Konzepte für eine zeitgenössische (feministische) Ökonomie

14.01.2013
Von A.F.Reiterer
12. Jänner 2013

1. Um den Zweiten Weltkrieg herum wurden einige simple Überlegungen zum Wirtschafts-Wachstum formalisiert, die man später das Harrod-Domar-Modell nannte 1 (Harrod 1939, Domar 1945). Die Grundaussage ist trivial: Hat man eine bestimmte Produktions-Funktion, also eine techno-ökonomische Kombination aus Arbeit und „Kapital“ (Produktions-Mitteln), so findet Wachstum nur statt, wenn mehr „Kapital“ (Netto-Investition) eingesetzt wird. Über Arbeit machte man sich nach der Arbeitslosigkeit in der Großen Krise wenig Gedanken, die galt als quasi-unbegrenzt verfügbar. Aber Kapital kostet und ist ein Engpass. Die Kritik setzte sofort ein; doch ist dies im Grund bis heute die Basis von Entwicklungs-Ökonomie.

Ein Teil der Kritik stürzte sich auf Nebenaspekte 2(Solow 1956). Aus dem formalen Aufbau ergab sich ein „Messerschneiden-Gleichgewicht“ (razor edge-equilibrium): Verlässt man den erforderlichen Wachstumspfad nach oben oder unten, so explodiert / kollabiert das System. Nur eine einzige Wachstumsrate sei also jeweils wünschbar. …

Aber es gab auch substanzielle Kritik, teils von denselben Autoren 3 (Solow 1957). Man begann empirisch die Beiträge der „Faktoren“ zum Wachstum abzuschätzen. Und da kam man zu unerwarteten Ergebnissen:
Der Beitrag eines Mehr oder Weniger von Kapital zum Wirtschaftswachstum war geradezu vernachlässigenswert. Bis zu 90 % des Wachstums blieb unerklärt. Bis heute streitet man sich über die Größenordnung dieses „Solow-Residuals“. Diese Größe wurde jetzt TFP (Total Factor Productivity, Gesamtfaktor-Produktivität) genannt.

Die erste, nicht unplausible Interpretation war: Das ist der technische Fortschritt. Der ist nicht in der Netto-, sondern in der Brutto-Investition inkorporiert. Bei einer Ersatz-Investition wird schließlich nicht eine Maschine durch dieselbe ersetzt, sondern durch eine neue, weiter entwickelte Version davon. Die leistet nun mehr. Inzwischen hat man auch erfasst, dass soziale und politische Strukturen eine wichtige Rolle spielen und rechnet sie ebenfalls der TFP zu. Das Wachstum hoch entwickelter Länder wird nicht durch „quantitative“ Kapital-Akkumulation, sondern durch, etwas naiv aufgefasst, technischen Fortschritt getragen. Wir brauchen ja auch ein Wachstum zwischen 1 ½ % und 2 %, damit es beschäftigungswirksam wird. Diese 1 ½ % bis 2 % stellen das Produktivitäts-Wachstum ohne zusätzlichen („quantitativen“) Kapitaleinsatz dar.

Aber die noch wichtigere Folgerung ist: Der Beitrag eines einzelnen Faktors wird ganz unbestimmbar, und noch mehr der eines Einzelmenschen. TFP ist Ergebnis der dichten Vernetzung der Gesellschaft als solcher, des direkten und indirekten Einsatzes der gesamten Arbeitskraft, ob in der Produktion oder in Erziehung, Unterricht, Pflege, Rekreation, …

2. Mitte der 1960er kamen ähnliche Überlegungen, erst mit einer pessimistischen Grundstimmung, zu einigen aktuellen Problemen auf 4(Baumol 1967, 1985). Die Produktivität in der materiellen Produktion (Warenproduktion) wuchs weiter. Aber hoch entwickelte Wirtschaften sind Dienstleistungs-Ökonomien. Selbst in Österreich und der BRD mit ihren industriellen Schwerpunkten macht der Tertiäre Sektor mehr als 2/3 der Wertschöpfung aus. Doch in den Diensten wächst die Produktivität viel langsamer. Man demonstrierte dies an der Kultur (Theater-Aufführungen), wies aber vor allem auf die staatlichen Dienste hin (z. B. städtische Infrastruktur), die „unbezahlbar“ würden. Ist also moderne Gesellschaft zur Stagnation verdammt? Die „gute Nachricht“ kam 1 ½ Jahrzehnte später: Man könne, z. B. bei Computer-Programmen oder in der Kultur, die Dienste weitgehend durch Produkte ersetzen, die maßgeschneiderten Programme durch MS Office oder das Konzert durch die die CD. Ob dieser Ausweg allerdings für die wichtigsten Dienstleistungen, z. B. Pflege von Kindern, Kranken und Alten, auch offen steht, ist eine andere Frage. Und: Wie wird Dienstleistungsarbeit geschätzt, wie bewertet? Vor 1 ½ Jahrzehnten rechnete Alfred Franz 5(1996) erstmals für Österreich ein Satelliten-Konto Hausarbeit. Er kam zum wenig hilfreichen Ergebnis, die Frauenarbeit mache 40 % oder 50 % oder 60 % der Gesamtarbeit aus – je nach Bewertung. Er wagte es nicht, und es lag wohl auch außerhalb seiner Konzepte, zu sagen: Die Bewertung dieser Arbeit ist fundamental politischer, nicht technischer Natur.

3. Einige der wesentlichsten Probleme wurden gar nicht angesprochen, weil man sie nicht erkannt hat. Machen wir in der bisherigen Art der Argumentation noch einen technischen Umweg. Ich gehe zur Friseuse, lasse mir in der sparsamsten Weise die Haare schneiden und zahle dafür € 16,- Mache ich dies aber in Adis Ababa, dann zahle ich, je nach Lokal, für dasselbe Ergebnis 1/2 – 3 €, in Birr, die Landeswährung, gewechselt. Die Kaufkraft meiner bescheidenen Pension würde ausreichen, um dort ein ziemlich komfortables Leben zu führen. Dieser Balassa-Samuelson-Effekt 6 (Balassa 1964, Samuelson 1964) ist wohlbekannt. Er ergibt sich aus Produktivitäts-Unterschieden im materiellen Sektor, bei Waren, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden (tradables), zusammen mit dem Indifferenz-Grundsatz bei der Lohnbestimmung: Arbeitskräfte etwa derselben sozialen Stellung (z. B. Bildungsebene) erhalten denselben Lohn, auch wenn ihre Produktivität sich technisch weniger bewegt als die der Anderen. Ansonsten gäbe es bald keine Friseusen mehr. Die Konsequenz: Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern wo man es tut, in Österreich oder in Äthiopien. Gesamtwirtschaftliche Produktivität ist definitorisch nichts als der Bruch Y/A, oder Inlandsprodukt durch Zahl der Arbeitsstunden oder -kräfte.

4. Die kapitalistische Wirtschaft funktioniert nach dem Maximierungsprinzip. Maximiert werden muss die Differenz einzelwirtschaftlicher Ertrag – einzelwirtschaftliche Kosten, der Profit also. Nun gibt es aber eine Tendenz, das sogenannte „Wagner’sche Gesetz“ des wachsenden Staatsanteils 7 (vgl. Wagner 1888): Ein immer größerer Anteil des gesellschaftlichen Produkts wird mit zunehmendem Entwicklungsstands über den Staat verteilt. Jenseits parasitärer Ausgaben, z. B. für Militär oder Subventionen an Großbauern, Klöster und Banken, entsteht dies aus zunehmenden Ausgaben für Bildung (Kindergärten, Schulen, Hochschulen), Vorsorgeaufgaben (Kranken- und Altenpflege) und Verwaltung, also aus kollektivem Konsum. Leistete der Staat dies nicht, müsste es über Löhne an die Einzelnen gehen. (Das haben früher auch die Sozialdemokraten begriffen: Nach dem Ersten Weltkrieg hielten sie aus diesem Grund die Mieten tief.)

Wenn aber die Wirtschaft über den Gewinn-Anreiz gesteuert wird; wenn Gewinn die Differenz zwischen Ertrag und Aufwand ist; wenn Aufwand aus guten Gründen durch kollektiven Konsum einzelwirtschaftlich niedriger gehalten wird als er gesamtwirtschaftlich ist, dann haben wir einen systematischen Fehlanreiz.

5. Überhöhte Einkommen, keineswegs nur bei Selbständigen, in letzter Zeit viel sichtbarer bei ihren direkt Beauftragten, dem Spitzen- und Mittel-Management, vermindern den Wohlstand einer Gesellschaft. Das sagt sogar die Wohlfahrtsökonomie, ein Zweig des ökonomischen mainstreams („abnehmender Grenznutzen“). Die Alltags-Erfahrung wäre der bessere Führer: Eine Luxusyacht für 80 Mill. Euro ergäbe 4.000 mittlere Jahresgehälter in Österreich. Wir haben hier wieder einen massiven Fehlanreiz, der Ressourcen verkehrt einsetzt. Über den wird eigens zu sprechen sein.

6. Diese systematischen Fehlanreize aber haben ein Geschlecht. Sowohl die Einkommens-Differenziale als auch die „Kosten-Verzerrungen“ durch kollektiven Konsum – die es ermöglichen, den einzelnen Lohn zu senken – verzerren die Allokationsanreize für die produktiven Unternehmen. Von einer rationalen Steuerung durch den Markt, wie sie die Ökonomie stets behauptet, kann überhaupt keine Rede sein. Ein „Wohlfahrts-Optimum“ ist in einer kapitalistischen Marktwirtschaft schlichtweg unmöglich. Das alte sozialistische Argument, dass der Kapitalismus irrational ist, ist stärker denn je gültig. Es muss politisch immer wieder betont werden, gerade bei neuen Überlegungen 8(vgl. Cockshott / Cottrell 1993).

6.1. Eine solche Ökonomie kann sinnvoll nur aus einer Wert-Rechnung und einer Input-Output-Analyse entstehen, die auf Arbeitseinheiten in der Art von Sraffa, Morishima und letztendlich Marx aufsetzen. Jeder andere Ausgangspunkt muss scheitern.

Ausnahmsweise eine ganze Reihe von Hinweisen für die Lektüre für Ökonomen:

Balassa, Balint (1964), The Purchasing Power Parity Doctrine: A Reappraisal: In: Journal of Political Economy 72, 584 – 596.

Baumol, W. J. (1967), Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis. In: AER 57, 415 – 426.

Baumol, W. J. / Blackmann, S. A. B. / Wolf, Edward N. (1985), Unbalanced Growth Revisited: Asymptotic Stagnancy and New Evidence. In: AER 75, 806 – 817.

Cockshott, W. Paul / Cottrell, Allin (1993), Towards a New Socialism. Nottingham: Russel Press.

Domar, Evsey D. (1946), Capital Expansion, Rate of Growth, and Employment.
In: Econometrica 14, 137 – 147.

Franz, Alfred (1996), Hg., Familienarbeit und Frauen-BIP. Wien: ÖSTAT (Österreichische Studien zur amtlichen Statistik 3).

Harrod, R. F. (1939), An Essay in Dynamic Theory. In: The Ec. J. XLIX, 14 – 33.

Morishima, Okishio (1973), Marx’ Economics. A Dual Theory of Value and Grwoth.
Cambridge: University Press.

Samuelson, Paul A. (1964), Theoretical Notes on Trade Problems. In: Review of Economics and Statistics 46, May, 145 – 154.

Solow, Robert M. (1957), Technical Change and the Aggregate Production Function. In: The Rev. of Ec. and Statistics 39, 312 –320.

Solow, Robert M. (1956), A Contribution to the Theory of Economic Growth. In: Qu. J. of Economics 70, 71 – 74.

Sraffa, Piero (1969), Production of Commodities by Means of Commodities. Prelude to a Critique of Political Economy. Cambridge: University Press.

Wagner, Adolph (1863), Die Ordnung des österreichischen Staatshaushaltes mit besonderer Rücksicht auf den Ausgaben-Etat und die Staatsschuld. Wien: Gerold.

  • 1. Harrod, R. F. (1939), An Essay in Dynamic Theory. In: The Ec. J. XLIX, 14 – 33.
  • 2. Solow, Robert M. (1956), A Contribution to the Theory of Economic Growth. In: Qu. J. of Economics 70, 71 – 74.
  • 3. Solow, Robert M. (1957), Technical Change and the Aggregate Production Function. In: The Rev. of Ec. and Statistics 39, 312 –320.
  • 4. Baumol, W. J. (1967), Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis. In: AER 57, 415 – 426., Baumol, W. J. / Blackmann, S. A. B. / Wolf, Edward N. (1985), Unbalanced Growth Revisited: Asymptotic Stagnancy and New Evidence. In: AER 75, 806 – 817.
  • 5. Franz, Alfred (1996), Hg., Familienarbeit und Frauen-BIP. Wien: ÖSTAT (Österreichische Studien zur amtlichen Statistik 3).
  • 6. Balassa, Balint (1964), The Purchasing Power Parity Doctrine: A Reappraisal: In: Journal of Political Economy 72, 584 – 596., Samuelson, Paul A. (1964), Theoretical Notes on Trade Problems. In: Review of Economics and Statistics 46, May, 145 – 154.
  • 7. Wagner, Adolph (1863), Die Ordnung des österreichischen Staatshaushaltes mit besonderer Rücksicht auf den Ausgaben-Etat und die Staatsschuld. Wien: Gerold.
  • 8. Cockshott, W. Paul / Cottrell, Allin (1993), Towards a New Socialism. Nottingham: Russel Press.