestimmten Wirtschaft muss es immer wieder zu äußeren Änderungen kommen, die politisch nicht oder nur wenig beeinflussbar sind, zu Missernten und schlechtem Wetter, usf. Hier hat Boisguilbert eine nahe liegende und doch geniale Idee: Man muss das System öffnen. Über Außenhandel mit Getreide kann man diese unvermeidba­ren Schwankungen steuern. Wenn man Getreide bei Überschüssen und niedrigen Preisen exportieren dürfe, so wird die Wirtschaft stabilisiert. Dass allerdings in einer auf Markt beruhenden Wirtschaft Zyklen ("Konjunkturen", Krisen) eingebaut sind und zur Regelung eingebaut sein müssen, ist ihm ein völlig fremder Gedanke. Da sei das Gleichgewicht vor. Er kommt in seiner Abhandlung über die Getreidepreise zum Greifen nahe an eine Konjunktur-Theorie. Die Zyklen der Preis- und der Produktionsentwicklung begründet er nämlich mit cobweb-Überlegungen: mit verzögerten Anpassungen des Angebots an die sich ändernde Nachfrage in der Art des "Schweinezyklus". Das kombiniert er mit einer Differenzial-Renten-Auffassungen. Es würde nur eines Schritts bedürfen, um eine Konjunktur-Theorie zu formulieren. Die "Konjunkturpolitik", die er anstrebt, ist der Freihandel mit dem Ausland. Das ist nicht falsch, aber kurzatmig.

Seine Fixierung auf den Freihandel und allgemein sein Klassen-Interesse hindert ihn, einige vielversprechende Ansätze zum Marginal-Prinzip weiter zu verfolgen. Ein Ansatz dazu wird zu einer ganz hilflosen Formulierung: "Hohe Getreidepreise bedeuten, dass der Ackerbauer siebenmal weniger gedrängt ist, sein Getreide zu verkaufen. Umgekehrt sieht er sich bei niedrigen Getreidepreisen sieben Mal mehr veranlasst, seine Ware abzusetzen, wozu er entweder von seinem Grundherrn genötigt oder von seinem eigenen Interesse angestoßen wird" (Traktat über das Getreide, 311). Aber es ist nicht nur seine Fixierung auf das allgemeine Gleichgewicht. Es ist sein Klassen-Interesse, sein Interesse als Grundherr.

Macht scheint kein Begriff bei Boisguilbert zu sein. Da trifft er sich mit der modernen Ökonomie. Das ist höchst erstaunlich. Rhetorisch macht er durchaus Konzessionen an den absolutistischen Staat. Auch bemüht er sich um die Unterstützung der Politik, der Minister (Pontchatrain) zur Durchsetzung seiner Thesen.

Das ist eine fundamentale Frage der Ökonomie: Sie entsteht als Disziplin dadurch, dass sie sich von der Politik und ihren Machtspielen absetzt. Sie muss somit ihre Argumentation von der der Politik trennen. Der Markt ist das typenbildende Konzept. Die Illusion der Selbststeuerung ist ausgeprägt bei Boisguilbert. Wenn nur einmal die richtigen Preis- = Wert-Relationen erreicht und das Fehlverhalten der Menschen in ihrer Gier gezähmt sind, wird sich durch Selbstregulierung Alles zum Besten wenden. Institutionen, die er doch in seinem bekanntesten Werk, dem "Detail", ständig verantwortlich für den Verfall macht, zählen nun nicht mehr. Aber die würden eben auch Regulierung bedeuten, und gegen die wendet er sich ja – im Interesse der Grundeigentümer.

Der "Markt" wird bis in die Gegenwart zum Fetisch für die Gesellschaft. Bei Boisguilbert ist dies völlig klar: Es geht ihm um die "Natur", also die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur Umwelt. Die Politik soll dort so wenig wie möglich hineinpfuschen. Das sind nur "Störungen".

Und Macht bzw. Herrschaft in der Gesellschaft selbst? Da müsste man die Klassen thematisieren. Die sind aber in ihrer Existenz und ihrer Stellung so selbstverständlich, dass man sie kaum zur Kenntnis nimmt.

Boisguilbert kommt einer Klassen-Analyse einmal sehr nahe, und ein anderes Mal führt er eine solche richtig durch: Zwei Interessen gäbe es in Frankreich hinsichtlich des Getreides, "in einem beständigen Widerstreit" in einem "fortwährenden Kampf" (287). Und er führt das Interesse der Grundherren an, nicht etwa der Pächter, wie der DDR-Herausgeber seiner Texte einige Male behauptet. Verwundern kann dies nicht: Boisguilbert hat selbst sein Vermögen als Grundherr erwirtschaftet. Seine gekauften Ämter waren nur der Ausgangspunkt dazu. Da dürfte er ziemlich typisch gewesen sein. Die Pächter werden einige Male in die behauptete allgemeine Harmonie eingeschlossen, ebenso die Landarbeiter, unter der Voraussetzung, dass es dem Grundherrn gut geht. Dazu aber müssen die Landarbeiter und die Arbeiter überhaupt Lohnzurückhaltung üben. Boisguilbert bemerkt nämlich, rein technisch: Es gibt großen Widerstand gegen Lohnkürzungen in Abschwüngen. Sogar Streiks (die er nicht so nennt) und Ansätze für Arbeiter-Organisationen und closed shops beschreibt er .

Den Klassenwiderspruch löst er theoretisch in eine hanebüchene Gegenübersetzung von Erzeuger und Verbraucher auf. Dazu passen einige zynische Bemerkungen über die Schäd­lichkeit von zuviel essen – in einer Gesellschaft, die ständig am Rande von Hungersnöten laviert! Wie Marx (und ihm folgend, der Übersetzer) zu seiner auch politisch so positiven Beurteilung von Boisguilbert kommt ("Kritik", MEW 13, 40), ist mir schleierhaft. Dies trifft umso mehr zu, als Boisguilbert gern die Rhetorik der Volksbeschimpfung anwendet. Er, der Bürokrat, weiß natürlich Alles besser. Das Volk ist irrational und ganz unfähig zum Durchblick. Und das überträgt sich auf die Intellektuellen, die es besser wissen sollten.

Überhaupt "das Volk"! Boisguilbert weist auf die von ihm bewunderten Zustande in England und Holland hin, "wo das Volk wesentlichen Anteil an den Regierungsangelegenheiten hat" (358) und daher seine Interessen einbringen kann. Es ist allerdings ganz klar, der Hinweis auf die beiden Länder zeigt dies, dass hier das "Volk" das gehobene Bürgertum und das Patriziat ist, wozu sicher auch der aktive Landadel zählt. Das erinnert direkt an den Abbé Siéyès, der den Dritten Stand, das Bürgertum, zur Nation erklärt. In der Entwicklung, der Entwicklungs­politik. wäre also eine Beteiligung des Volks an den politischen Entscheidungen höchst wünschenswert. Allerdings verfolgt Boisguilbert diesen Gedanken nicht weiter. Der DDR-Herausgeber hat vermutlich recht, wenn er Boisguilbert als Vertreter der absoluten Monarchie sieht. Denn die verkörpert die Einheit des Systems.

Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Law ist aber Boisguilbert auf die Realwirtschaft ausgerichtet. Law betont stets die überragende Bedeutung des "Gelds" und meint damit meist das Kapital. Boisguilbert hingegen betrachtet Geld wirklich als Geld mit seinen Funktionen, Tausch, Wertmaßstab und -aufbewahrungsmittel. Seine Regulierungsfunktion und seinen Charakter als potenzielles Kapital erkennt er nicht. Auch die Anreizmöglichkeiten einer großzügigen Geldversorgung, das Leitthema Laws, waren ihm fremd. Der wird denn auch wenig später gegen ihn polemisieren.

Es ist das politische System, welches stets im Zentrum steht. Im "Detail de la France" geht es um die Frage des Steuersystems. Sein ruinöser und ineffizienter Charakter (s. o.) ließe sich bei gutem Willen schnell verändern. Daher entwirft Boisguilbert ein neues System, das tatsäch­lich vergleichsweise einfache Gedanken enthält. Man braucht ein allgemeines Einkommens- und Steuerregister. Das erhält man durch Steuererklärungen. Damit die auch einigermaßen stimmen, damit Steuerhinterziehung entmutigt wird, werden strenge Strafen angedroht. Hier kommt also der Staat als Repressionsinstanz mit seinen regulierenden Institutionen ins Spiel. Das Prinzip soll eine Art proportionale Einkommenssteuer sein. Privilegien und Ausnahmen soll es möglichst keine geben. Widerstände dagegen kämen doch nur von wenigen Menschen: Neben den Steuerpächtern nennt er mehrmals eine Zahl von 300 Leuten und meint damit offenbar den Hofadel.

Boisguilbert hat also politische Widerstände ganz und gar unterschätzt. Das ist umso verwunderlicher, als er mit seinen Vorschlägen zu seiner Zeit nicht den geringsten Erfolg hatte. Das sieht erkennt er auch offenbar mit ziemlicher Bitterkeit. Aber die politische Bedingtheit des "Reichtums", sein Hauptanliegen, kann er offenbar nicht wirklich erklären. Alles ist ihm eine Frage der Korruption. Das war nicht wirklich falsch. Aber er begreift nicht, dass diese Korruption einfach eine Frage der Unterentwicklung ist. Dementsprechend ist auch seine Antwort wenig hilfreich: Man müsse nur "die Natur" machen lassen. Konkret heißt dies: Freihandel oder zumindest Aufhebung von Exportverboten für Getreide.

Hier landet man beim historischen Vergleich: Man ist ständig an Lord Cromers / Evelyn Barings Beschreibung der ägyptischen Zustände der 1860ern und 1870ern unter dem Khediven Ismael erinnert. Diese Probleme gibt es in der Entwicklungs-Politik auch heute noch. Und ebenso gibt es die Probleme, dass den politischen Eliten der Dritten Welt von Großmächten und internationalen Organisationen befohlen wird, was sie zu tun haben. Sie stehen allerdings in einem heute globalen System-Konnex.

Und damit wären wir beim zweiten wesentlichen Punkt. Das System-Denken legt die Frage nahe: Um welches System handelte es sich damals, und um welches handelt es sich heute? Das ist eine reichlich komplexe Frage. Boisguilbert hat diese beiden Probleme kluger Weise verknüpft, die Staatsentwicklung und den Wirtschaftsprozess. Auch heute geht es im System der Globalisierung darum, die Formierung des neuen, des post- und supranationalen Staats zu beobachten. Staatsverschuldung ist heute wieder ein Problem der neuen Staatsstruktur. 1991 konnte Italien mit 125 % und Belgien mit 140 % Staatsverschuldung leben. Heute ist dies ein System-Risiko. Man kann natürlich fragen: Stimmt dies? Ist dies mehr als neoliberale Propaganda?

Die Physiokratie: Die Entdeckung von Gesellschaft: Produktion und „Natur“

Boisguilberts Bedeutung liegt hauptsächlich darin, dass er Teil einer bestimmten Strömung ist. Wir sprechen von den Physiokraten. "Der Boden ist der Urquell des Reichtums. ... Jeglicher Reichtum [hat] seinen Ursprung in der Bebauung des Bodens" (Boisguilbert 1986, 22 und 265). Das ist der Ausgangspunkt nicht nur der Physiokratie in ihren Überlegungen zur Wirtschaft. In gewissem Sinn ist es das traditionale Denken schlechthin. In gewissem Sinn – denn im Volk hatte sich durchaus eine andere Auffassung gebildet: "Als Adam grub und Eva spann – wo war denn da der Edelmann?" Es ist die Arbeit, welche mehr zählt, nicht der Boden. In einer Gesellschaft, wo es noch viel Boden gab, wenn auch nicht immer von guter Qualität, ist der Spruch recht plausibel. Die "Wissenschaft" vom Konkreten, die den Boden hypostasiert, gehört mehr den traditionalen Intellektuellen als dem Volk an. Die Physiokratie ist also Interessens-Theorie, Ideologie. Aber wessen Interesses?

Eine implizite Bedürfnispyramide macht den „Nahrungsmittelspielraum“ – wie es Macken­roth (1953) später so passend formulierte – zur ersten und notwendigen Bedingung für alle anderen Zweige der Produktion und damit für eine arbeitsteilige Gesellschaft. Bei den Physio­kraten steht dahinter aber eine linear-evolutionistische Vorstellung: Erst kommen die Nah­rungsmittel, dann kommen die „sekundären“ Produktionen. Der physiokratische Fehlansatz ist: Sie begreifen die Doppelnatur des "Reichtums" als Naturgegebenheit (Teil der materiellen Umgebung) einerseits und Produkt menschlicher Tätigkeit andererseits nicht. Auch die Doppelnatur der Ware, wie immer man sie phrasiert ("Gebrauchswert und Tauschwert"; "Nutzen" versus abstraktem Wert; ...) ist nur eine historisch-gesellschaftliche Form dieses Doppelcharakters. Er ist das Prinzip menschlicher Gesellschaft überhaupt.

Es ist also der Gegensatz zwischen der „Natur“ / Physis und der Gesellschaft, welcher in diese Formulierungen gefasst wird. Stärker in ökonomischem Sinn wird Ricardo dies im 20. Kapitel seiner „Principles“ über „values and riches and their distinct properties“ aufnehmen. Physische Produkte sind von den Werten zu unterscheiden. Damit hätten diese Theoretiker eine fruchtbare, allerdings mehr sozialphilosophische als sozialwissenschaftliche Frage­stellung. Von ihr aus könnten sie weiter bauen. Doch die Entdeckung von Gesellschaft gelingt nur halb. In der Gewichtung dieser Polarität zwischen Natur und Gesellschaft (oder „Kultur“, wie noch fast in der Gegenwart Lévi-Strauss (1981, 45 ff. – das Grundlagenkapitel zu den „Elementaren Strukturen“ – sich ausdrückt) wird der Natur die Priorität zugemessen. Das ist eine gut aufklärerische Position. Holbach stellt den Menschen in seinem „Systême de la nature“ in die Natur hinein und als Teil der Natur dar. Diese Form der philosophischen Naturalisierung war anscheinend ein historisch notwendiger Schritt. Es ging darum, sich von der Theologie und der theologischen Metaphysik zu befreien, um eine Transzendenz in der Immanenz, in der Innerweltlichkeit überhaupt zu ermöglichen.

Die Naturalisierung der Physiokraten allerdings verwandelte sich unmittelbar in naturalisti­sche Ideologie. Der Überfluss, den die Natur schenkt, und um den sie „nicht handelt“, wird sofort zur größeren Produktivität der Landwirtschaft, und das menschliche Entwicklungs­potential wird zum Mehrwert in Form der Rente. Damit ist die „problématique“ aus heutiger Sicht verfehlt, die Konzeption misslungen oder aber schlecht gelungen. „Natur“ wird gegen „Gesellschaft“ gestellt. Doch so ganz misslungen ist die Konzeptualisierung offenbar nicht.

Denn es handelt sich dabei um eine ziemlich durchsichtige Sache. "Natur", das ist die Gesell­schaft. Natürlich wird Natur immer wieder auch, in heutig "grüner" Weise, auf die äußere Umwelt angewandt, speziell, wenn es um die Nutzung eines weiteren Metaphers geht: "Menschlicher Wille und menschliche Gewalt sind hier fehl am Platz" (331) heißt es bei Boisguilbert, wenn er Front gegen Regulierung macht.  In diesen Texten finden wir also stets einen klaren Antagonismus von Gesellschaft und Staat. Nur der letztere wird als soziale Struktur erkannt. Die soziale Grundstruktur ist dagegen Natur. Bei Boisguilbert wird die Natur zum allgemeinen Gleichgewicht.

Bedenken wir: Auch heute hat die Ökonomie in weit überwiegender Mehrzahl es nicht geschafft, sich als Gesellschaftswissenschaft zu begreifen. Interessanter Weise ist hier der Erzkonservative Hayek eine Ausnahme. Solange dies so bleibt, wird Ökonomie im besten Fall eine bessere Wirtschaftsstatistik verbleiben; im schlechteren und häufigeren Fall ist sie einfach hegemoniale Ideologie. Aber auch auf der progressiven Seite wäre es hoch an der Zeit, die Fetischisierung der Ökonomie ("Basis – Überbau"-Schema aufzugeben. Das bedutet u. a., theoretisch und praktisch den Primat der Politik zu erkennen.

Literatur

Boisguilbert, Pierre Le Pesant de (1985), Denkschriften zur wirtschaftlichen Lage im Königreich Frankreich. Übersetzt und mit einem Nachwort herausg. von Achim Toepel. Berlin: Akademie Verlag.

Lévi-Strauss, Claude (1984), Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Mackenroth, Gerhard (1953), Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung. Berlin-Göttingen-Heidelberg: Springer.