In der Falle der NGOs

16.03.2002

Eindrücke von einem Gespräch im Flüchtlingslager Deheische

Das Flüchtlingslager Deheische besteht seit über fünfzig Jahren. In ihm leben auf engsten Raum vor allem Flüchtlinge der Nakba, der katastrophalen Vertreibung von 1948, zum Teil schon in vierter Generation.
Schon auf dem Weg zum Haus der Familie des Märtyrers Abu Akar sehen wir auf allen Wänden das Konterfei von Abu Ali Mustafa und zahlreicher anderer gefallener Kämpfer der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die in dem Lager breite Unterstützung genießt.
Bereits als wir das Haus betreten, stoßen wir auf die elementarsten Alltagsprobleme. Auf engsten Raum leben Dutzende Menschen, so dass unsere rund dreißigköpfige Delegation kaum Platz findet. Die Familie erzählt von ihrer misslichen Lage und ihrer großen politischen Tradition im Widerstand und bald kommt das Gespräch auf die Friedensverhandlungen von Oslo. Wie kaum wo, selbst nicht bei den Spitzenfunktionären der PFLP, wird der sogenannte Friedensvertrag als Betrug radikal abgelehnt, denn er sah keinerlei Lösung für die Flüchtlinge von 1948 vor. Im Gegenteil, diese hätten durch das Abkommen alle ihre historischen Ansprüche verloren und auf die Rückkehr endgültig verzichten sollen. Es ist nur logisch, wenn die Bewohner der Flüchtlingslager – und das ist ein beträchtlicher Anteil der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten von 1967 – die neue Intifada als Ende eines Alptraum erleichtert willkommen geheißen haben.
Einige Delegationsteilnehmer weisen im Gespräch auf den Widerspruch zwischen der Tatsache hin, dass einerseits Oslo nicht nur für die Flüchtlinge keine Lösung darstellt, sondern auch die restliche palästinensische Bevölkerung in Quasi-Lager interniert, andererseits der Architekt von Oslo, Jassir Arafat, und seine Fatah noch immer die stärkste und dominierende Kraft unter den Palästinensern stellt. Sowohl die Opposition von islamischer als auch von linker Seite muss sich immer wieder den Vorgaben Arafats Palästinensischer Nationalbehörde (PNA) anpassen.
Die Antwort Abu Akars ist einleuchtend: "Die Mehrheit lehnt Oslo und auch die versöhnlerische Politik Arafats ab. Doch auf vielerlei Weise sind die Menschen an die PNA, Fatah und zahlreiche NGOs gebunden. Da die Wirtschaft der palästinensischen Gebiete von der Okkupationsmacht immer weiter erdrückt wird, gibt es ohne diese Hilfe kein Überleben. Viele lebenswichtigen Einrichtungen wie Schulen und Spitäler werden vom Westen über die PNA und NGOs unterhalten. Diese Gelder werden natürlich an politische Bedingungen gebunden, nämlich den Widerstand nicht zu eskalieren und die Versöhnung mit der zionistischen Okkupation zu suchen. Wir sind also auf die NGOs und die PNA angewiesen, wir sind von ihnen abhängig – es ist wie in einer Falle."
Es nimmt daher nicht wunder, dass nach dem Beginn der zweiten Intifada und selbst mit dem nach dem 11. September vergangenen Jahres eingeleiteten Terrorkrieges diese karitativen Gelder nicht zu fließen aufhörten. Dies stimmt sogar für jene sozialen Einrichtungen, die mehr oder weniger versteckt von der Linken geführt werden. Zu groß scheint man im Westen die Gefahr einer weiteren Radikalisierung einzuschätzen.
Dennoch, die Familie weist darauf hin, dass der palästinensische Widerstand weitergehe, die Intifada fortgesetzt werde. Abu Akar fügt freilich hinzu, dass sich für einen Erfolg die internationalen Umstände ändern müssten. Solange die Palästinenser auf sich allein gestellt seien, könnten sie nicht viel mehr erreichen.
Darum unterstreicht er mehrmals die Bedeutung der internationalen Solidarität. In den 80er-Jahre habe es ständige Solidaritätsdelegationen gegeben. Diese gaben sich in Deheische fast die Klinke in die Hand. Die Palästinenser hätten gewusst, dass sie internationale Unterstützung hatten und das stärkte sie in ihren Befreiungskampf. Aber nach Oslo seien jahrelang keine Delegationen mehr ins Lager gekommen. Erst jetzt beginne es langsam wieder.
Und wieder kommt Abu Akar auf die NGOs zu sprechen. Er erklärt, dass diese Delegationen zwar wichtig seien, doch die kämen fast alle im Rahmen von NGOs um die Illusion von Oslo wiederaufleben zu lassen. Darum begrüße er besonders die Antiimperialistische Solidaritätsdelegation, die sich ohne Abstriche auf die Seite der Palästinenser stelle. Nur wenn abermals eine starke antiimperialistische Solidaritätsbewegung entstehen würde, die eventuell auch materielle Hilfe leisten könne, werde es möglich sein sich aus der Umarmung der PNA und der NGOs zu befreien und den Befreiungskampf in vollem Umfang wieder aufzunehmen.

Wilhelm Langthaler (Aktivist der Antiimperialistischen Koordination in Wien)