Rede von und Diskussion mit Asmib Bshara

26.09.2001

Die Gewalt ist Besatzung und ein Widerstand gegen die Besatzung ist Widerstand gegen die Gewalt
Am 15. September 2001 befand sich der arabische Knesset-Abgeordnete Asmib Bshara auf Einladung der Palästinensischen Gemeinde in Wien, um einen Vortrag über die aktuelle Situation der Palästinenser zu halten. Wir drucken im Folgenden seine Rede im Wortlaut ab.

Ich weiss, wie schwierig die Situation jetzt in Europa ist. Ich komme aus einem Land, das schon lange Zeit behauptet ein Opfer des Terrorismus zu sein. Und jetzt nach dem Verbrechen in Manhattan, will dieser Staat keine Lehre ziehen. Er will nur, dass die Welt ihre Lehren zieht. Angesichts der Sympathien, der Trauer und der Mitgefühle, die manchmal echt sind, da können wir nicht mit Vorwürfen kommen, dass ein Tod photographiert wird und der andere nicht. Das ist die Wirklichkeit, genauso wie die Mitgefühle, auch wenn sie durch Fernsehbilder, durch ein Mediendrama, erzeugt werden. Die Medien sind ein Teil unseres Lebens, und so erhalten die Toten von Ruanda und Burundi diese Aufmerksamkeit nicht und erregen nicht solche Mitgefühle. Es ist auch Wirklichkeit, dass der Tod von einigen tausend Amerikanern die Weltgeschichte mehr verändert als der Tod von hunderttausenden Menschen in Ruanda und Burundi. Das ist ein Teil unserer Welt. Wir müssen das klar sehen und auch in Betracht ziehen, wenn wir Politik machen wollen. Und trotz des echten Mitgefühls - das habe ich vorgestern im israelischen Fernsehen auf hebräisch gesagt - habe ich eine Euphorie in Israel gespürt, eine Euphorie, die zeigte, dass sich in Israel viele Leute bestätigt fühlten. Dass der Tod so vieler Amerikaner Israel eine Bestätigung gibt, bedeutet, dass etwas in Israel falsch liegt - in der israelischen Politik und in der Art und Weise wie Israel es selbst hasst, ein ewiges Opfer zu sein. Die einzige Lehre, die Israel der Welt nach den Ereignissen in New York und Washington vorgeschlagen hat, ist die: Es gibt gut und böse und das Böse ist der Terror und das Gute ist der Rest der Welt, und die Hauptkategorie in den internationalen Beziehungen in den letzten 30 Jahren sei der Terrorismus gewesen. Jetzt ist Israel buchstäblich froh, dass die USA überzeugt ist, dass die Kategorie, die die internationalen Beziehungen regeln soll, der Terrorismus ist. Da gibt es keine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Gewalt, keine Differenzierung zwischen legitimem Widerstand und Terrorismus. Und das Wort Staatsterrorismus verschwindet, denn die Staaten sind jetzt von der USA aufgerufen sich gegen die inoffizielle Gewalt der Terroristen zu vereinigen.

Das ist wie die bekannte Geschichte von Alexander dem Großen, dem Makedonier, der einen Piraten gefangen hatte und ihn dann fragte: "Woher nehmen Sie die Frechheit mit Ihrem Schiff so viel Zerstörung anzurichten und mein Königtum zu attackieren ?" Und der Pirat antwortete dem Imperator: "Ich mache das mit einem kleinen Schiff, darum werde ich Pirat genannt. Sie aber tun das mit einer großen Flotte und darum sind Sie ein Imperator."

Das Wort Terrorismus, wenn es undifferenziert verwendet wird, bedeutet gar nichts. Differenziert – ja, da bin ich bereit das Wort zu verwenden. Manche Arten von Gewalt, die gezielt gegen Zivilisten und politische Errungenschaften gerichtet sind, sind auch für mich Terrorismus. Ich akzeptiere das nicht nur, sondern ich verurteile auch diese politische Methode des Kampfes. Meiner Meinung nach gibt es keine gerechte Sache, die gezielten Mord an Zivilisten legitimiert. Aber manchmal machen das Staaten, manchmal Organisationen. Wenn wir schon das Wort Terrorismus benutzen wollen, müssen wir auch sehen, dass es Staatsterrorismus gibt. Die USA hat Phnom Penh, Hanoi, Bagdad, Beirut zerstört, sie hat Dresden im 2. Weltkrieg in einer unvorstellbaren Art und Weise zerbombt, und sie hat, um den 2. Weltkrieg zu beenden, Hiroshima und Nagasaki zerstört. Das war gezieltes Töten von Zivilisten. Und die USA hat auch den Tod von tausenden Zivilisten in Chile, Nicaragua oder Kolumbien zu verantworten.
Das sage ich nicht, um diese verbrecherische Aktion in New York und Washington zu legitimieren. Wir als Zivilisten, als Völker, die selbst unter solchen Attacken leiden, wir können auch Mitgefühle mit amerikanischen Zivilisten haben - als Opfer können wir Mitgefühle mit den Opfern haben. Nicht nur das. Unsere politische Ansicht ist, dass solche Methoden, solche Mittel im Kampf, nicht zielführend sind – wenn das ein Kampf ist, denn ich weiß nicht, welchem Kampf und welchem strategischen Ziel es dient, das World Trade Center zu zerstören. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt. Niemand hat unsere Völker gefragt, ob das Methoden sind, die wir anwenden wollen. Wir haben weder politisch noch moralisch etwas damit zu tun. Im Gegenteil. Für uns bedeutet es aber wahrscheinlich politisch insofern etwas, als Israel in Euphorie ist. Und wenn die USA so einfach den Rest der Welt überzeugen kann eine Koalition gegen den Terrorismus zu bilden, dann kann das nichts positives sein. Daraus kann nichts positives für die leidenden Menschen und Völker dieser Welt, besonders für die Palästinenser, entstehen. Sie bemerkten in den Tagen nach dieser Aktion sofort, dass Sharons Spielraum noch größer wurde als einige Tage vorher. Zwölf Menschen wurden durch das Bombardement von Jenin "am Tag danach" ermordet. Darüber wurde nicht berichtet. Wer hat davon gehört, dass Gaza bombardiert wurde?

Es ist eine Tatsache, dass Sharon, der noch vorige Woche für ein Treffen mit Arafat war, jetzt noch mehr Bedingungen stellen kann, damit Arafat in dieser Antiterrorismuskoalition akzeptiert und salonfähig wird. All das ist wichtig, aber Israel hat der USA ein Geheimnis, um das es mehr weiss als alle anderen, nicht mitgeteilt. Israel hat schon lange darum gekämpft, dass die USA die Kategorie des Terrorismus als Hauptkategorie in den internationalen Beziehungen akzeptiert. Jetzt kann Israel schreien, dass sie das schon immer gesagt haben, und dass die USA jetzt selbst erlebt, wie sich Israel fühlt. Aber etwas hat Israel den Vereinigten Staaten nicht mitgeteilt, nämlich dass sie schon lange mit diesem sogenannten Feind Terrorismus kämpfen und noch immer keine Lösung dafür haben. Sie ziehen die USA und den Rest der Welt in eine Sackgasse hinein, denn die Methoden, die Israel benutzt hat, um diesen sogenannten Feind zu bekämpfen, waren bis jetzt nicht erfolgreich. Wenn die einzige Lösung zur Bekämpfung des sogenannten Terrorismus der antiterroristische Kampf ist, dann erzeugt das nur noch mehr Terrorismus. Das ist keine Lösung. Wenn es so etwas wie Terrorismus gibt und wenn wir diese Kategorie überhaupt rhetorisch akzeptieren, dann ist Terrorismus nur ein Symptom von vielen, vielen Arten von Ungerechtigkeiten. Die Palästinafrage ist nicht die einzige dieser Ungerechtigkeiten. Wir Palästinenser neigen dazu das Leiden zu monopolisieren. Das haben wir von den Juden angenommen, die so eine Haltung vermitteln.

Es gibt verschiedenste Formen von Ungerechtigkeiten und Leiden in der Welt und sie alle produzieren Gewalt – verzweifelte Gewalt, frustrierte Gewalt. Das geschieht überall in der Welt, nicht nur in Palästina, nicht nur in der islamischen Welt.

Wenn wir die Metapher von den Kamikaze Flugzeugen benutzen wollen: Kamikaze ist ein japanisches Wort und es hat eine Bedeutung, über die viele gar nicht nachdenken. Seine Bedeutung im japanischen ist der "divine wind", der Sturm Gottes. Der Begriff wurde schon 1285 benutzt, als eine mongolische Flotte, die Japan angriff, in einem Hurrikan sank. Im 2. Weltkrieg bezeichneten die Japaner die Flugzeuge, die die amerikanische Flotte bekämpfen sollten, als Kamikaze Flugzeuge. Diesen Begriff verwendeten sie aber erst, als sich die Niederlage im Jahre 1944 abzeichnete. Im Oktober 1944 flog der erste Kamikaze, und dann gab es Hunderte von ihnen. In einem Fall, in Okinawa, töteten sie 5000 amerikanische Soldaten. Und am Ende, als Japan die Niederlage erlitten hatte, gab es die Atombomben. Jedenfalls, die Selbstmordaktionen der Verzweiflung am Ende des Krieges, nicht am Anfang, nicht von Hoffnung getragen, sondern am Ende der Hoffnung, sind nicht ein Teil der islamischen und arabischen Kultur oder der palästinensischen Tradition des Kampfes.

Einmal sollte ich für die New York Times einen Artikel schreiben. Es war in der Anfangszeit der Selbstmordattentate der Palästinenser und sie wollten eine Analyse. Ich war damals noch nicht Knessethmandatar. Ich schrieb den Artikel und übertitelte ihn mit "Samson´s Option", weil die erste Selbstmordaktion um andere zu vernichten, im Alten Testament positiv bewertet wird, nicht im Islam, nicht im Christentum. Samson ist der erste in der Geschichte, der sich selbst tötete, um andere zu töten. Und das ging in den Ethos der monotheistischen Religionen ein. Es ist nicht etwas Islamisches, denn es gibt in der Theologie des Islam keine Huldigung von Selbstmord, der begangen wird, um andere zu töten. Das war für uns etwas Neues, das aus dem Libanon kam. Die erste Partei, die ein Selbstmordattentat ausführte, war keine islamische sondern die Syrische Soziale Partei. Die erste Selbstmordattentäterin war eine Frau. Sie war säkular, sie war keine Fundamentalistin. Dann wurde diese Methode erfolgreich von der Hisbollah im Libanon gegen die ersten militärischen Basen der Amerikaner im Libanon angewendet. Nach Palästina kam dieses Gedankengut erst sehr spät. Es hat keine Tradition in unserer Kultur oder Zivilisation, und somit ist der jetzige Kampf kein Kulturkampf, wie Mr Huntington behauptet. Und ich sage hier meinen palästinensischen Brüdern und Schwestern und meinen österreichischen Brüdern und Schwestern, dass sie klar in der Öffentlichkeit vertreten können, dass es sich hier um keinen Kulturkampf handelt. Es gibt jedenfalls keine selbstmörderische Kultur bei uns. Die islamische und arabische Kultur hat auch keinen McFay erzeugt, keinen George Corosh und keinen James Jones, der 1978 zusammen mit 800 Leuten in Georgetown / Guyana, kollektiven Selbstmord beging. Das waren fundamentalistische Christen.

Es ist also kein Kampf zwischen Kulturen, sondern ein Kampf zwischen den Marginalisierten der Welt und den Zentren, die die Globalisierung erzeugt hat. Und ich hoffe, in unser aller Interesse, dass dieser Kampf nicht auf diese Art und Weise geführt wird, nicht nur, weil es unmoralisch und verbrecherisch ist so gegen Zivilisten vorzugehen, sondern weil das keine Alternative für unsere Gesellschaft in der Dritten Welt ist. Diese Leute, die das World Trade Center zerstört und so viele Menschen getötet haben, haben uns keine Alternative anzubieten. Was schlagen sie unseren arabischen und palästinensischen Jugendlichen für die Zukunft der arabischen Gesellschaft vor? Es ist kein Programm. Auch als Opposition gegen die Weltordnung ist diese Alternative kein Programm. Sie ist ein Teil der Weltordnung, denn diese Art von Gewalt integriert sich sehr gut in diese Weltordnung. Sie erzeugt eine noch ungerechtere Weltordnung von Staaten, die sich gegen den Terrorismus zusammenschließen, und darum haben wir ein Problem damit. Die Intifada hat damit nichts zu tun, höchstens vielleicht - so wie die gesamte Palästinafrage - auf eine sehr indirekte Art und Weise. Also, als die Selbstmordattentäter zu planen begannen – im Mai 2000, wie vom FBI behauptet wird – hatte die Intifada noch gar nicht begonnen.

Sie (das Publikum) führen jetzt sehr viele Diskussionen und Debatten, in Zukunft vielleicht noch mehr, so wie die Araber in den Vereinigten Staaten. Deshalb sollten Sie auch wissen, dass die Araber in ihrer Geschichte nicht anti-amerikanisch waren. Sie waren anti-britisch, anti-französisch, aber nie anti-amerikanisch. Die USA hatte in unserer modernen Geschichte keine koloniale Tradition, und die Araber – Intellektuelle, Eliten, Politiker, sogar die freien Offiziere – suchten am Anfang ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten im Kampf gegen die Briten und Franzosen. Sie haben an Woodrow Wilsons 14 Punkte vom 1.Weltkrieg geglaubt. Sie haben an den American Way of Life geglaubt und auch Zuflucht in Amerika gefunden. Es gibt nicht umsonst drei Millionen Araber in der USA. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches sind viele arabische Nationalisten, besonders Palästinenser, aber auch Libanesen und Syrer, nach Amerika gegangen. Sie haben an das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach dem 1.Weltkrieg geglaubt. Die arabische Nationalität ist die erste, die dieses Konzept begriffen hat. Sie haben die Woodrow Wilson Doktrin gegen Frankreich und Großbritannien benutzt um die Teilung Syriens zu verhindern. Unser internationales Rechtsmittel waren die Woodrow Wilson Prinzipien, also amerikanische Prinzipien. Es gab damals weder Linke noch Rechte, die Sowjetunion war erst im Entstehen, und die arabisch-nationalistische Bewegung war am Anfang anti-sowjetisch und anti-kommunistisch.

Der Antiamerikanismus in der pathologischen Art und Weise, wie wir ihn jetzt erleben, ist ein Phänomen der siebziger Jahre. Die Situation änderte sich nach 1967. Erstens brach die USA den Dialog mit den arabischen Ländern über das koloniale Erbe ab, weil sie selber das koloniale Erbe nach Frankreich und Großbritannien antreten wollte. Zweitens, nach 1967 wurde die Unterstützung für Israel im Gegensatz zu vorher bedingungslos. Im Jahr 1956 noch hat die USA Israel befohlen, sich aus Sinai zurückzuziehen. Nach 1967 verstand die USA, dass Israel ein strategischer Stützpunkt ist, und nach 67 wurden auch die jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten zionistisch organisiert. Jetzt hatte die USA auch die politische Ideologie des Zionismus, die mystische politische Ideologie der Siedler, adoptiert. Drittens, es setzte sich eine konsequente, schamlose, rassistische Überzeugung, die das Bild von der arabischen Welt prägte, in der hegemonialen Kultur der USA durch. Die Araber wurden die Teufel dieser Welt. Hollywood, die USA Kultur, tat das ihre um das negative Bild der Araber zu erzeugen und zu verbreiten. Und darum haben wir jetzt, als wir diese Bilder im Fernsehen sahen, alle geglaubt, wir seien in einem Film. Es gab solche Hollywood Filme mit einem Schwarzenegger auf einem Wolkenkratzer, der gegen das Flugzeug ankämpfte. Aber diesmal es gab keinen Schwarzenegger oder Rambo, es gab nur einen sehr blassen George Bush in seinem Fluchtort, der behauptete, dass das eine Aktion von Feiglingen gewesen sei. Man kann über diese Aktion alles sagen, nur nicht, dass sie von Feiglingen durchgeführt wurde.

Wir dürfen jetzt auch nicht in den Fehler verfallen, die Medien zu unterschätzen. Nein - Images, Bilder, Symbole und Normen werden durch die Medienkultur erzeugt und weltweit ist heute die hegemoniale Kultur die amerikanische.. Und dort spielt der Araber, besonders der arabische Mann, eine sehr negative Rolle. Das bemerken wir auf jedem Flughafen, nicht nur in Israel.

Also, die genannten drei Faktoren haben zu einem starken Antiamerikanismus geführt. Das Fehlen von politischen Alternativen, der Zerfall der alten Ideologien, der Zerfall des arabischen Nationalismus mit seiner aufgeklärten Ideologie, sowie die Krise der linken und rechten Opposition in der arabischen Welt und der Krise des arabischen Staates haben zu unserer Machtlosigkeit gegenüber Israel geführt. Das Ventil für diese Frustration sind verschiedene Arten von Fundamentalismen – aktive, passive, politische, unpolitische – sind auch Reaktionen, wie wir sie jetzt erlebt haben. Alle diese Fragen werden uns noch ausführlich beschäftigen, denn wir sind, wie 1991 nach dem Golfkrieg, in einer neuen Phase.

Nun noch einige Worte über die Situation in meinem Land: Die Tatsache, dass der Zorn von George Bush jetzt so erregt wurde, wird unser Problem nur komplizierter machen. Aber unsere Probleme werden trotz Manhattan bestehen bleiben, weil die Palästinafrage keine Metapher ist sondern eine ganz reale Frage, die ganz konkrete Menschen betrifft, die leiden. Wir reden und wiederholen so viel, besonders in der offiziellen palästinensischen Politik. Dort denken sie, die Graduierten der Palästinapolitik, gefangen in ihren eigenen Parolen, manchmal, dass es sich nicht um eine echte Frage und um echte Menschen handelt. Aber es geht um reale Menschen, die wirklich leiden. Die Aqsa-Intifada ist auch keine religiöse Frage; das ist eine ganz reale irdische Frage mit irdischen Menschen. Symbole sind da in dem Kampf, Religion ist wirklich für Menschen, die daran glauben. Aber vergessen Sie nicht: Es geht um Menschen, die gute Gründe dafür haben auf die Strasse zu gehen und Widerstand zu leisten. Daran wird der Zorn des Herrn Bush nichts ändern.
Ich weiss, dass für die wirklichen, konkreten Menschen in Gaza und der Westbank die Palästinafrage und die Frage, wie man am nächsten Tag zur Arbeit geht, oder die Checkpoints, die Hauptfragen bleiben. Dazu gehört auch die Tatsache, dass so viele Menschen, auch tausende Jugendliche, im Gazastreifen ihr Land in den letzten 12 Jahren nicht verlassen konnten, oder dass der Süden der Westbank vom Norden getrennt ist und alle beide von Jerusalem und oft ein Dorf vom anderen. Es gibt 64 geschlossene Militärzonen im Gazastreifen und in der Westbank. Das bleibt die Hauptsache für die einfachen Menschen dort, trotz der Nachrichten von CNN, und darum werden sie weiterkämpfen.

Seit letzter Woche ist ihr Kampf schwieriger geworden. Weniger Menschen werden davon hören und Israel wird kurzfristig mehr Unterstützung haben. Aber eines ist klar: Die Palästinafrage kann nicht nicht mit den Methoden von Sharon oder Shimon Peres oder Barak, der alles mit seinem Camp David Abenteuer ausgelöst hat, gelöst werden, weil ein Element in ihrem Denken fehlt. Aber das ist ein schicksalsschweres Element, denn es ist das Element der Gerechtigkeit. Man kann das Problem nicht lösen, wenn man von einem Gleichgewicht der Kräfte ausgeht. Das Gleichgewicht der Kräfte, und das ist die Oslo Logik, produziert Diktate der Mächtigen gegen die Schwachen und nichts anderes. Es gibt ja andere Elemente, die angeführt werden müssen in diesem Konflikt. Was ist mit dem Element der Gerechtigkeit? Wir Realisten unter den Palästinenser meinen relative Gerechtigkeit, weil es keine absolute Gerechtigkeit gibt. Wenn wir über die Grenzen vom 4. Juni 1967 reden, reden wir über relative Gerechtigkeit, weil das 22% von Palästina sind, einschließlich Ostjerusalem, das Teil der Westbank ist. Wie alle anderen Orte der Westbank und Gaza wurde Ostjerusalem 1967 erobert.

Die Begriffe, die in Europa und in der USA verwendet werden, um die Situation zu analysieren, sind sehr wichtig für die Analysen und Ergebnisse der Analysen. Ich war vier Tage in Durban auf der Antirassismuskonferenz wegen dieses Themas. Und ich glaube meine Arbeit war einflussreich, wenigstens für die NGOs. Es ist sehr wichtig um Begriffe zu streiten. Wenn die Palästinafrage "Konflikt im Nahen Osten" genannt wird, führt das schon zu anderen Ergebnissen als Gerechtigkeit. "Konflikt in Nahen Osten" klingt so als wäre das ein Konflikt zwischen Staaten, wo ein Krieg mit Kräftegleichgewicht die Angelegenheit regelt. Im Krieg gibt es Gewalt von beiden Seiten. Dieser Begriff suggeriert Symmetrie. Aber die Beziehung zwischen Palästinensern und Israelis ist nicht symmetrisch und die Gewalt ist nicht symmetrisch – es gibt kein Kräftegleichgewicht. Da wäre auch der amerikanische Begriff "cease of violence", also "Stop der Gewalt". Was heißt "Gewalt stoppen"? Da wird wieder einfach von zwei Seiten, die in Gewaltaktionen gegeneinander involviert sind, ausgegangen. Das ist wieder symmetrisch. Es gibt aber keine Gewalt von beiden Seiten. Ich möchte das Wort "Gewalt" gar nicht verwenden, denn es gibt Okkupation und Widerstand. Das sind die Worte von nationalen Befreiungsbewegungen. Und wenn die Leute auf dem Wort "Gewalt" beharren wollen, sage ich: Die Gewalt ist die Besatzung und ein Widerstand gegen die Besatzung ist ein Widerstand gegen die Gewalt. So verstehe ich Befreiungskampf und das sind die Begriffe, die ich verwende.
Es ist auch sehr wichtig der Weltöffentlichkeit die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Israel und dem Apartheidsystem in Südafrika zu erklären. Es ist wichtig, weil das Wort "Apartheid" so negativ besetzt ist, dass es in den Weltsprachen nicht übersetzt wurde. Es blieb ein Afrikaanerwort – man sagt "Apartheid" auf französisch, auf deutsch und auf englisch. Keine Sprache wollte dieses Wort beherbergen. Apartheid ist trotzdem nichts Einmaliges. Übersetzt bedeutet es direkt aus dem Afrikaans übersetzt "Gesondertheit", aber inhaltlich "institutionalisierte Rassentrennung". Israel hat schon seit der Gründung Apartheid-Elemente: Die Vertreibung der arabischen Bewohner im Jahr 1948, die Militärgesetze gegen die arabischen Bewohner vor 1967 und die heutige Politik in den besetzten Gebieten, dem Gaza-Streifen und Westjordanland. Israel will keine Annexion der besetzten Gebiete, wo für die Siedler ohnehin israelische Gesetze gelten, weil dann zu viele Araber mitannektiert werden, aber auch keinen Rückzug. Also keine "namibische" Lösung und auch keine südafrikanische. Diese Politik, die weder Annexion noch Trennung will, ist eine Apartheidpolitik. Das habe ich auch in Durban gesagt. Die Araber haben die gleiche Art von Pässen, die für schwarze Südafrikaner ausgestellt worden waren. In Südafrika war es zumindest genau geregelt, wo und wie ein Schwarzer reisen kann. In Palästina aber weiß ein Araber nicht, ob er morgen zur Arbeit gehen kann. Ich als Parlamentsabgeordneter kriege Tag und Nacht Anrufe, um z. B. dabei zu helfen, eine Braut über eine Militärsperre zu ihrem Bräutigam zu bringen. In Südafrika war so was sogar einfacher gewesen, weil es "geregelt" war. Kleine politische Kalküle israelischer Politiker kann das Alltagsleben der Palästinenser gravierend beeinträchtigen.

Wir als Palästinenser dürfen die Realität nicht aus den Augen lassen und müssen politisch alles genau kalkulieren. Dieser Kampf ist nicht romantisch. Im Gaza-Streifen gibt es nichts Romantisches. Es ist nicht human, für "die Sache" zu Leben. Wir wollen besser leben, aber die Regierung in Israel gibt den Palästinensern keine politische Alternative, als weiter zu kämpfen und "für die Sache zu leben". Dies gilt für alle, ob "radikale" oder "gemäßigte". Sharon ist der letzte Schuss im israelischen Gewehr. Wenn alle seine brutalen Repressionsmethoden nichts bringen, werden die israelischen Politiker vielleicht daran denken müssen, dass ohne Gerechtigkeit keine Lösung möglich ist.

Weitere Diskussion mit dem Publikum

Frage: Wer, Ihrer Meinung nach, könnte hinter dem Attentat in New York stehen? Was für Auswirkungen wird das Attentat auf die amerikanische Außenpolitik haben?

Was Täter betrifft, sind viele Konspirationstheorien aufgetaucht. Man muss aber bedenken, dass eine konspirative Theorie in diesem Fall nicht hineinpassen kann: Die Tat ist über langer Zeit geplant worden, kann also nicht von schon beobachteten Leuten durch geführt worden sein. Das ist, glaube ich, was neues, eine neue Organisation. Ob diese Kräfte Beziehungen mit Staaten haben, weiß ich nicht, aber jedenfalls sind das neue Kräfte. In Saudi Arabien gibt es nicht nur Erdöl und Scheichs. Die saudiarabische Öffentlichkeit ist zu einer der wichtigsten der arabischen Welt geworden. Man muss hier auch auf die Qualität der Täter hindeuten. Sie waren gebildete Menschen und hatten ein gutes Leben. Sie waren also ideologische Leute, die sich mit so einem Bildungsniveau wahrscheinlich nicht von irgendwelchen Scheichs befehlen lassen. Sie lebten vermutlich zwei Jahre mit der Selbstmordidee und sind nicht aufgrund emotionaler Aufregung plötzlich dazu gekommen. Das ist ein neues Phänomen, das verdient, studiert zu werden. Auch die japanischen Kamikaze waren die besten Piloten.
In den USA und in Israel denken sie nicht über die Gründe nach, die Menschen zu so etwas bringen. Sie wollen nur irgendwo bombardieren. In Afghanistan gibt es laut afghanischem Außenminister (was ist übrigens sein Name? Für die Medien hier haben die Taliban scheinbar keine Namen!), gibt es in ganz Afghanistan kein einziges Gebäude, das den Wert einer Thoma Hock-Rakete hat. Jedoch ist der Feind überall verteilt. Was werden sie dagegen tun? Außer einer Koordination von Geheimdiensten kommt hier nichts vernünftiges in Frage. Die CIA-Attentate wurden vom ehemaligen Präsidenten Carter gestoppt. Sie können viel tun, aber auch das hat bis heute nicht geholfen. Sie werden sich fragen müssen: Warum?

Die Bewegung gegen die Normalisierung zwischen den arabischen Ländern und Israel ist ein wesentlicher Teil der Opposition gegen die Regierungen. Einige Strömungen neigen aber auch dazu, "israelische" Araber zu boykottieren und machen Ihnen auch Vorwürfe, selbst ein Abgeordneter im israelischen Parlament zu sein (und dementsprechend Treue für den Staat geschworen zu haben). Was sagen Sie dazu?

Man muss unsere Realität als Araber in Israel betrachten: Wir waren 150 000 Araber, die nach der Staatsgründung im Jahr 1948 im Land geblieben sind und deren Existenz "toleriert" wurde, weil sie nicht viele waren und marginal in kleinen isolierten Dörfern lebten. Israel dachte, es wäre einfach, diese zu kompromittieren. Sie wurden als Stämme betrachtet und nicht als eine Nationalität. Dieser Auffassung nach bräuchte der Staat nur treue Stammeshäuptlinge, um diese "Stämme" zu kontrollieren. Heute gibt es einem Million Araber in Israel (dazu kommen auch 150 000 im einseitig annektierten Ostjerusalem). Sie machen 25 % der Bevölkerung aus und 14% der Wahlberechtigten (weil viele noch unter 18 sind). Sie stehen heute auf einem Scheideweg. Es läuft eine heiße Debatte unter den arabischen Kräften. Wir sind nicht alle der gleichen Meinung. Die Abgeordneten haben verschiedene Meinungen. Im Kernpunkt sind die widersprüchlichen Fragen:
…· Die zivile Identität als Israelis,
…· Die nationale Identität als Araber und
…· Die Gleichberechtigungsfrage.
Vom Staat wird von ihnen bei jedem Anlass verlangt, Treue zu zeigen.
Meine Partei ist national-demokratisch. Wir sind Palästinenser, aber wir wollen unsere Rechte als israelische Staatsbürger haben, weil wir auf unserem Land leben und dort Gleichheit haben wollen. Meine Strömung boykottierte die Wahlen bis 1996, während alle, einschließlich der Islamisten, an den Wahlen teilgenommen haben. Die Frage der Legitimität Israels ist aber auf dieser Weise nicht realistisch, denn unser Boykott schwächte die arabische Bewegung. Weil wir nicht da waren, wählten die Araber zionistische Parteien wie die Labor-Partei oder Meretz. Sollen wir dann das ganze Volk als Verräter bezeichnen? Die Leute haben normale Probleme und brauchen Vertreter, und das geht nur im Parlament.
Ein Araber zu sein ist keine Ideologie, sondern eine Zugehörigkeit. Die Alternative wäre die religiöse Identität oder die Stammesstruktur. Die Europäer haben das hinter sich (sind also postnational), wir aber haben es noch vor uns. Es ist absurd zu sagen: Mein Vater war Araber und ich bin Israeli! Daher sagen wir: Wir sind Palästinenser.
Die Frage nach der Normalisierung ist keine unwichtige Frage. Sie drückt die arabische Opposition gegen Beziehungen mit Israel aus (besonders in Ägypten und Jordanien). Alle soziale Fragen finden hier ihren Ausdruck. Die arabischen Völker drücken darin ihre Ablehnung jeder Unterdrückung, unter der sie durch die Regierungen leiden, aus. Wegen der politischen Repression wird alles in der Normalisierungsfrage artikuliert, was den Begriff ein wenig belastet. Die Palästina-Frage ist eine Nationalfrage. Sie ist aber auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Demokratie in der arabischen Welt. Wenn wir die Solidarität der arabischen Völker fordern, müssen wir auch bedenken, dass auch diese unsere Solidarität brauchen. Die Bewegung gegen politische und wirtschaftliche Normalisierung ist berechtigt und notwendig, aber darf nicht totalitär werden. Wir müssen doch den Juden was sagen! Haben wir den Juden einfach nichts zu sagen? Keinen Vorschlag für die Zukunft?! Ein Beispiel falscher Tendenzen ist die Ablehnung einiger arabischen Schriftsteller, ihre Bücher ins Hebräische übersetzen zu lassen, was eigentlich von fortschrittlichen Israelis vorgeschlagen worden war.

Wenn sie uns Araber boykottieren wollen, dann ist es schon wahnsinnig. Mit mir ist das bisher nie passiert. Vielleicht weil ich als Nationalist gelte. Aber solche Araber, die wirtschaftlich zwischen Israel und den arabischen Ländern vermitteln wollen, kann man ohnehin als Verräter boykottieren. Verräter gibt es auch unter uns, daher muss man differenzieren. Das war schon ein Fehler, dass Brücken zwischen den Arabern und Israel nicht schon früher errichtet wurden.

Die Araber in Israel und in den besetzten Gebiete vermehren sich schneller als die jüdischen Bewohner des Landes und gelten als demographische Bombe. Kann das ein Zeichen sein, dass der von den Zionisten beanspruchte jüdische Charakter des Staates in der Zukunft verschwinden wird und mit ihm die rassistische Politik. Das heißt wird es dann nicht in Richtung eines demokratischen Staates in ganz Palästina gehen?

Die Linkszionisten wollen einen palästinensischen Staat, um diese demographische Bombe zu vermeiden und die Araber zu trennen. Aber der Staat, den sie vorschlagen, unterscheidet sich nicht viel vom Apartheid-Staat. Wir sind für einen unabhängigen Staat, aber zu unseren Bedingungen. In Palästina ist die Demographie bestimmt ein wesentlicher Aspekt in der Politik, soll aber nicht als "ein Kampf" gelten. Heiraten und Kinder kriegen ist kein politischer Kampf! Vergessen wir auch nicht, dass die Schwarzen in Südafrika längst eine Mehrheit waren, ohne dass sie ihre Rechte erhielten. Diese Linkszionisten wollen die demographische Last loswerden und wir wollen dies ausnützen, um die aktuellen Forderungen der Palästinenser zu erfüllen. Heute entwickelt sich in Israel eine neue undemokratische Kultur, die eine Vertreibung der Araber fordert. Das fordern viele rechte Parlamentarier ganz offen im Parlament! Andere von "links" und rechts meinen, dass die Araber da bleiben dürfen, aber nicht als Staatsbürger, sondern als Ausländer. Sie nennen uns "ein demographisches Problem" und das tut auch die Linke. Kein Volk der Erde mag so betrachtet werden. Wir sind aber die ursprüngliche Bevölkerung dieses Landes und wollen mit den anderen zusammenleben, aber ohne dass wir uns stets gegenseitig abzählen. Unser Kampf richtet sich gegen die israelische Politik und nicht gegen Juden. Es muss eine scharfe Trennung zwischen "Antiisraelisch" und "Antijüdisch" geben.

Glauben die Palästinenser, ihrer Meinung nach, an die arabische Dimension der Palästina-Frage? Wie betrachten sie den erwarteten Besuch Arafats in Syrien?

Die Palästinenser glauben nicht, und dürfen nicht glauben, dass sie ohne den arabischen Rückhalt Israel besiegen oder mit Israel leben können. Auch die Flüchtlingsfrage kann nicht ohne die arabische Welt gelöst werden. Der Anteil Syriens ist sehr notwendig. Wir wissen, dass Syrien (auf die gleiche Art wie Ägypten in Camp David) die Golan-Höhen durch einen Friedensvertrag mit Israel zurückbekommen kann. Das wollen die Syrer aber nicht, weil sie dies ohne eine Lösung der Palästina-Frage nicht akzeptieren können. Die Differenzen in den palästinensischen und syrischen Standpunkten müssen überbrückt werden. Der Besuch Arafats in Damaskus wurde wegen der letzten Ereignisse in New York verschoben. Arafat will aber nach Damaskus gehen und er steht deswegen unter Druck. Die Syrer wollen dies aber auch und es wird seit zwei Jahren vermittelt. Was die arabische Dimension betrifft, kann ich nur sagen, dass es so was nie gegeben hat. Syrien wollte nie eine absolute Kotrolle über die palästinensische Landkarte haben. Die offiziellen Palästinenser haben vielleicht eine andere Sichtweise, aber es gibt heute neue Tatsachen und die Koordination mit Syrien ist eine Notwendigkeit. Nur eine palästinensisch-syrisch-libanesische Friedensinitiative, die von Ägypten und Jordanien unterstützt wird, kann einen gerechten Frieden bringen. Ich weiß, wie schwierig so etwas ist, aber wir müssen künftig daran arbeiten.