Versinkt der Irak im Bürgerkrieg?

18.08.2006

Hoffung auf
Verbreiterung der Front durch den Libanon

Aus dem Irak hört man seit Monaten nichts anderes als Meldungen der Art: "50 Tote bei einem Bombenanschlag auf eine sunnitische Moschee", "Dutzende Tote bei einem schiitischen Vergeltungsschlag" usw. Selbst die USA räumen ein, dass sie der Lage nicht Herr sind. Muss man statt vom Widerstand vom Bürgerkrieg sprechen?

USA und BürgerkriegSich auf die Medienberichterstattung zu verlassen, gibt sicher ein stark verzerrtes Bild von der Lage im Irak. Denn die US-Besatzer haben im Sinne des Prinzips "teile und herrsche" durchaus Interesse, Schiiten und Sunniten gegeneinander zu stellen. Sie sind es, die - wie auch andernorts - aus einem politischen Problem, aus Differenzen politischer Kräfte, ein ethnisches Problem erzeugen. So hat auch die von ihnen durchgesetzte Verfassung diesen Ansatz der Dreiteilung des Landes in von ihnen konstruierte Ethnien.

In dem Sinne wird kaum über die amerikanischen Verluste und die mit unverminderter Intensität fortgesetzten Angriffe des Widerstands berichtet, die oftmals auch ohne Schaden an Zivilisten durchgeführt werden. Militärisch ist der Widerstand jedenfalls keineswegs geschwächt.

Doch es wäre falsch zu behaupten, dass Washington an der ausufernden Gewalt über ein gewisses Maß hinaus Interesse hätte. Divide et impera hat zum Ziel selbst als der unersetzliche Schlichter da zu stehen. Wenn der Schlichter aber nicht mehr zu schlichten vermag, dann geht er als erster seiner Rolle im Spiel verlustig. Auch gegenüber der Weltöffentlichkeit sind die USA angetreten Stabilität zu bringen, wenn nicht sogar Demokratie. Das nicht enden wollende Blutbad ist ihrer Glaubwürdigkeit sicher nicht zuträglich.

Badr versus al-Qa'idaTatsächlich gibt es ein Moment des Bürgerkrieges. Da sind auf der einen Seite die pro-iranischen Kräfte, die von den USA an die Macht gebracht wurden. Sie sind in mehr als zwanzig Jahren Krieg zu einer eigenständigen politisch-sozialen Kraft geworden, die die Rache an der Baath-Partei zum Zentrum ihrer Aktivität gemacht hat. In dem Maße, in dem der Widerstand gegen die US-Besatzung und ihre Marionetten wuchs, wurde nicht nur der Widerstand mit Baath gleichgesetzt, sondern gleich mit der ganzen sunnitischen Bevölkerung, in der dieser die stärkste Unterstützung genießt. Die Badr-Milizen, sowie auch Truppen unter Kommando der von den schiitisch-islamistischen Parteien geführten Regierung, wurden zu Todesschwadronen gegen den Widerstand, die eine antisunnitische Legitimationsideologie benutzen. Die USA unterstützen nach lateinamerikanischem Vorbild diesen schmutzigen Krieg, von dem sie sich die militärische Schwächung des Widerstands erhoffen. Tatsächlich handelt es sich um die einzigen irakischen Truppen, auf die sie sich verlassen können.

Auf der anderen Seite stehen die sunnitisch-islamistischen Kräfte vor allem um al-Qa'ida, die sich dank ihrer guten Bewaffnung, Ausbildung und ihre extremen Opferbereitschaft als Kraft etablieren konnten. Sie hängen der komplementären antischiitischen Ideologie an. Ihre noch verständlichen Argumente gegen al-Hakim und seine Badr-Milizen erhalten aber einen klar antischiitischen Ton, von dem sich alle Schiiten angegriffen fühlen müssen.

So führt ein politisch motivierter Kampf in eine sich aufschaukelnde Spirale der Gewalt zwischen den Konfessionen. Diesem können sich auch die anderen Kräfte, sowohl jene des Widerstands im sunnitischen Bereich, als auch die Bewegung Muqtada al-Sadrs nur schwer entziehen, auch wenn sie es in verschiedenster Form immer wieder versuchen.

Die USA treten auf der StelleDie offensichtlichen politischen Schwierigkeiten für den Widerstand bedeuten aber im Gegenschluss keineswegs einen Erfolg für die Besatzer. Gegen die Baath-Partei haben sie alles auf die schiitische Karte gesetzt. Ihre direkten Marionetten wie Chalabi und später Alawi sind bar jeden realen Einflusses geblieben. So mussten sie wohl oder übel die Macht an die pro-iranischen Kräfte übergeben, die sich nun mit Zähnen und Klauen daran festbeißen, mehr als den USA lieb sein kann.

Diese bereiten sich nämlich auf einen Konflikt mit der Regionalmacht Iran vor, die den Irak als Unterpfand in Händen hält. Darum versuchen die Besatzer seit geraumer Zeit ein sunnitisches Gegengewicht aus dem Baath-Milieu zu bilden. Die folgenschwere Vertreibung von Baath und der sunnitischen Eliten aus dem Staatsapparat soll rückgängig gemacht und so auch dem Widerstand das Wasser abgegraben werden.

Tendenzen, die zur Kollaboration bereit sind, gibt es. Doch der Erfolg der Operation ist keineswegs gesichert. Die Kooptierung der sunnitischen Eliten über das Parlament bleibt höchst instabil, denn dieses spielt kaum eine Rolle. Die schiitische Allianz zeigt sich nicht bereit zur Teilung der Macht. Die USA befinden sich in der Zwickmühle. Während sie auf der einen Seite den Bürgerkrieg anheizen um den Widerstand zu bekämpfen, bedürfen sie zumindest unter den Eliten der Kooperation zwischen den konfessionellen Führungen. Ihr Versuch des Austarierens hin zu einem Gleichgewicht birgt die Gefahr beide Seiten gleichermaßen zu verlieren und dann ganz ohne Pferd dazustehen.

In einem gewissen Sinn verlieren die USA immer mehr die direkte Kontrolle an regionale politisch-militärische Gruppen. Diese verfolgen zu allererst ihre eigenen Interessen, die mit jenen der USA temporär zusammenfallen können, wie es mit der schiitischen Allianz der Fall ist, oder aber auch nicht. Eines ist aber sicher: je mehr die USA die Aggressionsschraube gegen den Iran drehen, desto explosiver wird auch die Lage unter den Schiiten, deren Führung fest an der Seite Teherans steht.

PattZwischen Widerstand und Besatzung existiert also so etwas wie ein Patt. Während die Besatzer immer weniger über verlässliche Marionetten verfügen, kommt der Widerstand in der Bildung einer wirklich nationalen politischen Front nur langsam voran.

Hauptproblem bleibt der Graben zu der schiitischen Armut geführt von Muqtada al-Sadr. Dieser ist halb mit dem Widerstand, halb mit den schiitischen klerikalen Eliten und Teheran. Das hängt einerseits damit zusammen, dass im unter den irakischen Schiiten dominanten politischen Islam der Klerus eine unverzichtbare Rolle spielt, Muqtada selbst aus einer solchen Familie stammt und dieser sein Zentrum historisch im Iran hat. Andererseits verlangen die verarmten Unterklassen nach politischer Mitbestimmung, Demokratie und natürlich der Verbesserung ihrer sozialen Lage. Vom Widerstand, der sich aus Elementen der Baath-Tradition sowie einem islamisch-arabischen Nationalismus zusammensetzt, können sie das angesichts der Geschichte nicht ernsthaft erwarten. So scheint ihnen das von Amerika vermittelte Angebot besser als jenes des Widerstands, um so mehr als sie die US-Militärmacht als Werkzeug verstehen, dessen sie sich früher oder später entledigen zu können glauben. Dabei handelt es sich nicht nur um eine gefährliche Illusion. Diese ist auch durch die Machtübergabe an eine neue schiitische Elite aus Klerus, Kriegsherren und Kriegsgewinnlern erkauft.

Ein damit zusammenhängendes Problem, dass sich auch im sunnitischen Wirkungsbereich des Widerstands auswirkt, ist die politische Abstinenz und die Konzentration auf das Militärische. Man denkt einzig und allein durch den bewaffneten Kampf die Besatzung besiegen zu können. Das hängt einerseits sicher mit der starken Verwurzelung des arabischen Nationalismus im Offiziercorps und dem militärischen Charakter der Ba'th-Herrschaft zusammen, andererseits auch mit der kriegerischen Tradition der sunnitischen Stämme, die immer in Kontakt und Verbindung mit den Beduinen der arabischen Halbinsel standen.

Der Militarismus geht einher mit Stärkebezeugungen, die die Schwelle der Selbstüberschätzung weit überschreiten. Die daraus folgende Intransigenz verstellt die politische Frage der Hegemonie, der realen gesellschaftlichen Unterstützung. Oft ist man mit einem leeren Patriotismus konfrontiert, der keine Differenzierung, geschweige denn Interessensgegensätze innerhalb der Nation, einräumen will. So können die dringenden politischen und sozialen Interessen der Massen auch nicht angesprochen werden, denn allein das Ende der Besatzung ist als Klammer zu wenig, denn es gibt ganz offensichtlich auch innere Probleme.

Tatsächlich gibt es eine sunnitische Elite, die traditionell die Zügel in der Hand hielt, die durchaus das Interesse an einer Reintegration in den Staat und das Weltsystem hätte. Sie ist weder urwüchsig antiimperialistisch, geschweige denn revolutionär antikapitalistisch. Sie verlangt nur, dass sie in Würde in ihre alte Rolle wieder eingesetzt wird, wenn nötig auch mit Abstrichen. Die USA haben das bereits erkannt und bereiten die Bedingungen dafür vor. Noch können sie nicht so einfach umsatteln, aber die Stunde der Wahrheit kommt mit der Aggression gegen den Iran. Denn nicht nur die sunnitischen Eliten, sondern bis tief in die sunnitische Bevölkerung hinunter gibt es eine tiefe Aversion gegen den Iran. Das hat bisweilen ein chauvinistisches Element. Doch es enthält auch eine legitime Komponente der Selbstbestimmung, insofern Persien immer hegemoniale Ansprüche hatte. Und in der Neuzeit waren sie noch nie so real wie heute. In der Behauptung einer iranischen Besatzung, die von verschiedenen Gruppen des Widerstands aufgestellt wird, liegt trotz der Übertreibung ein Funken Wahrheit. Diese Stimmung könnte die USA zum gegebenen Zeitpunkt nutzen.

Jedenfalls sind die kollaboratio…­nistischen Tendenzen im sunnitischen Bereich unzweifelhaft vorhanden, oft manifest, aber heute wirken sie vor allem unterirdisch. Der Kern des Widerstands versucht sie erfolglos mit der Boykotthaltung zu isolieren und isoliert sich dabei selbst.

Diesen Tendenzen ist nur mit dem Projekt einer breiten politischen Front des Widerstands beizukommen, die jede Kollaboration ablehnt, die aber versucht das Volk und damit auch die schwankenden Kräfte mit den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Volkssouveränität, über die konfessionellen Grenzen hinweg zu mobilisieren und organisieren. Dabei ist die Frage von Verhandlungen und der Beteiligung an den Wahlen kein selbstständiges Prinzip, zu dem es vom Widerstand gemacht und zur eigentlichen Demarkationslinie erklärt wird. Wenn sich ein guter Teil der Bevölkerung beider Konfessionen an den Wahlen beteiligt, so heißt das auch, dass der Widerstand noch keine politische Alternative bieten kann. Die Massen tun das nicht aus Unterstützung für die Besatzung, sondern vielfach versuchen sie ihre Ablehnung der Marionetten der Besatzung auch über die Wahlen auszudrücken. Eine, wenn auch getarnte, Liste des Widerstands, wäre da durchaus zweckdienlich. In einer Situation, wo der Widerstand noch keine vollständige Hegemonie hat, kann ihm das bei der Erringung dieser helfen, statt diese Gelegenheit den wankelmütigen Kräften zu überlassen. Das gleiche gilt für Verhandlungen mit dem Feind: diese sind kein prinzipielles Zeichen der Schwäche unter den Verhältnissen eines Patt. Sie können im Gegenteil ein wertvolles Instrument der Propaganda sein. Wenn sie nicht vom harten Kern des Widerstands selbst geführt werden, so läuft dieser Gefahr, dass kompromissbereitere Kräfte sie führen - mit der großen Wahrscheinlichkeit einer Kapitulation. Nicht der Boykott von Wahlen und Verhandlungen dürfen zum Prinzip erhoben werden, sondern das Programm der vollständigen Befreiung gegen die Besatzung.

Verbreiterung der FrontDer Widerstand hat also noch einige große politische Hürden zu nehmen und muss dabei vielfach über den Schatten seiner Vorgeschichte springen - was ohne Brüche und innere Konflikte nicht möglich sein wird. Seine Entwicklung wird nicht zuletzt auch von äußeren Faktoren abhängen, die helfen könnten das Patt aufzulösen. Bleibt der Brandherd Irak isoliert oder verwickeln sich die USA in weitere Konflikte oder brechen gar befriedet geglaubte neu auf? Der Libanon kann zu einem solchen Fall werden. Sollte es Israel nicht gelingen die Hizbullah substanziell zu schwächen, so wird das auf den irakischen Widerstand und insbesondere auf die schiitischen Unterschichten anspornende Wirkung haben. Ganz zu schweigen von einem Angriff auf den Iran, der die Situation im Irak unweigerlich zur Explosion bringen würde.

Willi Langthaler
2. August 2006