Transfers

30.12.2015
Von Albert F. Reiterer
Der konservative Reflex – Ökonomische Dekonstruktionen 1

Transfers sind ein Lieblings-Ziel für die politischen Angriffe von Konservativen auf die bis­herige Politik der europäischen Sozialstaaten im Besonderen und auf den Staat als wirtschaft­lichen Akteur im Allgemeinen. Da ist dann das Wort von den Sozialschmarotzern nicht mehr weit, bei diesen echten Sozialschmarotzern. Transfers seien inflationär. Transfers machten die Menschen wohlfahrtsabhängig, ja faul, "idle" hieß es schon Ende des 18. Jahrhunderts. Transfers seien ein schlechtes Mittel der (Keynesianischen) Konjunktur-Politik.

Man muss nicht unbedingt ein harter Konservativer sein, um Transfers nicht als das ideale Mittel der Politik zu betrachten. Es macht aber misstrauisch, wenn wir solche Aussagen rundum zu lesen bekommen. Und wir finden sie auch in einem Buch, das derzeit als eine geheime Bibel der Links-Keynesianer wieder neu aufgelegt und im Internet verfügbar ist (Minsky 1986 bzw. 2008).

Minsky kann heute wohl kaum mehr wirklich als Geheimtipp betrachtet werden. Er liefert die Grundlagen für die inzwischen langsam Mode werdende Finanzialisierungs-These (Stockham­mer 2012, 2013).

Nach einer frustrierenden Veranstaltung mit dem eben zitierten Autor im Mittelpunkt versuchte ich, irgendeinen Nutzen daraus zu ziehen. U. a. begann ich Minsky's umfangreiches Hauptwerk zu lesen, da ich bislang nur kurze Aufsätze von ihm kannte (Minsky 1986 [2008]). Vielleicht ist das Buch überbewertet. Minsky sei seiner Zeit voraus gewesen, wie auch Schumpeter und Keynes, meint der Herausgeber der neuen Ausgabe. Das muss man wohl genauer qualifizieren. Minskys waren seinen ökonomischen Peers voraus, weil er seine Umgebung mit offenen Augen ansah und einige Trends aufnahm, die sie nicht sehen wollten. Das ist durchaus ein Unterschied, ein politisch wichtiger. Denn es besagt: Mainstream-Ökonomen hinken meist weit hinterher. Auf ihr Urteil kann man nicht allzu viel geben. Man braucht nur an die Euro-Debatte zu denken.

Aber das Buch ist doch lesenswert, zumindest für Menschen, die versuchen, die Entwicklungs-Tendenzen des Finanzkapitalismus auf die Reihe zu bekommen. Doch findet man auch nicht Weniges in der Schwarte, worüber man sich bei einem Keynesianer vielleicht weniger wundert. Bei jemandem, der als Grundlage der Links-Keynesianer verkauft wird, ist allerdings Manches schon erstaunlich. Dazu gehört seine Behandlung der Transfers, die er ausgesprochen feindselig beurteilt. Dabei schätzt er automatische Stabilisatoren, zu denen Transfers prominent gehören, für die Bewältigung von Krisen heute hoch ein.

Minsky behauptet immer wieder: Transfers wirken inflationär. Der Begriff inflationär kommt in diesem Zusammenhang wirklich inflationär vor. Er begründet es damit (25): Transfers "haben keine direkte Wirkung auf Beschäftigung und Produktion. ... Wenn die Regierung hingegen Ausgaben für Güter und Dienste tätigt, erhöht dies die Gesamt-Nachfrage." Das ist geradezu nachlässig falsch, obwohl es formal richtig ("direkt ...") ist. Denn Transfers gehen praktisch sofort und zur Gänze in den Konsum und erhöhen damit die Gesamt-Nachfrage. Die Transfers bilden schließlich nur eine einzige Komponente davon. Inflationär wirken könnte allenfalls die Gesamt-Nachfrage.

Tatsächlich waren die Menschen damals mit Inflation konfrontiert. Aber die Daten, die Minsky selbst bringt (Tab. 2.4 und 2.5) belegen, dass es 1974 und 1975 sogar eine gewisse Nachfragelücke gab. Und trotzdem stand die Inflation in den USA 1974 über 10 %. Auch 1975 war sie nach heutigen Vorstellungen noch ziemlich hoch, wenn auch stark gesunken. An einem Nachfrage-Überhang konnte dies ganz offenbar nicht liegen.

Auch in Österreich ging die Teuerung Mitte der 1970er auf fast 10 % hoch und blieb auch fast ein Jahrzehnt hoch. Aber diese Teuerung wurde, wie gesagt, nicht von einer Übernachfrage verursacht. Die Zahlen bei Minsky für die USA zeigen dies deutlich genug. Das ist eine seiner fundamentalen Schwächen. Er hat keine Theorie, mit der er Inflation erklären könnte, weil er, der so misstrauisch gegenüber der Stabilität des Markts ist, sich in die­sem Fall doch einer Markt-Ideologie unterwirft. Dass Preise etwas mit (Wirtschafts-) Macht zu tun haben, auf die Idee kommt er nicht.

Das Alles ist derart offenkundig, dass man bei den folgenden Aussagen misstrauisch wird. Und zu Recht. Das nächste Argument macht den Umweg über die VGR (26). Da schreibt er: "Wenn die [US-] Regierung 1975 von den 80 Mrd. Sozialversicherungsgeldern 40 Mrd. für Löhne aufwendete, indem sie etwa Älteren eine Weiterbeschäftigung ermöglichte, würde das BIP um 40 Mrd. gewachsen sein." Es wird auch schnell klar, was ihm wirklich Sorgen macht (29): "Jede Verbesserung bei den Transferzahlungen erhöht den Preis, zu dem manche Leute wil­lens sind, in den Arbeitsmarkt einzutreten." Vielleicht noch eine Spur deutlicher formuliert: Ein erhöhtes Arbeitslosengeld oder eine sonstige Beihilfe macht Druck auf die Löhne nach oben. Damit versteht man auch besser, warum in der Clinton-Ära soziale Transfers nochmals radikal abgebaut wurden. Stiglitz schätzt dies heute durchaus als Fehler ein. (Zum besseren persönlichen Verständnis: Minsky war ein kleiner Bank-Direktor, bevor er Professor wurde.).

Die Aussage zur VGR und zur Steigerung des BIP ist formal richtig. Aber das sagt höchstens etwas über die fehlerhafte Konzeption der VGR aus, gar nichts über den Nutzen oder Schaden von Transfers.

Und das stellt den Begriff der Transfers selbst zur Disposition!

Transfers können in einer hoch arbeitsteiligen, hoch vernetzten Wirtschaft / Gesellschaft nur als Einkommen unter anderen Einkommen gefasst werden. Sind Pensionen Transfers? Nicht wenige Pensionisten werden sie eher als Löhne sehen. Damit stünden sie übrigens ganz auf der Linie derzeitiger "Reformer", welche die Umwandlung des Pensions-Systems weg vom Umlagen-System zu einem "Kapitaldeckungs-Verfahren", also zu einem Anspar-System propagieren. Ausnahmsweise würde ich ihnen Recht geben. In diesem Sinn sind Pensionen nur zeitverzögerte Auszahlungen von einbehaltenen und (schlecht) verzinsten Lohn-Bestand­teilen.

Damit ist die Übereinstimmung aber auch schon wieder zu Ende. Die "Anspar"-Idee selbst ist offene finanzkapi­talistische Ideologie. Realwirtschaftlich sind Pensionen, wie auch Transfers, einfach Zuweisungen aus der laufenden Produktion, der laufenden Wertschöpfung an eine Personen-Kategorie, die sich einen Anspruch erworben hat, wie immer. Die Altersversorgung früherer Zeiten, oder auch heute noch in weniger entwickelten Gesellschaften, ist da klarer. Niemand würde dort bestreiten, dass der Auszügler von seinen Nachfolgern ernährt wird; dass chinesische Kinder ihre alten, nicht mehr arbeitsfähigen Eltern erhalten. Diese haben sich einen sozialen / kulturellen Anspruch darauf erworben. Niemand würde da von einem "Ansparen" sprechen. Der Anspruch richtet sich an Einzelne, nicht an die Gesellschaft insgesamt.

Auch diejenigen, welche das Lebenseinkommen zu berechnen versuchen, mit welcher Metho­de immer, würden diese Sichtweise unterstützen. Es sind im Wesentlichen Ansprüche aus der Erwerbstätigkeit, oder wieder: Löhne, wie es ja auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind. Das ist schließlich auch kein "Transfer", weil es nur einmal im Jahr ausbezahlt wird. Es sind auch nicht "Lohnnebenkosten", sondern schlich und einfach Lohn – was ja für die sogenannten "Lohnnebenkosten" generell zutrifft. Eine Kürzung hier ist nichts anderes als eine Lohnkür­zung.

Oder was ist mit dem Arbeitslosengeld? Der Beitrag zur Arbeitslosen-Versicherung ist ein Lohn-Bestandteil. Damit ist der Schritt nur mehr winzig, auch das Arbeitslosengeld als einen Lohn zu betrachten, ausgezahlt aber nur unter gewissen Bedingungen, der vom AMS anerkann­ten Arbeitslosigkeit nämlich.

Wenn man aber von der Äufnung (Speisung) solcher Fonds ausgeht, dann werden auch andere Fonds ganz in die unmittelbare Nähe von Löhnen gerückt, der FLAF etwa, damit die Familien- und Kinder-Beihilfen. Gewisse Leistungen daraus waren schließlich bis vor noch kurzer Zeit nur Unselbständigen, nur Lohn-Empfänger/innen vorbehalten. Heute bekommen auch Selbständige Karenzgeld aus dem FLAF. Wenn Gesellschaft eine Leistung als förde­rungswürdig betrachtet, das Kinderkriegen in diesem Fall, die Produktion der Ware Arbeits­kraft also, dann ist es nur konsequent, dass sie dies aus einem kollektiven Fonds tut, wie immer dieser Fonds zustande kommt. Es sind Lohnbestandteile, die vorerst nicht verfügbares Einkommen sind, welche vielmehr einen Umweg über einen kollektiv verwalteten Fonds machen, und von diesem nach politisch fixierten Kriterien ausbezahlt werden. Dann sind sie allerdings wieder verfügbares Einkommen.

Die mainstream-Ökonomie hat den nützlichen Begriff des öffentlichen Guts entwickelt (Mus­grave 1966). Aber sie hat dieses Konzept auch gleichzeitig verunklart. Denn sie hat zwei ganz verschiedene Begriffe hinein verpackt. Das "eigentliche" öffentliche Gut ist durch das Prinzip der Nichtauschließbarkeit definiert. Erhöhte nächtliche Sicherheit oder saubere Luft kommt allen zugute, ohne dass sie gesondert dafür bezahlen. Man kann niemand davon ausschließen. Das scheint den Begriff technisch zu fixieren. Im Grund ist es aber nichts Anderes als zu sagen: Wir müssen unsere Wirtschaft so organisieren, dass manche notwendige Leistungen nicht über den Markt gehen. Bezahlen muss sie dann eben die Gesellschaft als Ganzes, in der Form des Staats. Die marxistische Tradition sagt im Grund nichts Anderes von der Gesamt­wirtschaft: Soll sie "optimal" wirken und die größte Wohlfahrt erzeugen, dann kann sie nicht über den Markt laufen...

Das meritorische öffentliche Gut ist etwas ganz Anderes. Die Verteilung über den Preis-Mechanismus – so lautet hier die Behauptung – für zu einer zu geringen oder vielleicht sogar gar keinen Produktion eines erwünschten Guts. Was aber "erwünscht" ist, auch in der Menge, entscheidet von vorneherein eine politische Instanz. Der Nicht-Ausschluss-Mechanismus spielt hier keine Rolle. Die politische Führung sagt: Wir wollen das Burgtheater als Staatstheater. Mit den Eintrittspreisen lässt sich das nicht finanzieren. Also decken wir die Kosten, die 10fach höher sind (übrigens bei allen größeren Theatern im deutschsprachigen Raum) mit Staats-Subventionen – wenn man will: durch Transfers.

Das hat Verteilungswirkungen, denn nicht alle legen Wert auf einen Theater-Besuch. Man subventioniert damit die Mittelschichten. Transfers zu verteidigen soll überhaupt nicht heißen,  soll überhaupt nicht heißen, nicht zu sehen, dass es hier parasitäre Elemente geben kann. Das "einkommensabhängige Kinder­betreuungsgeld" hat mit seiner Einkommensabhängigkeit ein solches parasitäres Element. Dieselbe Tätigkeit, dasselbe "Produkt", wird unterschiedlich bezahlt, je nachdem, zu welcher Schicht die Betreuerin gehört. Man könnte nicht völlig ohne Berechtigung auch das Arbeitslosengeld bzw. seine Staffelung in diesem Licht sehen. Dabei ist immer die Frage, ob zusätzlich Lenkungseffekte angestrebt werden, etwa ein gewisser Schutz davor, jeden Job annehmen zu müssen.

Für Minsky war dieser Aspekt der Transfers vermutlich nur ein drittrangiger Nebenaspekt seines Interesses, und den wollte er gar nicht sehen.

Ich halte diesen Aspekt der Transfers als kollektive Löhne für absolut fundamental.

Arbeit und Wert

Die Gesellschaft als Ganzes ist mittlerweile die eigentliche Produktions-Einheit. Sind soziale Aktivitäten nicht überhaupt parasitär, dann sind sie ein Beitrag zum Sozialprodukt. Der aber ist gar nicht mehr als Einzelleistung berechenbar. Das geht aus der hohen gegenseitigen Inter­dependenz der Werte schaffenden Tätigkeiten hervor. Der konkrete Beitrag einer Fließband­arbeiterin zum VW-Polo ist ebenso wenig direkt bezifferbar, wie mein Beitrag als Statistiker zur Zahl 320 Mrd. €, den Wert des BIP in Österreich 2014. Das einzige, was man einsetzen kann, sind die Lohnkosten.

Parasitäre Leistungen gibt es zugegebener Maßen viele, nicht zuletzt im Bereich der sogenannten Kultur. Dort heißt es dann meist: Kultur dürfe "keine Ware" sein. Das ist abgrundtiefe Heuchelei. Warum dürfen gerade Bücher, oder Theaterstücke keine Ware sein, wohl aber die tägliche Wurst oder das Einfamilienhaus? Hier versuchen Warenproduzenten, deren Waren sich schlecht absetzen, sich mit einer pseudolinken Phrase eine Subvention zu ergattern.

Die Arbeitswert-These von Ricardo, aber auch von Marx, geht von der individuellen, der Einzelarbeit aus. Ihre Qualifikation und vor allem ihr Umfang, die Arbeitszeit, entscheidet über den Wert eines Produkts, einer Ware. Marx versucht, den ökonomischen Kontext einzubeziehen. Er qualifiziert die Einzelarbeit, indem er von gesellschaftlich notwendiger Arbeit(szeit) spricht. Gleichzeitig abstrahiert er aber auf geradezu gewaltsame Weise: "1 Unze Gold, 1 Tonne Eisen, ..., seien gleich große Tauschwerte. ... Die Arbeit, die sich gleichmäßig in ihnen vergegenständlicht, muss selbst gleichförmige, unterschiedslose, einfache Arbeit sein ... Tauschwert setzende Arbeit ist abstrakt allgemeine Arbeit" (MEW 13, 17 [1859]).

Inhaltliche Fragen sind immer auch methodische Fragen. Dies gilt für Arbeit und Arbeitszeit gleich mehrfach. Diesem Begriff der einfachen, abstrakten, allgemeinen Arbeit als eindeutig definiertes Maß des ökonomischen Beitrags zum Gesamtprodukt bzw. dessen Wert wird eine Erklärungsbürde auferlegt, die er schlicht nicht tragen kann. Ebenso kann die differenzierte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit die mehrdimensionalen Anforderungen tragen: Ergeb­nis der Nachfrage, d. h. der gesellschaftlichen Bedürfnisstruktur ebenso wie über die Durch­schnittsbildung Maß der Produktivität.

Arbeit, halten wir das zur Vermeidung von Missverständnissen fest, wird sinnvoll als einziger Ursprung und Maß des Werts definiert. Denn nur damit wird eine soziale Analyse des Pro­duktionssystems möglich. Aber dieser Wert hängt ganz und gar vom sozial und technologisch möglichen Gesamtprodukt einer Gesellschaft ab, das mit der verfügbaren Arbeit, in Öster­reich z. B. 6,8 Mrd. Arbeitsstunden im Jahr 2014, produzierbar ist. Gerade in einem arbeits­teiligen System kann diese Arbeit ihres konkreten Charakters nicht entkleidet werden. Der Doppelcharakter der Ware als "Qualität und Quantität" (MEW 23.1, 49) gilt auch und erst recht für die Ware Arbeitskraft, als spezifische Arbeit einerseits und als andererseits abstrakte, durch Arbeitszeit gemessene und mit anderen Arbeitszeiten verglichene Ware.

Es war daher eine Genie-Idee von Morishima (1973), die Wertestruktur auf doppelte Weise anzugehen und sie auch über eine Input-Output-Analyse mit konkreten Arbeits- und Waren­einsätzen zu definieren. Das setzt aber, i. S. von Leontief ebenso wie i. S. von Sraffa, voraus: Wirtschaft ist ein integrales und nicht mehr in Einzelarbeiten, Einzelleistungen zerlegbares System. Alle Tätigkeiten sind in einem bestimmten Umfang notwendig. Die Kondratief-Produktions-Funktion wird nicht umsonst als komplementäre Funktion bezeichnet. Sie bezeichnet eine konkrete soziale und technologische Konstellation, wo nicht abstrakte "Arbeit" gegen abstraktes "Kapital" substituierbar ist, sondern allenfalls eine Technik gegen eine andere, die wieder fixe Proportionen von Arbeitsqualitäten und materiellen Einsätzen aufweist.

Das ist übrigens auch politisch wichtig. Denn es entzieht den Behauptungen der gierigen Generaldirektoren jeden Boden, allein ihre unersetzbare Tätigkeit mache den Erfolg eines Unternehmens, einer einzelnen Produktionseinheit aus. Unersetzbar sind auch alle anderen Aktivitäten. Und wenn er die Erwartungen an seine Anforderungen nicht erfüllt, wird er schnell merken, wie leicht er ersetzbar ist.

Nicht alle Aktivitäten werden aber notwendig in diesem Umfang gebraucht, welche im kon­kreten System in diesem Augenblick vorhanden sind. Baran hat schon vor mehr als einem halben Jahrhundert darauf hingewiesen. Schieben wir für den Augenblick das hochwichtige Problem der Technik-Wahl beiseite, das oben gerade flüchtig berührt wurde. Das gibt es immer, und es gibt nie eine einzige optimale Technik im Gesamtsystem, wahrscheinlich nicht einmal "lokale Optima" der Technik. Mindestens ebenso wichtig ist aber: Bestimmte Arbeiten haben gewöhnlich eine nur ideologisch zu rechtfertigende Seite und Funktion. Das ist nur der Ausdruck dessen, dass Ökonomie auch, wie jedes andere Sozialsystem, ein kulturelles System ist. Marshall Sahlins hat dies seinerzeit besonders in den Vordergrund geschoben (Sahlins 1994).

Nehmen wir dazu noch ein wichtiges Beispiel: Bildung gilt in unserer pseudo- und quasi-meritokratischen Gesellschaft als der Faktor schlechthin, welcher Werte-Produktion und Wettbewerbs-Fähigkeit verbürgt. Wir müssen da ein wenig vorsichtig sein. Erinnern wir uns an Pierre Bourdieu (1988)! Die wichtigste Rolle von anerkannter Bildung ist nach ihm die Markierung der sozialen Position, also keineswegs etwa das Ausbilden technischer Fähig­keiten. Übrigens geht in einer Dienstleistungs-Gesellschaft das Eine in das Andere über. Die Fähigkeit der Selbstdarstellung im sozialen Kontext und der Kommunikation wird in diesem Fall zur "technischen" Fähigkeit, z. B. bei einem leitenden Angestellten. Der soll sich benehmen können und beim Geschäfts-Abendessen auch notfalls den Namen Homer kennen, und wenn es nur die Nacherzählung eines Vorarlbergers ist, oder, noch wichtiger, über die letzte Inszenierung im Burgtheater Bescheid wissen.

Es ist aber kennzeichnend, dass auf eine überaus durchsichtige Weise die skills stets heran gezogen werden, wenn Konservative und Liberale einmütig die steigende Ungleichheit weg erklären wollen. Das Wissen um das Erscheinungsdatum von Darwins Hauptwerk wird so plötzlich zum beruflich notwendigen kulturellen skill. Wer den nicht hat, verdient verständ­licher Weise weniger.

Doch zurück zu unserem Thema! Das Bildungssystem, jenes System also, in dem Bildung vermittelt und antrainiert wird, hat mit dem Produktionssystem fast nichts zu tun, selbst im Zeitalter von "further education" (Erwachsenenbildung). Es ist ein strikt getrenntes und autonomes System, das aber, bei all seiner Fragwürdigkeit, für die Gesellschaft und Wirt­schaft als Ganzes tatsächlich sehr wichtig ist. Was wirklich eine unabdingbare Kultur-Technik ist, bleibt unklar. Aber unser ökonomisch-theoretisches Hauptproblem lautet ohnehin anders. Wie soll man den Wertbeitrag eines, sagen wir, Hochschul-Lehrers, unabhängig von seinem Gehalt messen? Denn darauf läuft der Ansatz hinaus, die Wertproduktion ausgehend vom Individuum zu erfassen.

Transfers sind ein traditionaler Begriff aus der Staatswirtschaft, der teils aus intellektueller Trägheit übrig geblieben ist. Teils trifft dies zu, weil er ideologischen Bedürfnissen der Herrschenden entspricht, teils möglicherweise auch, weil es einen gewissen Sinn macht, solche Staatsleistungen von anderen zu unterscheiden, wo auch eine unmittelbare und administrativ steuerbare Beschäftigungs-Wirkung eintritt.

Aber er bekommt eine stets wichtigere Bedeutung: Er bedeutet: Gesellschaftlich notwendige oder nützliche Fähigkeiten müssen kollektiv organisiert und bezahlt werden. Und die Bedarfs­deckung einer (post-) modernen Gesellschaft geht in zunehmendem Maß zum Einen über Konsum, bezahlt aus Fonds dieser Gesellschaft und von ihrem Staat verwaltet; zum Anderen überhaupt über kollektiven Konsum, wo, z. B. in Kindergärten und Schulen, Leistungen direkt in den Konsum gehen, die vor wenigen Jahrzehnten noch privat erbracht oder zugekauft wurden.

Den Begriff Transfers zu benutzen, um Leistungen bewusst von der Wert-Entstehung, der Wert-Schöpfung abzukoppeln, sie damit als schädlich zu brandmarken, ist eine Irreführung und z. T. eine bewusste Ideologie. Auch an Hyman Minsky sieht man dies: Den muss man wohl am zutreffendsten als Vertreter bürgerlicher Identitäten und Interessen einstufen. Das macht seine Finanzialisierungs-Aussagen nicht falsch. Aber mit denen muss man sich gesondert auseinander setzen. Das sind sie übrigens auch wert.

28. Dezember 2015

 

Literatur

Baran, Paul A. (1968), Zur politischen Ökonomie der geplanten Wirtschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

Bourdieu, P. (1988), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Leontief, Wassili (1956); Factor Proportions and the Structure of American Trade: Further Theoretical and Empirical Analysis. In: The Rev. of Economics and Statistics 38, 386 – 407.

MEW 13 und 23.1: Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859]; Das Kapital, 1. Band [1867]. Berlin: Dietz.

Minsky, Hyman P. (2008 [1986]), Stabilizing an Unstable Economy. Yale Univ. Press bzw. Reprint. With a Foreword by H. Kaufman. Bzw. Online edition MacGraw Hill Professional.

Morishima, Okishio (1973), Marx’ Economics. A Dual Theory of Value and Growth. Cambridge: University Press.

Musgrave, Richard A. (1966), Finanztheorie. Tübingen: Mohr.

Sahlins, Marshall (1994), Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Sraffa, Piero (1969), Production of Commodities by Means of Commodities. Prelude to a Critique of Political Economy. Cambridge: University Press.

Stockhammer, Engelbert (2012), Financialization, income distribution and the crisis. In: investigación económica, vol. LXXI, 279, 39 ˗ 70.

Stockhammer, Engelbert (2013), Why have wage shares fallen? A panel analysis of the determinants of functional income distribution. Conditions of Work and Employment Series No. 35. Geneva: International Labour Office.