Die "israelische Linke"

16.03.2002
Gespräch mit Sergio Yahni - stellvertretender Vorsitzender des Alternative Information Center in Jerusalem
Die antiimperialistische Solidaritätsdelegation sprach in Betlehem mit Sergio Yahni, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Alternative Information Center

Ein osteuropäischer Staat im Nahen Osten
Ich möchte kurz ausholen und mit einem historischen Überblick vom Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen. Die zionistische Bewegung war eine Siedlerbewegung mit ganz besonderen Charakteristika. Sie war auf der Suche nach der Unterstützung durch eine Kolonialmacht. Vor der Kolonialisierung und Ansiedlung in Palästina war die zionistische Bewegung im Wesentlichen eine osteuropäische, jüdische nationalistische Bewegung. Die Zionisten selbst sagen, sie wären eine Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes, keine Siedlerbewegung – so wie das Volk von Nikaragua das Recht auf nationale Befreiung hätte, habe auch das jüdische Volk das Recht auf nationale Befreiung, und daher sei jeder Angriff auf dieses Recht des jüdischen Volkes antisemitisch. Daher ist es wichtig, die Charakteristika dieser Siedlerbewegung – ihres Ursprungs und ihrer Entwicklung – zu verstehen. Dieses Verständnis ist unentbehrlich für eine Analyse der israelischen Gesellschaft, die schließlich von dieser Bewegung durch die Kolonisierung geschaffen wurde. Die zionistische Bewegung in Osteuropa hat viele Gemeinsamkeiten mit anderen, ähnlichen Bewegungen wie der polnisch-nationalistischen Bewegung von Józef Piłsudski: Die Ideen des Nationalismus, Militarismus usw. waren an diese Bewegung angelehnt, sogar die Struktur der Knesset mit ihren 120 Mitgliedern geht auf den polnischen Sejm zurück, eben so die "Mischung aus Sozialismus und Nationalismus" und sogar der Text der israelischen Staatshymne (…‘Od lo avdah tiqwateinu – Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren) ist dem Text der polnischen Hymne ähnlich (Jeszcze Polska nie zginęła – Noch ist Polen nicht verloren). Der Sejmismus war eine osteuropäische Nationalbewegung, die meinte es gäbe keinen Platz für die Juden in Europa und sie sollten aus Europa in die biblische "Heimat" auswandern. Bereits 1887 suchte die Bewegung nach einem "Mutterland", einem Staat, der die Kolonisierung von Palästina unterstützen und die nötigen militärischen und finanziellen Mittel bereit stellen würde. Und so begann die Kolonisierung unter den Auspizien verschiedener Kolonialmächte: anfangs Russland – gemäß den Abkommen zwischen Russland und der Türkei über koloniale Einflusssphären; später (nach dem Ende des Ersten Weltkriegs) in viel größerem Ausmaß Großbritannien. Die Absichten der Siedler unterschieden sich deutlich von denen in anderen Kolonien (z.B. der französischen, britischen oder deutschen Siedler in Afrika). Die nationalistisch-sozialistische Ideologie schuf eine andere Basis für die Bewegung, die Siedler kamen mit sozialistischen Ideen: Kibbuz, Histadrut etc. – und nationalistischen Mythen. Als die sowjetische Rote Armee den Kaukasus eroberte und allgemein erwartet wurde, sie würde in den Nahen Osten eindringen, fand eine Rebellion russischer sozialistischer Zionisten in einem kleinen drusischen Dorf in Galiläa statt. Die Zionisten dort unterstützten die Rote Armee gegen den britischen Imperialismus – eine leicht absurde Situation.
Die Kommunistische Partei
So war die Lage, als die Kommunistische Partei Palästinas – als Abspaltung der radikalen Sozialisten von der zionistischen Bewegung – gegründet wurde, als sie den Widerspruch zwischen Zionismus (Nationalismus) und Sozialismus erkannten. (Palästinenser hatten damit nichts zu tun, es war eine Diskussion unter Russen.) Po‘alei Zion ("Arbeiter Zions") war er Name der Sozialistischen Partei. Sie suchte um Mitgliedschaft in der Dritten Internationale an. Karl Radek antwortete, sie hätten keine Existenzberechtigung als separate Partei und sie sollten sich den kommunistischen Parteien der jeweiligen Länder anschließen. (Die große Mehrheit der Mitglieder zionistischer Organisationen, auch von Po‘alei Zion, lebte in Europa, nicht in Palästina.) Als Reaktion auf Radeks Antwort spalteten sich die Po‘alei Zion. In Palästina gründete der linke Flügel später die Kommunistische Partei Palästinas, der rechte Flügel löste sich in der Kibbuz-Bewegung auf. Nach dem Beschluss über die Palästinisierung (Arabisierung) der Partei, der um 1936 in Moskau gefällt worden war, und innerparteilichen Säuberungen landeten viele ihrer Gründungsmitglieder in sowjetischen Lagern.
Der Beschluss über die Arabisierung der Partei war grundsätzlich positiv, aber die Durchführung geschah mit höchst fragwürdigen Methoden. Daraus ergab sich später, dass die Kommunistische Partei einerseits ein Teil in der palästinensischen Nationalbewegung wurde, andererseits aber weiterhin Ideen der zionistischen Bewegung teilte: die Rolle der Histadrut usw.; der Generalsekretär Meir Vilner-Kovner (er lebt noch) unterschrieb die Unabhängigkeitserklärung Israels! Bis 1947 war die Kommunistische Partei für einen binationalen Staat eingetreten. Diese Position wurde von einem Tag auf den anderen geändert – nach der Rede von Andrej A. Gromyko vor der UNO, in der er die Gründung des Staats Israel unterstützte. Das führte zu einer Spaltung der Partei, in die Kommunistische Partei Palästinas, die weiter bestand und für einen binationalen Staat eintrat, und die Kommunistische Partei Israels. Nach der Nakba, der Gründung des Staats Israel, wurde die Kommunistische Partei Palästinas besonders verfolgt, die Schai ("Informationsdienst" – israelischer Militär-Geheimdienst) befasste sich gesondert mit diesen Kommunisten. Die meisten wurden deportiert bzw. konnten nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. Die Kontinuität war gebrochen. (Später wurde im Westjordanland wieder daran angeknüpft, aber das war eine jordanische Initiative und ist eine andere Geschichte.) Andererseits kämpften die Mitglieder der Kommunistischen Partei Israels in der israelischen Armee! Dies ist die Geschichte der Linken in Israel vor der Staatsgründung.
Der Palmach
Ein anderer Teil der Linken (der nicht-zionistischen Linken) kommt ebenfalls aus der zionistischen Bewegung, aus dem Palmach ("Stoßtruppe" – Kampfeinheiten der Kibbuz-Bewegung). Der Palmach hatte u.a. die Deportation der palästinensischen Bevölkerung aus Ramla und Lidd (Lydda/Lod) entlang der Straße nach Jerusalem durchgeführt. Hier brachen große Widersprüche auf, denn insbesondere die jüngeren Kämpfer des Palmach waren wirklich überzeugt, für Zionismus und Sozialismus zu kämpfen. Sie "übersetzten" die sowjetische Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande in den Aufbau des Sozialismus in einer Nation – ein jüdischer Sozialismus für das jüdische Volk. Sie erklärten, dass die Palästinenser zu rückständig, unter der Führung der Feudalherren und noch nicht für den Sozialismus bereit wären. Erst die zionistische Industrialisierung des Landes könne eine palästinensische Arbeiterklasse schaffen, die reif für den Sozialismus wäre.
Die Palmach hatte im Krieg an vorderster Front gekämpft und die meisten Opfer zu beklagen. In der Vorstellung der Palmach-Kämpfer hatten sie für die Errichtung eines sozialistischen Staats gekämpft (was selbstverständlich ein höchst widersprüchliches Konzept war), ihr Vorbild waren die Partisanen in Jugoslawien und die Rote Armee der Sowjetunion. Als sie nun aus dem Krieg zurückkehrten, in den Staat, den der große Zyniker David Ben-Gurion geschaffen hatte, erkannten sie, dass es ein pro-amerikanischer, kapitalistischer Staat war. Dies stürzte die Generation der Palmach in eine große Krise, und selbst in der Kibbuz-Bewegung gab es eine Spaltung, eine Strömung sammelte sogar Waffen, um sich gegen Ben-Gurion zu erheben. Ben-Gurion verglich die Situation mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei, er gab vor, einen Staatsstreich des Palmach zu befürchten. Erinnern wir uns – es geht hier quasi um einen osteuropäischen Staat im Nahen Osten! Die "arabische Frage" war für sie sekundär. Als nun die Palmach-Kämpfer aus dem Krieg in diesen kapitalistischen Staat "zurückkehrten", der keine Anstalten machte, sozialistisch zu werden, näherten sie sich der Kommunistischen Partei an: Die Mapam (Vereinigte Arbeiterpartei) spaltete sich und ein Teil trat der Kommunistischen Partei bei. Dies ist die Geschichte der Kommunistischen Partei Israels nach der Gründung des Staats Israel. Ein Teil der Mitglieder stammten aus der Organisation noch vor der Staatsgründung, ein kleiner Teil waren Araber, ein Teil waren ehemalige Palmach-Kämpfer; sie waren mit der Gründung des Staats verbunden. Die Kommunistische Partei Israels durfte aus eben diesem Grund existieren – sie war mit dem Staat Israel verbunden. Sie wurde für lange Zeit die nationale Partei der Palästinenser in Israel. Jede andere nationale Aktivität wurde unterdrückt, z.B. die nasseristische Sozialistische Partei.
Mazpen
Mazpen war eine Abspaltung junger Mitglieder der Kommunistischen Partei. Sie entstand, als einige Mitglieder ohne Erlaubnis des Zentralkomitees eine Kritik am Staat Israel herausbrachten. Sie veröffentlichten ein wichtiges Dokument von 700 Seiten mit dem Titel "Friede, Friede! und ist doch nicht Friede" (ein Bibel-Zitat). Nach dem Sinai-Krieg 1956 wurden sie aus der Partei ausgeschlossen – nicht auf Grund des Inhalts des Dokuments, sondern weil sie es ohne Genehmigung des Zentralkomitees veröffentlicht hatten – eine sehr stalinistische Vorgehensweise. Das Dokument ist deshalb so wichtig, weil es das erste Dokument, das die Kommunistische Partei nach der Staatsgründung herausgab, war, in dem gesagt wurde, dass der Staat Israel selbst das Problem sei, das nur durch eine sozialistische Revolution gelöst werden könne. Die Autoren erklärten, Antizionisten zu sein. (Wir haben das Dokument vor zwei Jahren nochmals herausgebracht, denn es ist sehr wichtig, obwohl es aus historischer Sicht viele Fehler enthält.)
Nach dem Parteiausschluss begannen sie eine Zeitung mit dem Titel Mazpen ("Kompass") herauszugeben. Es war stets nur eine kleine Gruppe. Sie kritisierte nicht nur den Staat Israel, sondern auch die ideologischen Verrenkungen der Kommunistischen Partei und die Zwei-Staaten-Lösung. Sie erklärte, es handle sich um einen sozialen Konflikt, der nur durch eine soziale Revolution gelöst werden könne – es gehe nicht darum, wie viele Staaten in Palästina geschaffen würden, und die Teilung in zwei Staaten ist nichts Positives. Sie lehnten den Zionismus als Kolonialbewegung, als Siedlerbewegung ab.
Zusammenarbeit mit der palästinensischen Befreiungsbewegung
Mazpen war eine jüdische Organisation. Sie hatten zwar arabische Mitglieder, aber ihre Sprache war Hebräisch usw. – dennoch: Es war das erste Mal, dass eine solche Kritik auf Hebräisch geäußert wurde. Arabische Nationalisten, arabische Sozialisten, arabische Revolutionäre hatten schon lange ähnliche Kritik an Israel geübt, und ihre Schriften waren auch z.B. auf Englisch erschienen. Es war aber das erste Mal, dass innerhalb der israelischen Gesellschaft eine solche Kritik geäußert wurde und das Recht Israels zu existieren in Frage bzw. in Abrede gestellt wurde. (Das bedeutete natürlich nicht, dass das Recht der jüdischen Bevölkerung hier zu leben in Frage gestellt wurde.)
Mazpen begab sich sofort auf die Suche nach arabischen Revolutionären und sie trafen Palästinenser und andere Araber, v.a. in Europa. Palästinenser leisteten wichtige Beiträge für Mazpen, z.B. Jalal Nikula, ein Palästinenser innerhalb Israels, der wichtige Analysen der palästinensischen Gesellschaft erstellte. (Er starb einsam in England.)
Mazpen arbeitete auch mit radikalen linken Organisationen im Europa zusammen, v.a. mit Trotzkisten und Maoisten.
Das Schicksal von Mazpen war in gewisser Weise vorgezeichnet. Die israelische Gesellschaft ist organisatorisch eng vernetzt, aufgespannt in einem Dreieck aus drei Kräften: Staat, Armee, und Histadrut. Die Histadrut ist der israelische Gewerkschaftsverband, dessen Ziel es war und ist, den jüdischen Staat aufzubauen und die Macht und Kontrolle des Staats zu erhalten. Gesundheitsversorgung wurde beispielsweise von der Histadrut zur Verfügung gestellt. Ohne Histadrut-Mitgliedschaft bekam man keine Arbeit. Ein Ausschluss aus der Gewerkschaft bedeutete daher auch den Verlust des Arbeitsplatzes und danach war es fast unmöglich, wieder Arbeit zu finden. Die Histadrut ist also viel mehr als eine Gewerkschaft, eher ein Parallel-Staat: Sie besteht aus einem Bauunternehmen, einem Gesundheitswesen, und die Gewerkschaft ist nur ein weiterer Teil dieses Netzwerks. Es war also nicht nur eine Gewerkschaft, die (wie die europäischen Gewerkschaften) bürokratisiert war, sondern die Dienstleistungen für ihre Mitglieder standen im Mittelpunkt. Diese "Gewerkschaft" war der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes!
Die Elemente, aus denen Mazpen hervorging, hatten ihren Ursprung letztendlich ebenfalls innerhalb dieses Dreiecks Staat–Armee–Histadrut. Dieses Dreieck wurde von der Arbeiterpartei kontrolliert. Es war die erste revolutionäre Opposition, die auch nach arabischen, palästinensischen Partnern für das revolutionäre Projekt Ausschau hielt.
1967, unmittelbar nach dem Krieg, veröffentlichten sie die erste Petition gegen die Besetzung. Mazpen verband sich auch schnell mit der europäischen Bewegung, die 1968 ihren Höhepunkt hatte und suchte Verbindungen mit der palästinensischen Bewegung herzustellen – nicht als Israelis, sondern als Revolutionäre, mit dem Eintreten für die Revolution im Nahen Osten und anderswo als Kriterium der Zusammenarbeit. Sie traten für eine Sozialistische Republik Palästina ein und waren die erste Organisation, welche die palästinensische Nationalbewegung vollkommen unterstützte. Das ist äußerst wichtig, da vor 1974 in Israel nicht einmal die Kommunistische Partei die PLO unterstützte.
Mazpen kritisierte zwar die Politik der Fatah, allerdings nur im Rahmen der generellen Unterstützung für die PLO. Die Diskussionen waren Diskussionen zwischen Organisationen, die im Kampf gegen Israel auf der gleichen Seite standen.
(Später mussten sich Mitglieder von Mazpen deswegen vor Gericht verantworten, u.a. in einem Prozess gegen das Alternative Information Centre im Jahr 1987.)
1968 veröffentlichte die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) in Le Monde einen Aufruf an Mazpen, eine gemeinsame Organisation zu gründen. Dieser Aufruf spaltete Mazpen. Es gab drei Linien. Vor 1968 war die Zusammenarbeit eher eine theoretische Frage gewesen. Nun kam da dieser Aufruf: "Wir sind Revolutionäre, ihr seid Revolutionäre – schließen wir uns zusammen." Man muss im Hinterkopf behalten, dass es sich um eine Organisation aus bloß dreißig Personen handelte – andererseits war es die einzige Organisation in Israel, die gegen den Staat Israel auftrat, ein wichtiger Faktor.
Eine kleine Anekdote: 1969 sollte der israelische Botschafter in Bonn an der Freien Universität Berlin eine Rede halten. Die Studenten ließen dies nicht zu. Sie stellten die Bedingung, dass der Botschafter Israels nur sprechen könne, wenn auch jemand von der Opposition, von Mazpen, sprechen dürfe. Die Uni-Verwaltung erklärte also der israelischen Botschaft, dass der Botschafter nur zu Wort käme, wenn auch ein Mazpen-Vertreter auftreten könne. Die Antwort des Botschafters war: "Ich verstehe nicht, warum sich die Leute für Mazpen interessieren, die haben ja nicht einmal 20.000 Mitglieder." In Wirklichkeit waren es nur dreißig, aber es war die einzige Stimme, die innerhalb und außerhalb Israels gegen den Staat auftrat. Das israelische Außenministerium gründete eine eigene Abteilung, die sich mit Mazpen befasste. Sie gaben Kurse für israelische Studenten, wie sie gegen Mazpen argumentieren sollten. Sie gaben eine Broschüre mit dem Titel "Die richtigen Antworten wissen" heraus. Das Erziehungsministerium gab eigene Vorschriften heraus, wie Lehrer mit Schülern, die Mazpen unterstützten, umzugehen hätten. Die Armeeführung hatte eigene Vorschriften, was zu tun sei, wenn ein Mazpen-Anhänger in einer Einheit entdeckt wurde – all dies für eine Organisation von dreißig Personen.
Und 1968 richtete nun die DFLP an diese Organisation aus dreißig Leuten den Aufruf "Los, kämpfen wir." Was sollten sie tun? Sie waren ja bloß dreißig! Dieser Aufruf spaltete die Gruppe in drei Teile.
Der bewaffnete Kampf
Die einen sagten "OK, auf geht´s", und begannen den bewaffneten Kampf gemeinsam mit Palästinensern – in Israel – zu organisieren. Sie wuchsen auf sechzig Personen an und schickten Vertreter zu einem Treffen mit palästinensischen Linken in Syrien. Als sie zurückkamen, wurden sie verhaftet und verbrachten zwanzig Jahre im Gefängnis. Diese Strömung wurde vom Schabak ("Allgemeiner Sicherheitsdienst" – israelischer Inlandsgeheimdienst) zerstört.
Die zweite Strömung sagte genau das Gegenteil: Es sei unmöglich, den bewaffneten Kampf zu beginnen, es sei unmöglich mit der DFLP zusammen zu arbeiten, da die DFLP im Untergrund operiere etc. und Mazpen hingegen nur dreißig Mitglieder habe, die dem Geheimdienst genau bekannt seien. Sie hielten den bewaffneten Kampf für unmöglich, betrachteten die anderen als kleinbürgerliche Radikale und beschlossen, in der israelischen Arbeiterklasse zu arbeiten. Das taten sie auch. In gewisser Weise leisteten sie gute Arbeit in ärmeren Stadtvierteln, in Betrieben, usw., aber sie isolierten sich völlig von der palästinensischen Bewegung, und beschrieben diese als Bewegung der Mittelklassen und als keineswegs revolutionär. Diese Arbeit wurde durch den Oktober-Krieg (1973) und die darauf folgende nationalistische Stimmung in Israel zunichte gemacht. Ein weiteres Problem war, dass sie die nationale Frage nie diskutiert hatten und ihre Kader in dieser Frage nicht vorbereitet waren. All das schwächte diese Gruppe sehr. Während des Aufstands der Palästinenser in Israel 1976, am Tag des Bodens, glaubten sie die Revolution wäre ausgebrochen. Sie gingen in den Untergrund und 1982 verschwanden sie vollkommen.
Die dritte, die mittlere Strömung sagte: "Nun, wir sind nur dreißig. Es gibt politische Differenzen. Setzen wir die Diskussion fort und überlegen wir, wie wir zusammenarbeiten können. Wir in Israel können nicht mehr sein als eine Propagandagruppe." Diese dritte Strömung führte weiter den Namen "Mazpen". Sie identifizierte sich grundsätzlich mit der nationalen Befreiungsbewegung, mit der PLO, sie sah sich als Teil des palästinensischen Kampf um Befreiung. Wenn sie Kritik übten, war es eine interne Kritik. Sie hielt den Kontakt mit der PLO aufrecht und führte u.a. Diskussionen über die nationale Frage im Kontext des Nahen Ostens, den Klassencharakter des Staats Israel, die "israelische Arbeiterklasse". Die Leute, die heute noch politisch aktiv sind, sind alle dieser dritten Gruppe zuzurechnen.
Nun, das bedeutsame Erbe dieser Organisation – jenseits der Probleme, jenseits der Spaltungen – ist die Vorstellung, dass es gemeinsame Werte gibt, ungeachtet der Tatsache, ob man Israeli oder Palästinenser ist: Werte der gesellschaftlichen Veränderung. Nur durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, nur durch eine Revolution kann in diesem Land Platz sowohl für Israelis als auch für Palästinenser geschaffen werden; und das ist der einzige Weg, durch den die nationalen Ziele der Palästinenser erreicht werden können.
Verhandlungen
Im Jahr 1974, mit der Khartum-Resolution, akzeptierte die PLO eine Zwei-Staaten-Lösung, rief zur Gründung eines palästinensischen Staats nur im Westjordanland und im Gasastreifen auf, anerkannte de facto den Staat Israel und wurde in die UNO aufgenommen. (Die Position zuvor war für die Errichtung eines säkularen, demokratischen Staats in ganz Palästina gewesen.) Das Eröffnete neue Perspektiven für das Verhältnis zwischen Israelis und der PLO. Innerhalb des zionistischen Lagers gab es bereits 1974 einzelne Persönlichkeiten (wie Uri Avneri und Nathan Jalin-Mor) und Gruppen, welche die Bedeutung dieser Resolution begriffen und Vertreter der PLO in Europa trafen. Diese Personen vertraten natürlich niemanden, während die PLO auf der anderen Seite mit Fug und Recht die Palästinenser vertrat. Diese Israelis versuchten den Palästinensern klar zu machen, dass sie um das Vertrauen der Israelis zu gewinnen, den Staat Israel nicht in Frage stellen dürften. Diese Treffen hatten einen großen Einfluss auf die Positionen der PLO, denke ich. Die Kommunistische Partei Israels anerkannte erstmals die PLO als Vertretung des palästinensischen Volks und auch andere israelische Organisationen, die mit dem zionistischen Establishment enger verbunden waren, traten für Verhandlungen mit der PLO ein. So wurde ein neues Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern hergestellt: Verhandlungen.
(Für Mazpen stellte Khartum ein gewisses Problem dar. Es gab auch auf palästinensischer Seite Gegner der Anerkennung Israels, die "Front der Zurückweisung", bestehend aus der palästinensischen Linken – PFLP, DFLP, und Mazpen hatte engere Beziehungen mit diesen Organisationen.)
Die Israelis, die in Europa mit PLO-Vertretern Verhandlungen über ein zukünftiges Abkommen führten, waren in Wirklichkeit Linke, die niemanden vertraten als sich selbst, sie waren noch weniger repräsentativ als Mazpen. Manche kamen von der zionistischen Linken – aber die Zionisten anerkannten die PLO erst 1988. Dennoch: Es gab Verhandlungen. (Das hat natürlich nichts gemein mit dem Verhältnis zwischen palästinensischen und israelischen Revolutionären.)
Diese Verhandlungen waren in gewisser Weise eine Vorbereitung für Oslo.
Das Alternative Information Center
Das Alternative Information Centre (AIC) war ebenfalls ein Ergebnis dieser Gespräche. Für das AIC war die Haltung kennzeichnend, dass seine Vertreter nicht mit den Palästinensern verhandeln, sondern gemeinsam mit ihnen für bestimmte Werte kämpfen wollten, und das AIC war auch das Resultat einer praktischen Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen. Ideologisch war das AIC einerseits die praktische Schlussfolgerung dieser Zusammenarbeit, andererseits eine Anerkennung der politischen Realität auch jenseits der Linken: Es war eine Antwort auf die Realität, die der Krieg im Libanon schuf. Während des ersten Kriegs gegen den Libanon gab es in Israel erstmals große Mobilisierungen gegen den Krieg – Demonstrationen von 100.000 Leuten; andererseits war der Krieg im Libanon der Auslöser für die Gründung von Volkskomitees, Jugendorganisationen, etc. im Westjordanland und in Gasa.
Vor dem Krieg im Libanon hatte sich die nationale Befreiungsbewegung fast ausschließlich außerhalb Palästinas befunden. Die Vorstellung war, dass die Befreiung von außen kommen könnte – aus Jordanien, später aus dem Libanon. Abu Leila (einer der Führer der DFLP) nannte den Südlibanon vor dem Krieg "das Nord-Vietnam von Palästina". Die Palästinenser in Palästina waren damals von einer aktiven Rolle im Befreiungskrieg ausgeschlossen, außer sie nahmen am bewaffneten Kampf teil. Dieses Modell wurde durch den Krieg im Libanon aus verschiedenen Gründen überwunden: Die PLO wurde im Libanon angegriffen und schließlich gezwungen, den Libanon zu verlassen; Teile der israelischen Armee, die in den 1967 besetzten Gebieten stationiert war, wurden in den Libanon verlegt – dadurch wurden die Bedingungen für politische Arbeit in Palästina günstiger. Diese zwei Faktoren bilden den Hintergrund für das Entstehen einer starken Volksbewegung.
Noch 1972 hatte Scharon quasi problemlos Flüchtlingslager im Gasastreifen zerstören und Konzentrationslager für die Familien von Aktivisten – als Geiseln – am Sinai einrichten können. Das sind nicht Tatsachen, die er heute verleugnet: Im Gegenteil, er ist heute noch stolz darauf, dass er Familienangehörige durch die Wüste marschieren ließ und deportierte usf. Den Leute wurde – wenn sie Glück hatten – eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt und sie wurden zu Fuß durch die Wüste nach Jordanien geschickt; Familienangehörige von Aktivisten, wohlgemerkt, nicht die Aktivisten selbst. Unter diesen Bedingungen war ein konsequenter bewaffneter Kampf nicht möglich. Der bewaffnete Kampf wurde zwar fortgesetzt, aber auf niedrigem Niveau. Es war ebenso unmöglich, die Bevölkerung in Massenorganisationen oder -mobilisierungen zu mobilisieren. Dies bildete den Hintergrund für die Taktik den Widerstand außerhalb Palästinas aufzubauen und über die Grenzen von außen hinein zu tragen. Dieser Kampf von außen war natürlich problematisch. Erst der Krieg im Libanon eröffnete politisch-militärisch die Möglichkeiten für eine Massenbewegung in Palästina selbst.
Nach Beirut waren das palästinensische Interesse fast ausschließlich auf die militärischen Aspekte konzentriert, auf die Fortschritte im Krieg, die Probleme innerhalb der PLO im Libanon (eine sehr traurige Angelegenheit) und diplomatische Aspekte.
Unsere Einschätzung in Mazpen, sowie die Einschätzung der palästinensischen Linke war, dass sich die Situation nach dem Krieg im Libanon durch die Volksbewegung, die Massenbewegung ändern würde. Das AIC wurde 1984 von Mazpen und der palästinensischen Linke gegründet, um dieser Volksbewegung eine Stimme zu verleihen und sowohl die öffentliche Meinung im Ausland zu beeinflussen als auch die Friedensbewegung in Israel zu informieren; ein weiteres – nicht weniger wichtiges Ziel – war es die Palästinenser über die politische und gesellschaftliche Situation in Israel am Laufenden zu halten. (Mazpen existierte weiter bis 1994, frühere Mitglieder von Mazpen arbeiten bis heute im Alternative Information Center mit.)
Die israelische Gesellschaft
Es ist in gewisser Weise nicht gelungen, eine israelische Gesellschaft aufzubauen. Der Kolonialismus hat zwar die Rahmenbedingungen – den Staat – geschaffen, aber die israelische Gesellschaft ist sehr inhomogen: Es gibt ethnische Trennungslinien durch die verschiedenen Einwanderungsschübe. Anfangs handelte es sich vor allem um Einwanderer aus Osteuropa. In den ersten 15 Jahren nach der Staatsgründung kamen die meisten Einwanderer aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Die ersten ethnischen Spannungen traten auf zwischen den Osteuropäern und diesen Juden, die sich arabisch kleideten, Arabisch sprachen, arabisch kochten und aßen. Sie wurden einem Prozess der zwangsweisen Dearabisierung unterworfen und bildeten die israelische Arbeiterklasse. Das wichtigste Element war die Vermittlung der neuen Sprache, Hebräisch; bald schämten sich diese Einwanderer Arabisch zu sprechen; dazu kam eine umfassende Kontrolle einerseits durch die Ansiedelung in neuen Dörfern z.B. im Naqab (Negev) und in Galiläa und andererseits durch Partei-Bürokraten der Mapai, sowie durch die Kontrolle der neuen Einwanderer in den Moschavim (landwirtschaftlichen Kooperativen). Die Stimmen für den Likud-Block waren nicht Stimmen gegen den Frieden, sondern Stimmen gegen die Arbeiterpartei (Mapai) und gegen die Osteuropäer, welche die Oberschicht bildeten. Anfangs war es einfach: Die politischen Parteien der Regierungskoalition teilten die neuen Einwanderer in den Lagern unter einander auf: Mapai (Israelische Arbeiterpartei), Mapam (Vereinigte Arbeiterpartei), Nationalreligiöse, usw. Wenn man z.B. 250 Einwanderer unter seiner Kontrolle hat, weiß man, wie sie wählen; und wenn sie nicht so wählten, wie die jeweilige Führung es verlangte, bekamen sie Schwierigkeiten. Die Kontrolle wurde durch zwei Aufstände von Immigranten aus den arabischen Ländern gebrochen. Einer fand 1959 in Wadi Salib (Haifa) statt, ein Mann wurde getötet; der zweite Aufstand wurde 1969 von den Schwarzen Panthern – orientalische Juden, Israelis zweiter Generation – geführt. Die Schwarzen Panther sagten: "Wir arabische Juden sind die Schwarzen Israels. Wir haben keinen Zugang zu Bildung, zu qualifizierter Arbeit – wir sind nur Arbeitssklaven für die europäischen Zionisten -, wir sind von der israelischen Gesellschaft ausgeschlossen."
Die beiden Aufstände änderten die Situation, und das Selbstbewusstsein der arabischen Juden in Israel. Der erste Aufstand begann sehr spontan. Der zweite Aufstand war eine organisierte Bewegung. Mazpen arbeitete auf einer praktischen Ebene eng mit den Schwarzen Panthern zusammen, nahm an der Bewegung teil und machte Propaganda, ideologische Diskussionen liefen eher im Hintergrund. Die beiden Aufstände zerstörten die Kontrolle der Parteien (Mapam, Mapai) über die arabischen Juden. Letztendlich brachten sie den Likud-Block an die Regierung. Als der Likud an die Regierung kam, traten Teile der Schwarzen Panther der Partei bei und versuchten in diesem Rahmen, Sozialprogramme durchzusetzen. Das war mit der populistischen Ideologie des Likud bis zu einem gewissen Grad vereinbar. Andere Teile traten der Arbeiterpartei bei oder der extremen Linken.
Mazpen und später das Alternative Information Center versuchten gegenüber den Palästinensern Analysen zu liefern, zu erklären, warum gerade die unterprivilegierten Schichten der arabischen Juden Likud wählten. Der Hintergrund für dieses Phänomen ist nicht, dass diese Schichten gegen die Palästinenser wären, sondern der ethnische Konflikt bzw. Klassenkonflikt innerhalb der israelischen Gesellschaft. Die "linken Positionen" der Arbeiterpartei sind ein Mythos, in Wirklichkeit repräsentierte sie die aschkenasische Elite Israels, und der Erfolg des Likud war im Wesentlichen ein Ausdruck des Widerstands gegen diese Elite.
Es gibt auch (bis heute) eine Misrachi-Linke, eine arabisch-jüdische Linke, Individuen und eher intellektuelle Organisationen wie der Misrachi Demokratische Regenbogen, die mit der radikalen Linke insgesamt zusammenarbeiten. Es gibt viele inner-israelische Probleme, die man ausnutzen kann und für die man Lösungen anzubieten haben muss. Die ethnischen Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft sind keine Erfindung, sondern ein reales Problem, das die Klassenspaltung der Gesellschaft widerspiegelt. Es gibt scheinbar sehr widersprüchliche Phänomene, etwa dass es viele Leute gibt, die schwanken zwischen einer Unterstützung für Schas, die sefardisch-orthodoxe Partei, und für die Kommunistische Partei – das sind Protestwähler gegen das zionistische Establishment. Es ist wichtig, den sozialen Hintergrund zu verstehen – nicht nur für die israelische radikale Linke, sondern auch für die palästinensische Nationalbewegung ist dies von Bedeutung.
Die Positionen der Sefarden gegenüber den Palästinensern sind vielfältig und widersprüchlich. Die Struktur der Schas ("Sefardische Thora-Wächter") ähnelt der Struktur der israelischen fundamentalistischen (ultra-orthodoxen) Parteien. Die Parteibürokratie ist stark, sie haben 17 Knesset-Abgeordnete. Schas trachtet danach, den Sozialstaat zu zerstören, damit staatliche Mittel direkt den sozialen Einrichtungen, die Schas betreibt, zufließen können und so die Parteibasis und die Partei selbst ökonomisch und politisch gestärkt werden. So bauen sie ein Klientelwesen auf, das von den Rabbinern geführt wird. Die Führung ist religiös, ultra-orthodox, aber die Wähler nicht. Sie sind unterprivilegiert und Sefarden. In dieser Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten mit der islamistischen Bewegung. Die Basis und die Führung sind sefardische Juden, einerseits rebellisch gegen den aschkenasischen Staat, andererseits bindet der Klientelismus diese Menschen an den Staat. Die Positionen gegenüber den Palästinensern reichen von extremem Rassismus bis zur Bereitschaft zu einem Übereinkommen, völlig inkohärent. Selbstverständlich muss man auch zwischen den Positionen der Führung und denen der Basis unterscheiden.
Es gibt auch Siedler unter ihnen, aber man muss verstehen, dass der Großteil der Siedler aus ökonomischen Gründen in Siedlungen im Westjordanland lebt, weil das Leben dort vom Staat subventioniert wird.
Die Arbeiterklasse in Israel setzt sich zusammen aus diesen orientalischen Juden und natürlich Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft, den Einwanderern aus der Sowjetunion, Äthiopiern sowie nicht-jüdischen Arbeitsmigranten aus der ganzen Welt, vor allem aus Asien. Die aschkenasische Führung versucht natürlich auch, diese ethnischen Bruchlinien innerhalb der Arbeiterklasse zu auszunutzen. Es gibt in Israel heute 250.000 nicht-jüdische Arbeitsmigranten, ein sehr hoher Anteil also, im Vergleich zum Anteil der Arbeitsmigranten an der Bevölkerung in Westeuropa. Die Hälfte von ihnen ist illegal in Israel. Israel hat sehr gut überwachte Grenzen, und sie reisen legal ein – als Pilger beispielsweise, oder über israelische Firmen und Agenturen, die Arbeitskräfte zum Beispiel aus Thailand und China "importieren" und "weitervermieten".
Diese Firmen behalten Tickets, Reisepässe und einen Teil des Gehalts ein, viele Immigranten verschulden sich bei diesen Firmen, um nach Israel zu gelangen etc. Dies ist der legale Teil. Die Lebensumstände dieser Immigranten sind denkbar schlecht; 15, 20 Menschen in einem Raum, etc. Viele Immigranten versuchen, diesen Menschenhändlern zu entkommen und ihre Arbeitskraft auf dem "freien Markt" zu verkaufen. Am Beginn dieses Prozesses war das kein großes Problem, denn die israelische Wirtschaft wuchs und konnte diese billigen Arbeitskräfte leicht absorbieren. Jetzt gibt es das Problem, dass viele dieser Firmen nur damit Geld machen, dass sie diese Leute nach Israel holen. Sie kümmern sich nicht darum, ob sie dann auch Arbeit für sie haben.
Wenn es den Konflikt mit den Palästinensern nicht gäbe, müssten die Zionisten ihn erfinden, um die israelische Gesellschaft zusammen zu halten.

Gregor Kneussel