Istanbul – westliche Normalität versus militärischem Ausnahmezustand

27.06.2003

Juni 2003

Dem europäischen Touristen offenbart sich Istanbul als eine westliche, weltoffene Großstadt mit beeindruckenden Kulturgütern und atemberaubender Lage am Bosperus, als eine Stadt an der Grenze zwischen Europa und Kleinasien. Auffällig mag die starke Polizeipräsenz in den Fußgängerzonen und in den turbulenten Straßen sein, wo Busse mit Polizisten mit schwerer Ausrüstung postiert sind. Die Jugend ist in der Mehrheit entpolitisiert und von ihrem Auftreten der westlichen individualistischen Kultur angehörig. Frauen, die ein Kopftuch tragen sind in der Stadt seltener anzutreffen als solche, die sich nach europäischem Vorbild kleiden.

Kaum in dieses Normalität vermittelnde Bild will da die konstante Repression gegen jegliche politische Opposition und die große Anzahl politischer Gefangener passen. Laut dem Menschenrechtsverein IHD gibt es derzeit etwa 10.000 politische Gefangene in der Türkei, von denen etwa 8.000 dem kurdischen Befreiungskampf zuzurechnen sind, die restlichen 2.000 der außerparlamentarischen Linken sowie islamistischen Kräften angehören. Zu dem Alltag der aufgrund ihrer Gesinnung Verhafteten gehört die Folter ebenso wie die Bedrohung durch immer neue Gefängnistypen und die willkürliche, von Gefängnis zu Gefängnis verschiedene Handhabung von Besuchsrecht, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Derzeit gibt es insgesamt 6 F-Typ Gefängnisse, die im Jahr 2000 eröffnet wurden, während sie zuvor unter Ausschluß der Öffentlichkeit errichtet worden waren. Dort sind die Gefangene in Zellen von 3 Personen oder alleine untergebracht. Die Größe einer Zelle für drei Gefangenen beträgt insgesamt 16 Quadratmeter. Jüngst ist der Bau von vier weiteren Hochsicherheitsgefängnissen öffentlich bekannt geworden, deren Konzept aus den USA importiert wurde. Zwei davon sind bereits fertiggestellt worden. Bei diesen D-Typ Gefängnissen gibt es insgesamt drei Ebenen, wobei die zwei untersten sich unter der Erde befinden. Hier gibt es nur noch Einzelzellen, die etwa 4 Quadratmeter umfassen und so niedrig gebaut sind, das der aufrechte Stand nur für weniger groß gewachsene Gefangene möglich ist.

Die Hauptarbeit von IHD, dessen Hauptbüro in Ankara ist, liegt in dem Aufzeigen der systematischen Folter sowie der Repression in den Gefängnissen gegen die politischen Gefangenen. Der 1986 gegründete Verein lehnt Gelder der Europäischen Union ab, da er in diese keinerlei Hoffnung setzt. Auch die von der EU als Erfolg verkaufte Abschaffung der Todesstrafe, sorgt nicht gerade für Freudentränen bei den Aktivisten. Ali Armutlu, der selbst die Polizeipraktiken am eigenen Leib erfahren hat, und Mitbegründer des IHD ist, macht deutlich, dass die türkische Polizei und Armee noch nie eine offizielle Todesstrafe benötigt hätten, um jemanden zu liquidieren. Die Todesstrafe sei zwar abgeschafft worden, dafür seien aber die Strafen für diverse politische Vergehen drastisch heraufgesetzt worden und gleichzeitig hätten sich die Haftbedingungen enorm verschlechtert.

IHD war seit seiner Gründung selbst mehrmals Zielscheibe von Übergriffen. 13 leitende Mitglieder sind seit seiner Gründung umgebracht worden, meist von Attentätern in Zivil, die jedoch von Polizei und Militär geschützt werden. 1999 überlebte ein Mitglied ein Attentat trotz 15 Einschüssen knapp. Im Jahr 2000 stürmte ein bewaffneter Mann das Büro in Istanbul und feuerte um sich, durch Glück wurde dabei niemand verletzt. Natürlich kam es in keiner der Fälle zu Gerichtsverhandlungen.

Auch die Anwaltsvereinigung Halkin Hukuk, deren Arbeit sich vor allem auf die Verteidigung von Inhaftierten, die aufgrund politischer Delikte verhaftet wurden, sowie auf Öffentlichkeitsarbeit konzentriert, blieb von polizeilichen Übergriffen nicht verschont. Bei der letzten Razzia 1996 wurde ein Anwalt verhaftet und 6 Monate ohne Gerichtsverhandlung festgehalten. 1997 gelang es erstmals einen Polizist vor Gericht zu stellen, der auf einer Demonstration einen Demonstranten erschossen hatte. Er wurde freigesprochen. Wenn versucht wird wegen Folter Anklage gegen Soldaten, Polizisten oder Gefängniswärter zu erheben, kommt es gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung. In der Türkei gibt es seit 1980 zwei Arten von Gerichten: die normalen Zivilgerichte und die 1980 eingeführten Militärgerichte, die 1984 in Sicherheitsgerichte umbenannt wurden. Alle politischen Gefangenen werden in diesen Gerichten abgeurteilt. Anwälte sind zwar zugelassen, die Ermittlungsbehörde und die Rechtsprechung sind jedoch nicht unabhängig voneinander, sodaß die ermittelnde Behörde (Polizei oder Militär) gleichzeitig auch die Richter stellen. So ist natürlich keine unabhängige Beweißführung möglich.

Bezüglich der Folterpraktiken weißt Behic Asci von der Anwaltsvereinigung darauf hin, dass seit neuestem neben Strom, Schlägen und dem Fesseln in abnormen Körperpositionen auch die systematische Schlafdeprivation zur Routine gehört. Auch berichtet er, dass zwischen 1990 und 1996 insgesamt 30 politische Aktivisten verschwunden sind, von denen nur ein einziger als Leiche wiedergefunden wurde. Seit 2000 versucht die Anwaltsvereinigung auch gerichtlich gegen die gegen die Todesfastenden eingesetzte Zwangsernährung vorzugehen, aber bislang ohne Erfolg.

Von TAYAD, der Vereinigung Angehöriger politischer Gefangener, wird die Zahl der bis jetzt im Todesfasten Gefallenen mit 107 angegeben. Von diesen waren 12 Angehörige, die außerhalb der Gefängnisse gefastet haben. Derzeit befinden sich 9 Gefangene im Todesfasten, alle in F-Typ Gefängnissen. Das im Herbst 2000 begonnene Todesfasten wird nur noch von der DHKP fortgeführt, am 15. Juli 2003 sind es tausend Tage, die es andauert.
Derzeit gibt es keine Kontakte mit der Regierung, keine Verhandlungen um eine Lösung. Ein Ende des Todesfastens ist bislang ebensowenig wie ein Einlenken der Regierung abzusehen.