"Die Hoffnung ist unsere stärkste Waffe"

16.03.2002

Madsched Nassar - Mitglied des Exekutivkomitees der PFLP

Madsched Nassar, von Zivilberuf Arzt, ist Mitglied des Exekutivkomitees der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Er lebte 17 Jahre in Hamburg.
Warum ist aus dem Oslo-Friedensprozess nichts geworden?
Oslo hätte vier Punkte zur Vorbedingung haben müssen: Den Rückzug der israelischen Armee hinter die Grenzen von 1967, Klärung des Status von Jerusalem, Lösung der Flüchtlingsfrage und Stopp des Siedlungsbaus. In erster Linie ist Oslo an der Siedler-Frage gescheitert. Die Israelis wollten mit dem forcierten Ausbau der Siedlungen vollendete Tatsachen schaffen. Die wichtigste Frage wurde nicht gestellt: Ob bei andauernder israelischer Besatzung die Einleitung von Friedensverhandlungen überhaupt möglich ist. Die Volksfront zur Befreiung Palästinas war nicht gegen Verhandlungen. Wir waren und sind jedoch der Meinung, dass die Verhandlungen auf der Grundlage der UNO-Resolutionen geführt werden müssen.
Und nicht mit den USA als Moderator ...
Wir haben von Beginn an gesagt, dass man sich auf die USA nicht verlassen kann, dass sie kein neutraler Partner sind. Diese Erfahrung haben wir immer wieder gemacht. Noch jede Verurteilung Israels ist am Veto der USA gescheitert.
Nach dem Ende von Oslo befinden sich die Palästinenser in einer schlimmeren Situation als zuvor.
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass Oslo bereits an seinem Ende angelangt ist. Unabhängig von der Bewertung dieses Prozesses sind die Dinge in Bewegung geraten. Nicht nur zum Nachteil der Palästinenser. Es hat sich eine palästinensische Entität herausgebildet. Auch Ansätze zu einer eigenen palästinensischen Staatlichkeit wurden sichtbar. In den großen Städten – mit Ausnahme von Hebron – sieht man keine israelischen Soldaten mehr. Für die Menschen gab es Erleichterungen. Im Gasa-Streifen können sie wieder im Meer baden oder nachts spazieren gehen. Ich will die Dinge nicht banalisieren. Aber ist es nicht schlimm, dass man die Erfüllung minimalster Bedürfnisse überhaupt erwähnen muss?
Die schlechten Nachrichten überwiegen. Die Bewegungsfreiheit für Palästinenser ist kleiner, statt größer geworden, der Siedlerring schließt sich immer enger.
Den ersten Schritten sind keine weiteren gefolgt. Keine Schritte, die zur palästinensischen Unabhängigkeit hätten führen können. Während die Siedler immer mehr Land eroberten, kam dem Oslo-Prozess das Ziel abhanden, er wurde zum Ziel an sich. Wir sind dennoch für die Fortsetzung der Verhandlungen. Aber auch für eine Fortsetzung des Widerstandes, damit wir aus einer Position der Stärke verhandeln können.
Waren die Erfahrungen, die die Palästinenser mit ihren eigenen Autoritäten machten, nicht ebenso ernüchternd wie die anhaltende israelische Hegemonie?
Es waren sicher keine guten Erfahrungen. Das Autonomieregime ist undemokratisch und oligarchisch. In der Wirtschaft kam es zur Bildung von Monopolen, die von den Mitgliedern des Kabinetts beherrscht werden. Der eine kontrolliert das Gas, der andere Coca Cola, der dritte die Zementindustrie. Es gibt keine Gewaltenteilung. Nach den Wahlen zum Nationalkonzil gab es keine weiteren Wahlen mehr. Auf Gemeindeebene herrschen von Arafat eingesetzte Vertreter.
Welche Rolle spielt die palästinensische Bourgeoisie?
Das Arafat-Regime wird von der Bourgeoisie gebildet. Hätte es keine Bourgeois gegeben, hätte Arafat sie geschaffen. Was wir früher nur aus der Literatur kannten, haben wir nun in der Realität kennengelernt: den Komprador. Diesen Typus loszuwerden wird sehr schwer werden. Im Moment ist es wahrscheinlicher, dass die Oligarchie ein faschistisches Regime installiert.
Die Israelis haben Arafat unter Hausarrest gestellt. Erfordert das in dieser Situation Solidarität mit Arafat?
Arafat ist eine charismatische Figur. Gäbe es jetzt Wahlen, würde er sie wieder gewinnen. Wir orientieren auf einen zivilen Konsens, weil ein Bürgerkrieg für alle tödlich wäre. Uns gefällt es nicht, wenn Arafat von den Israelis gedemütigt wird.
Kommt in der Intifada die Eigeninitiative der Massen zum Ausdruck?
Die erste Intifada richtete sich gegen die israelische Besatzung. Die zweite Intifada bedeutet die Ablehnung einer aufgezwungenen Lösung. Sie widerspiegelt die Auflehnung der Bevölkerung sowohl gegen die israelische Unterdrückung als auch gegen die eigenen Behörden.
Die zweite Intifada wirkt weniger machtvoll und selbstbewusst als die erste. Eher wie eine Manifestation der Verzweiflung.
Die beiden Aufstände hatten unterschiedliche Rahmenbedingungen. Beide sind Teil einer Kette von Aufständen, die nicht erst 1987 begonnen haben. Nach der zweiten Intifada wird es eine dritte geben.
Die israelische Reaktion auf die zweite Intifada ist wesentlich heftiger als auf die erste.
Israel verhält sich, wie sich Kolonialmächte eben verhalten. Je näher es dem Ende zugeht, desto brutaler reagieren sie. Die Franzosen haben vor ihrem Abzug aus Algerien ein Blutbad angerichtet, ebenso die Engländer, bevor sie Indien verließen. Ich würde nicht die Intifada, sondern die Vehemenz, mit der die israelische Regierung gegen die Intifada vorgeht, als Manifestation der Verzweiflung bezeichnen.
Der israelische Antizionist Michel Warschawski sagte in einem Interview, dass die Palästinenser in der Zeit vor Oslo die Okkupanten gehasst hätten, nun aber, nach dem Desaster von Oslo und im Angesicht des Siedlerterrors, die Juden hassen würden. Wie sehen Sie das?
Das ist Unsinn. Die Palästinenser – unabhängig von Bildungsgrad und politischem Bewusstsein – hassen die Juden nicht. Als Kader der PFLP teilen wir mit unseren jüdischen Genossen in Israel die gleichen Ideen, die gleiche Weltanschauung. Die Zionisten setzen ein Gleichheitszeichen zwischen Antizionismus und Judenhass und damit auch zwischen Zionisten und Juden. Darin besteht ihre Legitimationsideologie. Sie tun, als müssten sie den zweiten Holocaust abwehren. Das ist doch lächerlich.
Besteht umgekehrt die Gefahr, dass die Israelis der palästinensischen Existenz auf dem Boden Palästinas ein Ende bereiten?
Nein. Solange es die Okkupation gibt, gibt es Widerstand. Angst ist unser größter Feind und Hoffnung unsere stärkste Waffe. Wir sind hier und sie sind hier. Diese Koexistenz ist objektiv. Sie muss zu einer friedlichen Koexistenz werden. Ich hoffe nur, dass es davor kein Blutbad gibt.
Macht es einen großen Unterschied, ob in Israel der Likud oder die Arbeitspartei an der Macht ist?
Im Prinzip nicht. Obwohl zu Beginn des Oslo-Prozesses Anlass zur Hoffnung bestand, dass es in Israel zu Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein, zu einer Aufweichung der zionistischen Doktrin kommt. Doch diese Doktrin wurde nur den veränderten Bedingungen angepasst. In der wichtigsten Frage stimmen die beiden Lager überein: Israel als kolonialistischen, expansionistischen und rassistischen Staat dauerhaft zu etablieren.
Es gab in Israel eine starke Friedensbewegung, die ein radikales Umdenken zu signalisieren schien.
Doch was ist aus ihr geworden? Merez zum Beispiel hat sich später an der Regierung beteiligt und keine wesentlich andere Politik verfolgt als die Arbeitspartei. Jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass sie in der Regierung gegen die Besiedlungspolitik aufgetreten wären. Die Friedensbewegung hat sich aus dem Bann des Zionismus nie zu lösen vermocht. Bei allen Treffen zwischen israelischen Friedensaktivisten und Palästinensern – so positiv sie auch waren – machte die israelische Seite immer zur Bedingung, die Ereignisse von 1948 nicht zu thematisieren. Ich glaube nicht, dass sich im Bewusstsein des zionistischen Staates irgend etwas verändert hat. Die Besiedlungspolitik wird von den Israelis mehrheitlich immer noch als ein Teil ihrer Ideologie und ihres Daseins verstanden.
Mit Oslo war die Hoffnung auf einen eigenen palästinensischen Staat verbunden. War es nicht naiv, einen Staat quasi aus der Hand Israels zu erwarten?
Das hängt damit zusammen, wie man Oslo damals beurteilt hat. Die Bevölkerung in der Westbank und im Gasastreifen war anfangs Feuer und Flamme für die Idee eines Staates auf dem Territorium, das 1967 von Israel besetzt wurde. Doch mit der jüdischen Besiedlung in diesen Gebieten und der ständigen Beschlagnahmung palästinensischen Landes rückte die Perspektive eines unabhängigen palästinensischen Staates in immer weitere Ferne. Das führte zu einer großen Desillusionierung.
Ursprünglich war die Strategie der palästinensischen Nationalbewegung auf die Befreiung des ganzen historischen Palästina gerichtet. Die rechten Nationalisten um Arafat dachten an ein arabisches Palästina, die PFLP an einen demokratischen, säkularen Staat, in dem Juden, Moslems und Christen gleichberechtigt zusammenleben. Nun orientieren alle palästinensischen Fraktionen auf eine Zweistaatenlösung. Hat sich damit auch die PFLP von der Vision eines demokratischen, säkularen Staates verabschiedet?
Wir sind immer noch für den demokratischen, säkularen Staat, in dem es keine nationalen und religiösen Vorrechte gibt. Die Zweistaatenlösung sehen wir als einen Schritt in diese Richtung. Der demokratische, säkulare Staat wäre die humanste und gerechteste Variante hinsichtlich Wiedergutmachung, gleichberechtigtem Zusammenleben und Versöhnung zwischen den beiden Völkern.
Verbirgt sich hinter der Forderung nach einem demokratischen Staat die Nichtanerkennung Israels?
Als die Vietnamesen gegen die Amerikaner gekämpft haben, hat niemand gefragt: "Erkennt Ihr die USA an oder nicht?" Wir befinden uns in Konfrontation mit Israel. Deshalb ist die Frage der Anerkennung ohne große Bedeutung. An die internationale Gemeinschaft richten wir die Forderung, diesen Staat zu boykottieren.
Steckt hinter der von Israel behaupteten Bekämpfung des Terrors ein Konzept der Vertreibung, der ethnischen Säuberung?
Erstens würde ich nicht von Terrorismus reden, sondern von Widerstand. Über die dabei verwendeten Methoden lässt sich natürlich streiten. Zweitens glaube ich nicht, dass Israel die Fähigkeit besitzt sich der Palästinenser physisch zu entledigen. Vor allem der internationale Faktor spricht dagegen. Nicht der palästinensische Terrorismus wird von der Weltöffentlichkeit als Hauptverursacher des Nahost-Konfliktes wahrgenommen, sondern die militärische Okkupation.
Die PFLP steht auf der von den USA erstellten schwarzen Liste der Terrororganisationen. Nach dem 11. September 2001 liest sich das wie ein Todesurteil.
Der 11. September war sicher ein tragischer Tag. Die PFLP hat damit nichts zu tun und auch die Palästinenser nicht. Sucht man im Internet, findet man die PFLP unter terroristische Organisationen. Doch bisher haben die USA gegen uns nichts unternommen. Es gab auch keinen Boykott der Amerikaner gegen PFLP-gestützte humanitäre Organisationen. Doch wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen. Die USA als Kopf des Imperialismus versuchen alle Befreiungsbewegungen in der Welt als terroristisch zu verunglimpfen um gegen sie vorgehen zu können.
Wie stehen die PFLP zu den islamistischen Organisationen Hamas und Dschihad?
Unsere Differenzen zu den Islamisten sind immens. Ideologisch und sozial gibt es kaum Berührungspunkte. Allein die unterschiedlichen Positionen in der Frauenfrage würde ausreichen um einen Bürgerkrieg auszulösen. Die Auseinandersetzung ist unausweichlich, doch sie sollte demokratisch ausgetragen werden. Auf den Universitäten gibt es Konfrontationen, die sich aber in Grenzen halten. Es kommt auch vor, dass PFLP-orientierte Studenten Bündnisse mit den Islamisten gegen Arafats al-Fatah eingehen. Doch wir wissen auch, dass die Linken als erste gehenkt werden würden, sollten Hamas oder Dschihad an die Macht kommen. Aber das hat noch Zeit. Und die sollten wir nutzen, um stärker zu werden. Die gegenwärtige Situation ist von Zusammenarbeit geprägt, vor allem im militärischen Bereich.
Welche Faktoren haben die Islamisten gestärkt und die PFLP geschwächt ?
Eine unserer Schwächen ergab sich daraus, dass wir eine Untergrundorganisation waren. Wir haben zu spät auf die veränderte Situation reagiert. Wenn man aus dem Untergrund auftaucht, braucht man neue Kader, eine neue Logistik und eine neue Sprache. Wir haben auch unter dem Oslo-Syndrom gelitten. Für die führenden Organe war die Linie klar, doch bei der Vermittlung gab es Probleme. Nach der Konferenz von Madrid 1991 ist unser Einfluss spürbar zurückgegangen. 1997 konnte dieser Trend gestoppt werden. Gegenwärtig werden wir von zehn bis elf Prozent der Bevölkerung unterstützt, die Hamas von 17 Prozent, der Dschihad von acht Prozent. 30 Prozent sind Anhänger der Fatah.
Soll das demokratische, säkulare Palästina ein sozialistisches sein?
Na klar.

Werner Pirker (Journalist in Wien)