Irak: Widerstand am Wendepunkt

25.12.2005

Erklärung des Antiimperialistischen Lagers

1) Die massive Beteilung an den Wahlen am 15. Dezember 2005 in den Provinzen
des sogenannten sunnitischen Dreiecks (Euphemismus für die großen Gebiete, die
hauptsächlich vom Widerstand kontrolliert werden und von etwa 40% der irakischen Bevölkerung bewohnt
werden) veranlassten die USA und ihre bezahlten Schreiberlinge dazu, von einem
gewaltigen Sieg ihrerseits und von einer bedeutsamen Niederlage der Guerilla zu
sprechen.

2)Tatsächlich muss die große Wahlbeteiligung nicht trotz
sondern wegen des Rufes aller substantiellen Teile des Widerstands die
Wahlbühne zu betreten um so viele Delegierte wie möglich für die
Nationalversammlung zu stellen, erklärt werden

3)Diese Entscheidung fiel nach der Entscheidung bei
dem Oktober-Referendum zur Verfassung mit NEIN zu stimmen. Die Iraker wissen
wohl, dass ohne Wahlbetrug in den Provinzen Al Anbar, Salah ad Din, Niniwa, At
Tamin, Dyala und Baghdad das NEIN die Mehrheit bekommen hätte.

4)Die imperialistische Presse versucht zu verbreiten,
dass der Widerstand keinen Massencharakter hätte. Sie versucht glauben zu
machen, dass ohne kleine Gruppen die von außen in den Irak eindringen das Land
längst in Frieden leben würde. Offensichtlich ist, dass dies nicht der Realität
entspricht. Der bewaffnete Kampf zahlreicher Kräfte ist nur die Spitze des
Eisberges, eine bewaffnete Avantgarde einer viel breiteren politischen und
sozialen Bewegung. Tatsächlich haben mehrer Städte, Dörfer und die großen
Regionen, welche nicht von den Besatzern kontrolliert werden, ein Netz von
repräsentativen Organen und lokalen Komitees gebildet, welche eine tatsächliche
territoriale Gegenmacht konstituieren. Unter schwierigen und oft zur
Verzweiflung treibenden Bedingungen (es sei nur das Eindringen von US-Truppen
genannt) sind diese mit der Organisierung und Verwaltung des sozialen Lebens
der Bürger beauftragt.

5)Es ist bekannt, dass die Amerikaner von Israel
gelernt haben, wie mit der Intifada umzugehen sei. Aber auch Israel ist es nie
gelungen volle Kontrolle über der Gaza Streifen und dutzende Städte im
Westjordanland zu bekommen, die USA sind gescheitert, was ihre Bemühungen um
stabile Kontrolle über die große Gebiete und Städte im Irak angeht. In den
Bezirken, die unter dem Kommando schiitischer Kräfte stehen, haben weder
US-Armee noch irakische Polizei politische oder militärische Kotrolle, sondern
unterschiedliche Milizen, die mit politischen Bewegungen verbunden sind, wie
die Bewegung von Muqtada as Sadr

6)Man könnte von einer Pattsituation sprechen. Die USA
können den Widerstand nicht zerstören, während der Widerstand mit
Schwierigkeiten konfrontiert ist. Abgesehen von der internationalen Isolation
(es ist beispiellos dass es kein einziges Land gibt, in dem eine politische
Repräsentation zu Gast sein darf) und der offensichtlichen übermächtigen
militärischen Überlegenheit der USA, ist der Kern der Schwierigkeiten in der
politischen Strategie zu suchen.

7)Im Irak ist eine verlängerter Volkskrieg wie in
China und Vietnam unmöglich. Es erinnert mehr an die libanesischen,
palästinensischen oder somalischen Erfahrungen. Die Strategie des Verlängerten
Volkskrieges setzt eine Konsolidierung der großen vollständig befreiten Zonen
voraus, welche die Transformation der Guerillakräfte in eine reguläre
Befreiungsarmee erlauben würde, um von der strategischen Defensive in die
Offensive zu gelangen. Im Irak muss die Rolle der "strategischen Offensive" von
dem städtischen Massenaufstand gespielt werden. Die städtischen Massen zu
mobilisieren ist daher eine notwendige Aufgabe des Widerstands. Der Aufstand in den Städten macht eine
Verbindung zwischen dem sunnitischen Widerstand und der schiitischen
Bevölkerung notwendig. Ihre Einheit schien sich materialisiert zu haben in den
Erhebungsversuchen von Frühjahr und Sommer 2004. Sie wurden niedergeschlagen
von den Besatzern, denen es gelang die Aufständischen zu spalten und die
radikalen Schiiten von Muqtada as Sadr zu neutralisieren.

8)So befinden wir uns gerade in einer Sackgasse, wo
die befreiten städtischen und ländlichen Zonen weiterhin den feindlichen
Angriffen ausgesetzt sind, während die Guerilla dazu verdammt ist punktuell
zuzuschlagen und anschließend sofort wieder unterzutauchen, Sabotage und
kleinere Angriffe durchzuführen, einen zu treffen, um hundert zu erziehen. Was
der bewaffnete Widerstand tatsächlich leisten kann, ist das Leben für die
Besatzer unsicher zu machen, sie zu demoralisieren und die US-amerikanischen
Versuche der Stabilisierung zunichte zu machen.

9)Nur wenn man diese Kräfteverhältnisse, diese
Pattsituation in Betracht zieht, können wir verstehen wieso große Teile des
Widerstands beschlossen haben, die Gelegenheit der Wahlen zu nutzen. Diese
taktische Entscheidung könnte es ermöglichen eine konsistente Gruppe von
Mitgliedern der Nationalversammlung zu haben, welche die
Marionetteninstitution, die vom Besatzer erschaffen worden war, von innen
heraus zu sabotieren.

10)Es ist offensichtlich, dass dies eine riskante Taktik ist. Auch die
USA haben eine taktische Wende vollzogen. Ein Ausdruck dessen ist ihre Bereitschaft
Bewegungen kandidieren zu lassen, welche den Widerstand als legitim
ansehen (zum Beispiel Saleh Mutlaq's
Irakische Front für Nationalen Dialog). Ursprünglich hatte das Weiße Haus
beschlossen das Land von jeglichen baathistischen Rückständen zu säubern und
die Macht der schiitisch-kurdischen Allianz zu übertragen. Jetzt wird ihnen
klar, dass große Teile der schiitischen Population in keiner Weise mit den
Besatzern sympathisiert und Führern folgt, die absolut feindlich gegenüber der
USA eingestellt sind (Muqtada as Sadr) oder Teheran gehorchen, wie Sciri von al
Hakim und Dawa, geführt vom derzeitigen Premierminister al Jaafari, welche die
Koalition Irakische Vereinte Allianz bilden, die gemeinsam mit den Kurden
arbeitet. Das bedeutet, dass abgesehen von der amerikanischen Unfähigkeit den
Widerstand einzudämmen, auch die Entscheidung, auf die schiitische Seite zu
setzen um die Situation zu stabilisieren, praktisch fehlgeschlagen ist.

11)Aber es ist nicht nur dieser doppelte Irrtum,
welche die USA dazu bringen das Pferd zu wechseln. Um diesen Schritt zu
verstehen müssen wir die globale imperiale Strategie der USA in unsere
Überlegungen miteinbeziehen. Sie haben den Irak nicht nur besetzt um Saddam
Hussein los zu werden, sondern auch um den gesamten Nahen Osten neu zu
entwerfen. Dieser Plan verlangt früher oder später die Zerstörung der
Islamischen Republik im Iran (möglicherweise mehr nach dem ukrainischen Modell
als über Mittel einer offenen Aggression). Das impliziert, dass sie keine
islamische Republik im Irak die mit Teheran alliiert ist, akzeptieren können.
Aber genau das ist es was der Großteil der schiitischen Bewegungen will.
Deshalb haben sie kriminellerweise mit den Besatzern kollaboriert um die Baath
loszuwerden um ihr eigenes Ziel zu verwirklichen, und nicht diejenigen von
Bush.

12)Nur in diesem Kontext kann die Öffnung der USA
gegenüber den baathistischen Sektoren des Widerstands erklärt werden (siehe
auch die Freilassung einiger wichtiger baathistischer Figuren in den letzten
Tagen). Es ist sehr gut bekannt wie sehr die Baathisten den Iran als absoluten
Feind betrachten (es sei an den Bruderkrieg der 80er Jahre erinnert). Daher
hoffen die Besatzer nicht nur den Widerstand zu spalten sondern auch diese
Sektoren auf ihre Seite als Verbündete für eine zukünftige Eskalation zu
gewinnen, um die Islamische Republik Iran zu eliminieren. Wenn dieser Plan
funktioniert, wenn Teile der alten Baath (unter ihnen auch Mutlaq) es
akzeptieren, eine Koalitionsregierung gemeinsam mit den Kurden und Allawis Irakische
Nationale Übereinkunft zu formieren, wäre dass nicht nur eine ausschlaggebende
Wende sondern auch eine Tragödie. Wir hoffen dass die antiimperialistischen
Elemente des Widerstands diesen Plan zunichte machen werden.

13)Die nächsten Wochen werden zeigen (ebenso wie die
Wahlergebnisse) ob das neue US-amerikanische Herangehen funktioniert hat. Alles
ist möglich. Bestimmt wird eine gewisse Bestätigung der Listen, die nahe zum
Widerstand sind, dem Widerstand einen Aufwind geben. Während sie kriminalisiert
und als "Terroristen" gebrandmarkt werden in der ganzen Welt, werden sie
politisch legitimiert in Baghdad selbst durch einen massiven Konsens im Volk.

Antiimperialistisches Lager
18. Dezember 2005