IRAK: DIE ASHURA-MASSAKER

06.03.2004

von A.Holberg

Nach Darstellung des von den US-Besatzern eingesetzten ,Regierenden Rates` (IGC) in Baghdad haben die offensichtlich koordinierten Bombenattentate auf die Teilnehmer an den schiitischen Prozessionen im Baghdader Stadtteil Al-Kadhimiya und in Karbala am Dienstag, den 2. März, 217 Todesopfer und 393 Verletzte gefordert. Diese traditionell am 10. Tag (Ashura) des islamischen Fastenmonats Muharram stattfindenden Prozessionen gläubiger Anhänger der schiitischen Richtung des Islam konnten nach Jahrzehnten der Baath-Herrschaft erstmals wieder durchgeführt werden. Wie in früheren Zeiten nahm auch eine große Zahl von Pilgern aus dem Iran an ihnen teil. Sie finden im Andenken an den Märtyrertod Imam Husseins statt. Hussein, war der Enkel des Propheten Muhammad, und sein Grab befindet sich in Karbala. Der Streit um die Nachfolge des Propheten nach dem Kalifat von Husseins Vater Ali, der im weiter südlich gelegenen Najaf begraben liegt, hatte vor rund 1400 Jahren zur Spaltung zwischen der Mehrheitsfraktion der Sunniten und der Minderheit der Schiiten als der Anhänger Alis geführt. Hussein war bei Karbala in einer Schlacht mit den sunnitischen Ummayaden gefallen, die sich nach Alis Tod das Kalifenamt sicherten.
Zu den Massakern vom Dienstag kann man nur zwei Dinge sicher sagen: Sie haben nichts mit der nationalen Befreiung Iraks zu tun, und bis auf ihre Urheber selbst weiß niemand, wer die Auftraggeber sind. Die Folgen können nur mit größter Vorsicht eingeschätzt werden. Diese Massaker, die, wie es scheint, nur zwei von möglicherweise weiteren in Basra, Kirkuk und Najaf geplanten waren, sind die blutigsten seit Beginn der Besetzung des Landes. In dem Maße, wie die Besatzungsmächte und ihre lokalen Hilfskräfte im IGC des bewaffneten Widerstands sichtlich nicht mehr Herr werden, haben sie sich daran gewöhnt, sowohl für spektakuläre Widerstandsaktionen als auch sonstiges Unbill ausländische terroristische Kräfte verantwortlich zu machen, die sie dem ominösen Al-Qaida Netzwerk zuordnen. So auch in diesem Fall. Während Al-Qaida zwar die Verantwortung für die Attentate vom 11. September 2001 nicht übernommen hatte, wohl aber die für eine Reihe anderer, haben nun die sich selbst als Al-Qaida zugehörig bezeichnenden ,Abu Hafs Brigden` in einem Brief an die in London erscheinende Zeitung ,Al Quds al-Arabi` jede Beteiligung an den Ashura-Anschlägen dementiert und betont, sie kämpften nur gegen die amerikanischen ,Kreuzzügler` und ihre einheimischen Hilfskräfte angefangen vom IGC bis zur neuen irakischen Polizei. Für die jüngsten Blutbäder ist es allerdings interessant zu sehen, dass die Besatzungsmächte bereits im vergangenen Monat den ,Beweis` für die Al-Qaida Urheberschaft der jetzigen Verbrechen vorgelegt haben. Angeblich ist ihnen im irakischen Kurdistan eine CD-Rom in die Hände gefallen, auf der der aus Jordanien stammende islamistische Terrorist Abu Musab az-Zarqawi Attentate ankündigt, durch die die Religionsgemeinschaften im Irak zu einen Bürgerkrieg gegeneinander aufgestachelt werden sollen. Die Attentate vom Dienstag scheinen einem solchen Szenarium optimal zu dienen. Wenngleich es in der Geschichte des modernen Iraks bislang noch nie blutige Auseinandersetzungen zwischen den rund 60 Prozent der Bevölkerung stellenden und sowohl in der Zeit der Zugehörigkeit zum osmanischen Reich als auch bis zu Sturz der Herrschaft Saddam Husseins unterprivilegierten Schiiten und der herrschenden sunnitischen Minderheit gegeben hatte, sind Spannungen zwischen beiden Gruppen nichts neues und haben seit dem Sturz Saddams und der damit wachsenden Befürchtung der Sunniten, in Zukunft zu den Unterprivilegierten zu werden, deutlich zugenommen. Das Problem ist allerdings, dass es zum einen überhaupt fraglich ist, ob Az-Zarqawi und seine Organisation ,Al-Tawhid` etwas mit Al-Qaida zu tun haben und vor allem, ob das angeblich gefundene Dokument echt ist. In der arabischen Welt glaubt man das im allgemeinen nicht, und es wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass in dem von den Besatzungskräften veröffentlichten Text, Al-Qaida von Zarqawi aufgerufen wird, in den Irak zu kommen und mit ihm an der Durchführung seiner sektiererischen Bürgerkriegsstrategie gemeinsam zu arbeiten. Bis dahin hatten die Besatzer aber stets - und wohl zutreffend - behauptet, Al Qaida sei längst im Irak aktiv. Indem Sprecher der Besatzungsmacht überdies eine Zusammenarbeit zwischen Al-Qaida und ,Saddam-Anhängern` bei den jüngsten Blutbädern andeuten, versuchen sie offensichtlich, nachdem ihnen Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen als Rechtfertigung ihres Überfalls auf das Land abhanden gekommen sind, das zweite damalige Rechtfertigungsargument, die ebenso unwahrscheinliche wie nie bewiesene Zusammenarbeit des säkularen Nationalisten Saddam Husseins mit den Islamisten von Al-Qaida, zu recyclen.

Wenn man der Antwort nach den Hintermännern der Attentate am Ashura-Tag näher kommen will, indem man fragt, wem sie nutzen könnten, ist man allerdings mit einem weitgefächerten Angebot konfrontiert, das alle möglichen Verschwörungstheorien erlaubt. Zu den unmittelbaren Reaktionen der irakischen Massen, der direkt betroffenen schiitischen insbesondere, gehören Angriffe auf iranische Pilger in Karbala ebenso wie die Verwünschungen gegen die Besatzer. Zwar hat einer von Irans Vizepräsidenten, der zum Lager der ,Reformer` gehörenden Mohammad Ali Abtahi, sofort Al-Qaida für schuldig erklärt. Der französische Iran Spezialist Oliver Roy allerdings betont, dass das iranische Regime schon aus Gründen des Selbstschutzes vor aggressiven Absichten der USA daran interessiert sei, dass die USA im Nachbarland weiterhin mit unlösbaren Problemen konfrontiert bleiben und darüber hinaus, dass der Irak nicht wieder wie zu Zeiten Saddam Husseins ein starker und um die regionale Hegemonie konkurrierender Staat werde - auch nicht unter schiitischer Herrschaft. Demgegenüber wurde in der ,Asia Times` vom 3.März eine Spur zu den USA selbst gelegt. Es wurde dort nicht einfach die Argumentation des Großayatollah Ali Sistani wiederholt, der die USA angeklagt hat, weil sie ihrer mit der Besetzung des Landes übernommene Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, nicht erfülle. Vielmehr wies die Zeitung einerseits auf die Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit dem angeblichen Dokument Az-Zarqawis hin, aber auch darauf, dass schon vor einiger Zeit in der ,New York Times` aber auch in anderen konservativen Blättern wie dem französischen ,Le Figaro` Artikel erschienen sind, die sich für eine Aufteilung des Landes in einen schiitischen Süden, ein sunnitisches Zentrum und einen kurdischen Norden stark machten. Dem lag die alte britische Kolonialmaxime des ,devide and rule` zu Grunde. In der Tat hat auch einen Tag nach den Attentaten der Vertreter der britischen Regierung im Irak, Jeremy Greenstock, die Notwendigkeit bekräftigt, dass angesichts der Lage die britischen Truppen noch mindestens zwei Jahre in ihrer ehemaligen Kolonie bleiben müssten. Frankreichs Außenminister Dominique de Villepin allerdings vertrat die Meinung, es sei "unmöglich, dass im Irak die Sicherheit wieder hergestellt werde, solange das Land besetzt bleibt". Wenn man ein Interesse an einer nachhaltigen Schwächung des Iraks Überlegungen über die Urheberschaft der Attentate zu Grunde legt, kämen neben den genannten Kräften schließlich auch die in diesem Zusammenhang interessanterweise bislang noch nicht beschuldigten Kurden oder Israel in Frage. Ein Bürgerkrieg innerhalb der arabischen Bevölkerungsmehrheit Iraks könnte von den sich wachsender Unterstützung erfreuenden kurdischen Kräften, die für eine völlige Loslösung vom schließlich erst nach dem ersten Weltkrieg geschaffenen Irak eintreten, als eine Möglichkeit verstanden werden, ihrem Ziel näher zu kommen. Das israelische Interesse an der Schwächung eines jeden arabischen Staates in der Region bedarf
keiner weiteren Erläuterung. Das schließliche Ergebnis solcher Bemühungen könnte jedoch ein völlig anderes sein als das beabsichtigte. Es ist auffallend, dass sich nicht nur alle bekannten politischen Kräfte im Land sofort und bislang erfolgreich bemüht haben, die Massen zur Ruhe aufzufordern und gegen jede Form religiösen Sektierertums aufgetreten sind. Die Schuldzuweisung an Kräfte von außen gehört zu den Mitteln, die nationale Einheit zu stärken. Gleichzeitig sind sowohl in Fallujah, einer sunnitischen Stadt, die eine Hochburg des bewaffneten Widerstands gegen die Besatzer ist, und im vom schiitische Al-Kadhimiya nur durch den Tigris getrennten sunnitische Stadtviertel Al-Adhamiya Tausende von Bürgern, hier in Baghdad insbesondere auch die Mitglieder von Jugendgangs, die sich in der Vergangenheit mit entsprechenden Banden aus Al-Kadhimiya immer wieder Schlachten geliefert hatten, den Aufraufen aus den Moscheen gefolgt und
haben Blut für die Opfer gespendet oder kostenlose Taxidienste organisiert.

Die Attentate könnten somit letztlich die nationale Einheit stärken und verstärkt gegen die ausländische Besatzung ausrichten.