Der Euro, die EU, Griechenland und Wir

25.03.2015
Verschriftlicher Beitrag zur Diskussion am 24.März 2015
Von A.F.Reiterer
Politische Konsequenzen aus der Peripherie für das Zentrum

 

Der griechische Finanzminister will den Kapitalismus retten, retten vor sich selbst. Das ist keine billige Polemik eines Alt- oder Neulinken. Das sind seine selbst formulierten Aussagen und offen ausgesprochenen Ziele, nachzulesen im "Guardian" vom 18. Feber 2015. Daher möchte ich die einfache Frage stellen:

Warum, um Himmels willen, ist dieser bemühte Retter des europäischen Kapitalismus und der EU zur bête noire der Verwalter und der publizistischen Marionetten eben dieses Kapita­lismus geworden? Warum verachten und demütigen ihn die Ecofin-Minister nach allen Kräf­ten. Warum figuriert er als Angst-Gegner solcher Stimmen wie BILD und ÖSTERREICH?

Ich möchte empfehlen, Varoufakis' Vortrag gründlich zu lesen. Es sind einige bedenkenswerten Überlegungen aus pessimistisch-melancholischem Geist darin zu finden. Sein Resultat ist allerdings eine geradezu klassisch-sozialdemokratische Strategie, wie sie Karl Renner in den 1920er/30er kaum anders hätte formulieren können...  Und Varoufakis lernt sehr schnell: Er macht mit einer französischen Zeitschrift eine "Homestory", wo er auftritt, wie Hollande und Schelling in einer Person.

 

 BILD am Sonntag“, 15. März 2015

Das Bild ist hinterhältig. Zum einen suggeriert es, dass linke Politiker in nackter Armut leben sollten. Zum anderen aber nützt es ein echtes Fehlverhalten des Ministers: Er macht eine homestory zu einer Zeit, wo es tatsächlich politisch um Leben und Tod geht.

 

Lassen wir einmal sein unorthodoxes Auftreten und sein Outfit beiseite. Aber können wir es wirklich beiseite lassen? Es sendet doch das Signal: Ich bin anders als die völlig uniformierten Kollegen. Ich unterwerfe mich nicht dem Uniform-Zwang wie sie! Und damit stellt er auch die inhaltlichen Normen und die angebliche Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Politik in Frage. Aber der entscheidende Punkt ist wohl ein anderer. Und hier kommt doch Varoufakis als Person und die SYRIZA als politische Kraft ins Spiel:

Sie schätzen den Charakter des Systems und der EU falsch ein. Sie setzen ein Kräfte-Verhält­nis voraus, das in der Sicht des Zentrums und der einzelnen Subzentren keineswegs gegeben ist. Denn diese Finanzminister und ihre Regierungen sind keineswegs der Ansicht, dass sie gerettet werden müssen. Sie haben mittlerweile ein Imperium aufgebaut, welches, in ihrer Sicht, genügend Macht hat, solche lächerliche Herausforderungen wie die seitens Griechen­lands abzuschmettern. Sie glauben, die alten Integrations-Mechanismen, die nationale parla­mentarische Demokratie und den Sozialstaat, nicht mehr zu benötigen. Sie sind unbefragt die Dominanten.

Um das zu begreifen, müssen wir doch ein klein wenig in eine umfassendere Analyse gehen ˗ eine Analyse, die sowohl die politische Struktur als auch die regionale Form des Finanz-Kapitalismus anspricht.

Ich habe soeben das Wort Imperium verwendet. Auch dies möchte ich keineswegs polemisch, sondern analytisch einsetzen. Und daher bitte ich jetzt um ein bisschen Geduld.

Imperium

Imperium ist ein Begriff, der einer Klarstellung bedarf – war er doch als „Empire“ der Titel eines erfolgreichen Buchs (Hardt / Negri 2000). Der Text war im Wesentlichen postmoderner Jargon, Wischiwaschi. Man zögert also, dieses Wort ernsthaft jenseits der politischen Polemik einzusetzen. Trotzdem: Imperium muss über diese diffusen Auslassungen hinaus zu einem seriösen theoretischen Konzept ausgebaut werden. Denn es ist der postnationale Staat, die Entwicklung des postdemokratischen Superstaats, die zur Debatte steht.

Imperium ist ein vormoderner, ein vornationaler Begriff. Allein auf Grund dessen bedarf er einer gründlichen Auseinandersetzung. Denn er wurde in der Historiographie ganz blauäugig und unanalytisch ge- und verbraucht. Man braucht bloß an das deutsche Wort "Reich" zu denken. Bis in die Gegenwart wird in historischen Büchern jede politische Struktur von der tribalen Organisation über die Stammes-Konföderation und die Orientalische Despotie bis hin zu (früh-) modernen Staaten als Reich tituliert. Apropos Orientalische Despotie: Wittfogel (1977 [1957]) hat das Konzept hauptsächlich für eine wilde Polemik gegen die Sowjetunion eingesetzt. Damit hat er ihn fast irreparabel beschädigt.

Das Problem der üblichen Imperium-Konzepte (vgl. Überblick: Leitner 2011) ist die epochenübergreifende Anlage. Man braucht da nicht viel zu argumentieren: Einen Begriff auf frühe agrarische ebenso wie auf indus­trielle und postindustrielle Gesellschaften anwenden zu wollen, richtet sich im Grunde von selbst. Der erste Schritt ist also eine Klarstellung. Wir sprechen hier von postnationalen, (post-) modernen Imperien in zeitge­nössischen Gesellschaften. Lassen wir die historischen Imperien (Rom, Tahuantinsuyu [Inka], das kaiserliche China) aus dem Spiel. Nun könnte man zu Recht einwenden: Das ist ein konzeptueller Trick. Warum dann überhaupt das Wort Imperien verwenden? Dieses Problem stellt sich bei jedem epocheübergreifenden Begriff. Der verbindende Begriffsteil, hier: Imperium, wird hochabstrakt. Er gerät ständig in Gefahr, aus der Analytik in die reine Metaphorik abzurutschen. Auf diese Problematik einzugehen, ist hier nicht der Platz. Nur soviel: Es scheint in manchen Sachverhalten eine Art von Lenin'scher Dialektik von Negation und Negation der Negation zu geben, die nicht völlig ohne Wert ist.

Wir können dies anhand eines kurzen Abrisses jenes Imperiumsbegriffs sehen, der gegenwärtig offenbar in Historikerkreisen genutzt und von Osterhammel formuliert wird (hier in Anschluss an Leitner a.a.O., 8f.). Dort wird aufgezählt: (1) eine klare Zentrum-Peripherie-Struktur, also Dependenz; (2) die Interaktionen zwischen dem Zentrum und der Peripherie sind dichter als zwischen den Peripherien [ist eigentlich im Abhängigkeitsbe­griff schon enthalten]; (3) Die Regierungen der Peripherien funktionieren über Institutionen unterschiedlichen Typs; (4) die zentrale, herrschende Gruppe ist kulturell und ethnisch distinkt; (5) es  gibt keine gesamt-imperiale Wertegemeinschaft; (6) es gibt keine fixen Grenzen, sondern bewegliche; (7) es gibt ein kulturelles Zwei-Ebenen-System: das Zentrum gibt die Weltdeutung vor; in den Peripherien halten sich noch lokale Traditionen; (8) das Imperium entsteht nicht durch Zusammenschluss, sondern durch Eroberung.

Es ist klar, dass hier von historischen Imperien die Rede ist. Doch es gibt Züge, die auch in modernen Imperien auftauchen. Bei Osterhammel 2006 wird übrigens klar, dass er zeitweise Imperium und Imperialismus verwech­selt. Zugegeben: Es ist fast eine begriffliche Ironie. Der ("moderne") Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist, plakativ gesprochen, Nationalgeschichte, gehört zur Geschichte der Nationalstaatsbildung und des Nationen­baus. Das klingt nur dann paradox, wenn man nicht beachtet: Diese Prozesse gingen im Rahmen des globalen Systems und von ihm bedingt vor sich. Die technisch, politisch und ökonomisch am weitesten entwickelten Nationen eroberten für ihre herrschenden Gruppen und Klassen weite Räume zur exklusiven Nutzung. Aber Großbritan­nien und Frankreich konnten diese Exklusivität nur sichern, indem sie dort basale, aber meist nur rudimentäre staatliche Strukturen aufbauten, die auch von den Konkurrenten als solche anerkannt waren. Sie mussten in den eroberten Gebieten also wohl oder übel den Aufbau staatlicher Strukturen durchführen. Die versuchten sie unter der Kontrolle des Zentrums zu erhalten. Diese direkte Politik hatte Mitte des 20. Jahrhunderts ein Ende.

Das postmoderne Imperium ist keineswegs national. Auch hat die EU als Paradigma der einen möglichen Struktur eine ganz bestimmte und bereits erprobte Strategie. Im Rahmen der öko­nomischen Zentrum-Peripherie-Logik will sie den Anschein politischer Gleichberechtigung der zugehörigen (politischen) Eliten erhalten. Die Bevölkerungen sollen sowieso alle gleich abhängig sein. Diese Taktik der Schein-Gleichheit und der Schein-Mitsprache wurde für mehrere Jahrzehnte in den nationalen parlamentarischen Systemen erprobt. Sie hat sich dort lange in erheblichem Ausmaß durchaus bewährt. Zum Schluss dieser Periode begann die Bevölkerung allerdings zunehmend ihre politische Mitbestimmung ernst zu nehmen; sie stellte Ansprüche. Nun war es Zeit, in die Strategie des Imperiums über wechseln. Die Macht wurde dorthin verschoben, wo die Bevölkerung keinen Einfluss mehr hatte.

Einen zweiten Typus des Imperiums stellt der Versuch der USA dar. Sie bleiben vorerst Nationalstaat und gehen von den Strukturen des Neokolonialismus / Neoimperialismus aus. Die politische Inkorporation der abhängigen Zonen wird nicht angestrebt. Im Gegenteil: Sie kommt gar nicht in Frage, man grenzt sich politisch ab. Die Bürgerschaft (citizens) soll nur die Einwohnerschaft (denizens) des Kernlandes umfassen. Aber der Staat dehnt seine Juris­diktion potenziell auf die ganze Welt aus. Man hat dies leicht feuilletonistisch so ausgedrückt: Für die USA wird Weltpolitik zur Innenpolitik. Das kann eine Zeitlang durchaus funktionie­ren. Es setzt nur voraus, dass die anderen nationalen Eliten sich unterordnen. Die ökonomi­sche Elite hat z. B. das direkte Interesse, in den USA Geschäfte zu machen: Die Schweizer Banken haben also nichts gegen die Unterordnung unter FATCA. Die anderen hoch ent­wickelten europäischen Staaten, und die Marionetten in Osteuropa sowieso, betrachten hingegen die USA als ihren militärischen Arm. Den kann man z. B. in der Dritten Welt einsetzen. Dasselbe gilt für manche viele Marionetten-Regierungen in Asien und Afrika.

Ein Wort ist noch die intellektuelle Bewältigung dieser Beziehungen wert. Aus den USA kommt ein Schwall heißer Luft, den hiesige Akademiker eifrig studieren und zu wiederholen suchen. Speziell die US-Form des Imperiums wird gleichzeitig vernebelt und hypostasiert. Es kommt nicht darauf an, wie die Nebelgranaten heißen: "Unilateralismus", "security dilemma", "national capabilities",... In diesem Kontext ist der sogenannte "Neo-Realismus" von Interesse. Denn er ist das politikwissenschaftliche Gegenstück zum Neoliberalismus. Er müsste in Wirklichkeit Neoprimitivismus oder Neobrutalismus heißen. Sein Hauptkennzeichen ist eine atembe­raubende intellektuelle Primitivität, ein subkomplexes Denken, dass man heute kaum mehr für möglich hält. "Der Staat" strebt "Machtmaximierung" an und erreicht "Suprematie" hauptsächlich mittels seiner Streitkräfte. Usf. (Kissinger, Krauthammer, Mearsheimer, Lind,...). Der Witz ist: In gewisser Weise sind dies self-fulfilling prophecies. Denn diese Leute sitzen in den USA seit Jahrzehnten an den Hebeln der akademischen Institutionen, teils sogar direkt in den politischen Machtzentren. So werden windige akademische Konstruktionen wie das "Sicherheits-Dilemma" und der "erweiterte Sicherheits-Begriff" überhaupt politisch wirksam, weil "politisch verfügbar" (Czempiel 1999, 122). Den quasi-theologischen Konzepten der neoliberalen Ökonomie entsprechen ebenso quasi-theologische Konzepte aus dem akademischen Fach "internationale Politik".

Und doch hat das Konzept Imperium eine überragende Bedeutung. Es kann sie jedenfalls be­kommen, wenn wir es sorgfältig definieren und analytisch verwenden. Denn das Imperium ist die wichtigste Ausprägung des nachnationalen Staats, die gegenwärtig erkennbar ist.

Das Imperium ist also kein Nationalstaat. Seine Legitimität begründet sich nicht im klassisch-nationalstaatlichen Konzept der Volkssouveränität. Sie wird nicht in den geteilten Identitäten der gesamten Bevölkerung gesucht. Gehen wir über die negative Bestimmung hinaus:

Das Imperium ist der supra-nationale Staat, vielmehr: die supra-nationale Ebene einer staat­lichen Mehr-Ebenen-Konstruktion. Sie greift jedenfalls vorderhand noch auf die historisch entwickelten Ebenen des Nationalstaats zurück und setzt auch die subnationalen Ebenen ein. Diese wird teils aus gegebenen regionalen Organisationen (z. B.: Bundesländer; bestimmte Regionen) akzeptiert, teils neue konstruiert. Diese neue regionale Ebene kann aus Bemühun­gen bisheriger Politik "von unten" erwachsen ("Arge Alp" u .ä.). In der Systematik wird sie aber neu konstruiert und bürokratisch systematisiert, in bestimmten Ausprägungen der EU-NUTS.

Die wesentlichen Entscheidungen über Struktur-Prozesse sind im Imperium zentralisiert. Es wird zu einer Art Verwaltungs-Föderalismus: Die Zentral-Bürokratie ist zahlenmäßig nicht bedeutsam. Aber sie setzt die nationalen und regionalen Bürokratien als ihre Exekutiven ein. Hier tritt jener kennzeichnende Doppel-Charakter der Bürokratie auf, den wir beachten müs­sen: Bürokratie ist einerseits direktive Bürokratie und politische Elite. Sie ist die nicht mehr durch Volkssouveränität legitimierte Leitungs-Körperschaft des Imperiums: Sie regiert auto­kratisch, trägt ihre "Souveränität" in sich selbst. Doch Bürokratie ist als Exekutive andererseits auch das Instrument, welches die Entscheidungen der direktiven Bürokratie implementiert. Die supranationale direktive Bürokratie setzt dafür die nationalen Verwaltungen ein. Die nationalen Bürokratien verwandeln sich so in die exekutiven Zweige der direktiven Bürokra­tie. Überdies teilt sich die direktive Bürokratie auch in mehrere semi-autonome und teils völlig selbständige Zweige auf: Der langfristig wichtigste ist der EuGH; weitestgehend unabhängig von Kontrolle ist auch die EZB; die klassische Exekutive im Montesquieu'schen Sinn spielt die Kommission mit ihrem Anhängsel, dem Rat.

Max Webers Bürokratie-Konzept (1976, 551 ff., vgl. auch Schluchter 1985) ist heute zu simpel, zu wenig komplex, weil zu wenig ausdifferenziert.

Imperien gab es auch in der vormodernen, vornationalen, vordemokratischen Zeit. Ein entscheidendes Kenn­zeichen war eine klare Zentrum-Peripherie-Struktur. Das Zentrum war gut integriert, hatte seine eigene betonte Identität und profitierte nahezu als Ganzes, d. h. auch seine unteren Schichten, von der Politik der zentralen Eliten. Um ein zeitlich fernes Beispiel zu nennen: Die stadtrömische Bevölkerung wurde bereits in der Endzeit der Republik mit kostenlosem Getreide versorgt (frumentationes). Dazu kam später Öl, Fleisch, dann auch Wein, schließlich zu manchen Anlässen Geldgeschenke.

Das postmoderne Imperium weist eine ausgeprägte Zentrum-Peripherie-Struktur auf. Das Zentrum der EU ist eindeutig und klar das neue Deutschland sowie seine im alten DM-Block unmittelbar alliierten Hilfstruppen (BeNeLux, Dänemark, Österreich; ein wenig abgesetzt Finnland). Frankreich war, als die EU noch ein Staatenbund mit Freihandel und Zollunion als Haupt-Charakteristik war, politisch-symbolisch Teil eines dual-organisierten Zentrums. Es profitierte von gewissen Transfers (Agrarpolitik). Inzwischen gehört es tendenziell bereits zur ökonomischen und wahrscheinlich bald auch zur politischen Peripherie.

Das postmoderne Imperium hat sich nicht spontan oder durch Zufall entwickelt. Alexandre Kojève verwendet das Wort, nein, den Begriff, bereits 1945 (Reiterer 2014). Damals schrieb er seine Vorstel­lungen von einer künftigen europäischen und insbesondere einer französi­schen Politik nieder. Kojève lebte aber zum einen noch in einer anderen mentalen Struktur. Zum anderen begriff er die entscheidende Bedeutung der ökonomischen Transmissions-Mechanismen nicht.

Wir können versuchsweise drei Dimensionen politischer Aktionen innerhalb des globalen Systems unterscheiden:

(1) die transnationale: sie ist im Wesentlichen gesellschaftlich zu verstehen;
(2) die internationale: sie ist von rein politischem Charakter;
(3) die supranationale: sie versucht, die nationalen Regelmechanismen einfach zu vergrößern. Sie nimmt einen eigenen Charakter jenseits der Volkssouveränität auf.

Es ist nun von der Begriffsbildung her kennzeichnend, dass das Bezugswort schlechthin national lautet. Noch immer bildet die nationale Ebene jenes umfassende, synthetische Netz, welches die Gesellschaften in ihrer staatlichen Organisiertheit als bedeutungsvolle Einheiten schlechthin erkennbar macht. Sie umfasst die lokale und regionale Lebenswelt des Alltags und transzendiert sie auf eine politische Weise. Damit sind diese drei Ebenen, die lokale, regionale und nationale, nicht nur die pragmatisch entscheidenden Räume, sondern ist auch der zu einem einheitlichen mentalen, ja sinn­orientierenden Bezugspunkt verdichtete, nahezu (politisch-) archimedische Absprung. Die nationale Ebene wird damit auch zur Schutzvorrich­tung und zum Transmissionsriemen im Verhältnis zu den globalen Strukturen und ihren Wir­kungen.

Der Streit um die Hegemonie und ihre Kontestation spielt sich um die jeweilige Reichweite dieser drei Ebenen ab. Sie regulieren in ihrem Zusammenspiel nicht zuletzt den jeweiligen Kompromiss zwischen der möglichen Selbstbestimmung und der autoritativen / autoritären Steuerung von Oben. Das Imperi­um ist der ausgeprägteste Typus des autoritären Staats. Er würgt jeden Versuch ab, die transnationalen gesellschaftlichen und damit potenziell noch selbstbestimmten Bedürfnisse mondial einzubringen.

In einem Imperium, das unmittelbar aus Nationalstaaten aufgebaut ist, nimmt die Hegemonie des Zentrums die Form nationaler Hegemonie oder Dominanz an. Die hegemoniale und dominante Macht der EU ist das neue Deutschland.

Zum entscheidenden Instrument des Imperiums wurde der Euro, der neue Goldstandard.

Euro und EU

Die Währungs-Union wurde nach dem ersten Erfolg der E(W)G als Zollunion in Angriff genommen. Es war vom Anfang an klar: Sie wird wesentliche politische Folgen haben, die das bisher bestehende Währungssystem fundamental verändern wird. Ich will mich nicht auf die teils akademische Diskussion über die Optimale Währungsunion seit Mundell (1957, 1973) einlassen, auch nicht auf die ersten Pläne, den Werner- und den Tindemans-Bericht.

Die Argumentation seitens Mundells ist es aber doch wert, angesprochen zu werden. "Wissenschaft" ist eine Stilfrage. Wenn dies irgendwo gilt, dann gerade in der Ökonomie. Unter diesem Gesichtspunkt ist insbesondere Mundells Aufsatz von 1973 beachtenswert. Da hatte er gewissermaßen schon das Lager gewechselt. 1957 hatte er rein auf der Basis von Inflationsraten und Transaktionskosten für eine "Optimale" Währungszone argumen­tiert, als ob es den Staat nicht gäbe.

Aber Achtung! Auf dieser Basis, und im Grund gestützt auf Mundells Arbeit von 1957 argumentieren die Sinn und Luckes auch heute. Sie begründen ihre €-Gegnerschaft genauso mit einem Markt-Fundamentalismus, wie ihre Kollegen auf der anderen Seite für den €. Ihr Marktdogmatismus ist nur auf einen anderen Begriff von Markt gestützt als der ihrer Kollegen aus der Mehrheit, auf einen (deutsch-) nationa­len. Außerdem ist für sie der Staat tendenziell noch Nachwächterstaat oder soll es jedenfalls sein. Das hat eine gewisse Rationalität, solange die nationalen Wirtschaften noch der Ausgangspunkt der Politik sind. Und hier finden wir den Unterschied zu den Bofingers etc. Diese gehen von einem globalen Markt als normatives Ziel aus. Für die sind hingegen der Staat, der nationale Reststaat wie der supranationale Überstaat, das eigentliche Instrument, den globalen Markt durch­zusetzen, in einer dialektischen Bewegung. Denn dann soll der globale Markt die Gesellschaft übernehmen.

Nun, 1973, wechselt Mundell ein klein wenig auch in die Politik. Aber der Stil ist frappierend. Er grenzt schon fast ans Absurde. Er spricht, als ob er im 17. / 18. Jahrhundert lebt, in der Zeit des Boisguilbert und des John Law. Geld ist eine materielle Ware, nicht ein Wert, staatlich garantiert und reguliert. Ein externer Schock ist für ihn, an erster Stelle (115), ein Ernteausfall. Und mit einer Währungsunion von zwei oder mehreren Staaten sei man eben besser gegen solche "externe Schocks" gewappnet. Denn ein lokaler Wolkenbruch führt zum starken Anstieg des Wasserspiegels in einem See. Sind mehrere Seen aber durch Kanäle verbunden, dann hält sich dies in Grenzen. Die Natur-Metapher wird zum Argument.

Und so geht es weiter: Übrigens hält sich dies meist noch innerhalb der OCA-These. Nur die Bewertung dessen, was "optimal" ist, wird verschoben. ...

Wohl aber müssen ein paar Worte dem Delors-Bericht gelten. Denn dabei wird sonnenklar: Die heute von den neuen Keynesianern, z. B. Varoufakis, so angefeindeten Konsequenzen waren von Anfang an gewollt und eingeplant. Natürlich hätten es nach dem Wunsch der Planer glatter gehen sollen. Aber die "innere Abwertung", die Zentralisierung der Fiskalpolitik, der Abbau der Demokratie und des europäischen Sozialstaats war gewollt und geplant. Damit ist die humanitäre Katastrophe in Griechenland nicht ein Unfall. Sie ist ein Erfolg der Eliten des Zentrums. Deswegen verteidigen diese ihre Politik, die Politik der Troika, ja auch mit Zähnen und Klauen.

Lesen wir doch den Delors-Report! "... a basis for multilateral surveillance, ... pressure for mutually consistent macroeconomic policies ... Economic imbalances among member countries would have to be corrected by policies affecting the structure of their economies and costs of produc­tion ... Transfer of decision-making power from Member States to the Community as a whole ... Wage flexibility and labour mobility are necessary to eliminate differences in competitive­ness ... policy constraints... Efforts would have to be made to convince European management and labour of the advantages of gearing wage policies largely to improvements in productivity."

Die Dualisierung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft war geplant. Dazu musste man die Entscheidungen weg von der nationalen Ebene verlagern, hin zu einer unverantwortlichen Körperschaft von Bürokraten samt ihrem Schirm, den nationalen Politikern in den Räten. Nationale Politiker stehen noch immer unter dem Druck der Bevöl­kerung. Sie sind damit unzuverlässig. Entscheiden muss folglich ein verantwortungsloses Zentrum. Die nationale Politik darf dies dann implementieren, "umsetzen", wie es sprachlich so schrecklich ausgedrückt wird.

Politische Konsequenzen

Das Ziel der SYRZA und der von ihr angestoßenen "Eurolinken" ist, sogar von den linken Oppositionellen im Bündnis formuliert, schlichtweg unrealistisch und illusorisch. In einem neuen Text schreiben Spyros Lapatsioras, John Milos und Dimitris Sotiropulos, Mitglieder des ZK und kritisch gegenüber Tsipras: "Das politische Ziel von SYRIZA und der Eurolinken ist, den Neoliberalismus zu überwinden, jene Praxis, welche Alles dem Markt unterordnet, und den Regierungen wieder Freiraum zu verschaffen, dieser Macht des Marktes entgegen zu treten... " Doch genau diese Allmacht des Marktes und damit der Wirtschafts-Eliten und der Finanz-Oligarchie herzustellen ist, für alle nachlesbar und hundert Mal wiederholt, das Ziel der EU, und der Euro ist dabei das Haupt-Instrument. Das ist nicht eine Politik, die man jederzeit ändern könnte. Das ist die Struktur des €-Systems. In dieser Struktur ist die Politikwahl bereits inkorporiert, eingeschrieben.

Denn es gibt dabei zwei Grundstrukturen: Die eine bildet der supranationale Staat mit seinen Kern-Institutionen EuGH, EZB und Kommission, in der Reihenfolge ihrer Bedeutung. Die andere ist die Währung, welche den Markt völlige Freiheit geben will und jede soziale Regu­lierung verhindern soll. Wenn man also diesen wilden, ungezügelten Neoliberalismus nicht will, muss man den € beseitigen und darüber hinaus die EU zerschlagen.

Kaum jemand wird dies bestreiten ˗ es wird höchstens verhüllter ausgedrückt. Dann bleibt aber für jene, die sich gegen die Dualisierung stellen, die das alte, ehrwürdige Ziel einer Entwicklung der Fähigkeiten aller Menschen und nicht nur der obersten 10 % verfolgen, die eine selbstbestimmte Gesellschaft soweit überhaupt möglich anstreben, nur eine Konsequenz:

Raus aus dem Imperium, raus aus dem Euro! Vielleicht sollten wir weniger erratische Mar­xisten sein, eher konsequente. Apparate sind nicht neutral, technische Apparate nicht und schon erst recht nicht soziale und politische Apparate. Man kann den autoritären Staat nicht einfach nehmen und mit sozialem Gehalt anfüllen. Man kann die EU nicht in ein soziales Europa verwandeln. Man muss den alten Staat zerschlagen, man muss die Eurozone zerschla­gen, man muss die EU zerschlagen.

Wir gehören nicht zu denjenigen, welche eine Sklavenhaltergesellschaft nur deswegen fort­schrittlich nennen, weil sie vielleicht einige Tonnen Weizen mehr erzeugt hat ˗ wie der alte Sowjetmarxismus. Wenn die EU wenigstens das täte! Aber die Studien der gekauften Ökono­men, die immer wieder behaupten, das Wachstum würde befördert, die sind doch ein zyni­scher Witz. Wir sehen ja seit Jahren, wie der Euro das Wachstum befördert, in Griechenland, und in den anderen Ländern der Peripherie!

Doch Griechenland ist die eine wichtige Sache. Die griechische Politik des kommenden Vierteljahrs wird weit über Das Land hinaus Konsequenzen haben.

Eine andere Sache ist unsere eigene Situation. Wir sitzen im Zentrum. Aber auch wir sind politisch tödlich bedroht durch die imperiale Entwicklung, durch Euro und EU. Nicht nur schreitet der Abbau der Demokratie und des Sozialstaats voraus. Nicht nur wächst der Autori­tarismus unserer Politik und schreibt uns vor, was wir zu denken und zu lassen haben. Nicht nur ist die Selbstaufgabe Österreichs nahezu unumkehrbar geworden. Vielmehr ist auch weit und breit keine politische Kraft zu sehen, die dem effizient entgegen arbeiten kann. Da die Sozialdemokratie die Masse der Bevölkerung so fundamental enttäuscht hat; da Politik nur mehr als schmutziges Geschäft junger Ehrgeizlinge betrachtet wird, ob diese nun Grasser, Schieder oder Strache heißen; da die Linke kaum mehr marginal existiert und in ihrem sicht­barsten Ausdruck glaubt, sich unterwerfen zu müssen; so geht der Protest, soweit geäußert, in eine schmierige politische Rechte, die an die Arbeiter appelliert, aber gleichzeitig ein neoliberales Programm verfolgt.

Eine Renationalisierung ist selbstverständlich nur der erste Schritt in einem langen und umfangreichen Programm. Warum Renationalisierung? Aus zwei Gründen, die beide strategisch gleich wichtig sind:

(1) Die Nation bzw. der Nationalstaat ist die Lebenswelt der Unterschichten, der Bevölkerung insgesamt und der Arbeitenden im Besonderen. Wer den demokratischen Impuls ernst nimmt, muss dort ansetzen, wo die Menschen leben, arbeiten und ihren sozialen Horizont haben.

(2) Der Nationalstaat ist weiters gegenwärtig am ehesten noch die Arena eines politischen Kampfes, der wirklich an Massenbedürfnissen und nicht an Intellektuellen-Träumen ansetzt.

Aber dabei kann es nicht bleiben. Wir müssen daher endlich die Frage eines Neuen Internatio­nalismus ernsthaft debattieren. Es gilt Abschied zu nehmen vom Programm des "Weltstaats" ˗ das ist übrigens heute vor allem ein neoliberales Ziel. Aber auch der alte Internationalismus war hauptsächlich ein Herrschaftsmittel, zuerst der sowjetischen Nomenklatur, und dann in Ansätzen auch des maoistischen Chinas, bevor dieses begriff, dass es gegen das sowjetische Vorbild dabei wenig Chancen hatte.

Aber halten wir wohl und bewusst fest: Der € ist nur das Instrument, der Transmissionsrie­men. Das eigentliche Problem ist allemal die Struktur und Politik des Imperiums. Mit dem € hat die EU ihr Wunsch-Instrument gefunden. Aber das Grundproblem ist die EU. Und um dieses Grundproblem anzugehen, bedarf es einer politischen Kraft jenseits der Rechten. Das ist das Grundproblem schlechthin und auch unser Grundproblem ˗ hier und heute.

AFR

 

Czempiel, Ernst-Otto (1999), Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert. München: Beck.

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000), Empire. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Leitner, Ulrich (2011), Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems. Frankfurt /M. ˗ New York: Campus.

Mundell, Robert A. (1961), A Theory of Optimum Currency Area. In: AER 51, 657 – 665.

Mundell, Robert A. (1973), Uncommon Arguments for Common Currencies. In: Johnson, Harry G. / Swoboda, Alexander K., eds. The Economics of Common Currencies: Proceedings. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Osterhammel, Jürgen (2006), Imperien im 20. Jahrhundert: Ein e Einführung. In: Zeithistorische Forschungen 3,  4 ˗ 13.

Schluchter, Wolfgang (1985), Aspekte bürokratischer Herrschaft. Studien zur Interpretation der fort­schreitenden Industriegesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr, (5. Aufl.).

Wittfogel, Karl A. (1977 [1957]), Die Orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Frankfurt/M.: Ullstein.

 

Verweise