Das Projekt Al-Jisr - die Brücke

20.09.2002

Ein Sommercamp für Palästinensische Kinder

Vom 30. Juli bis zum 18. August 2002 fand in Deutschland das erste Sommercamp für Kinder aus Palästina statt. Das Konzept für das Projekt wurde von drei jungen palästinensischen Psychologen, Ahmad Albaba, Nasser Abuhelou und Murad Amrou, aus Deutschland, Österreich und Frankreich, in Zusammenarbeit mit dem Palestinian Counseling Center in Jerusalem entwickelt. Das Beratungszentrum in Jerusalem suchte 18 Kinder im Alter von 13-16 Jahren, die an dem Sommerlager in Deutschland teilnehmen sollten, nach ganz bestimmten Kriterien aus. Abgesehen vom kollektiven Trauma des Palästinensischen Volkes waren alle teilnehmenden Kinder persönlich betroffen. Jedes Kind hatte seine persönliche Leidensgeschichte. Einige Kinder hatten kein Haus mehr; es war von israelischen Panzern bzw. Raketen zerstört worden. Andere hatten einen Elternteil bzw. ihre Großeltern verloren, Familienangehörige bzw. ältere Geschwister waren von israelischen Soldaten getötet worden. Andere Kinder wiederum hatten selbst schreckliche Erfahrungen mit Soldaten gemacht oder sie hatten bereits in ihrem Alter (13-16 Jahre) einen "Aufenthalt" im Gefängnis hinter sich.
Die Kinder kamen aus verschiedenen palästinensischen Städten: Dschenin, Nablus, Beit Jala, Bethlehem, Hebron, Ramallah. und Jerusalem. Der Projektleiter in Deutschland, Ahmad Albaba, versuchte auch Kinder aus Deutschland in das Projekt zu integrieren – ein 15-jähriges palästinensisches Mädchen aus Tulkarem, das in Deutschland aufgewachsen ist, meldete sich und konnte sich sehr schnell in die Gruppe der Kinder aus Palästina integrieren. Sie war eine große Bereicherung für die anderen Kinder, da sie ihnen als Gleichaltrige ihre Erfahrungen aus Deutschland, aus einem Leben unter friedlichen und menschenwürdigen Bedingungen, mitteilen und sich mit ihnen austauschen und diskutieren konnte.
Bis sie das evangelische Gemeindezentrum Bensberg bei Köln am 30.07 endlich erreichte, musste die Gruppe aus Palästina erst eine äußerst anstrengende Reise voller Hindernisse und Strapazen bewältigen.
Am 27. Juli waren alle Kinder der Gruppe in Jerusalem angelangt. Der Transport aus den verschiedenen Städten erfolgte großteils via Ambulanz bzw. Notarztwägen, um unnötige Schwierigkeiten und lange Verzögerungen an den zahlreichen "Checkpoints" auf dem Weg zu vermeiden. Das klappte ganz gut, die Kinder versammelten sich mit den BetreuerInnen in der Hauptstadt und gingen auf das Jabus-Festival in der Altstadt, wo Lieder des verstorbenen ägyptischen Sängers Scheich Imam interpretiert wurden.
Bei drei Kindern waren Probleme beim Erstellen der Visa aufgetaucht. Es handelte sich dabei um die drei Jugendlichen aus Jerusalem, die alle nur "temporäre" Pässe hatten. Mit diesen Pässen darf man nicht aus Palästina ausreisen. Während die restliche Gruppe am nächsten Tag weiter nach Amman reiste, blieben diese Kinder in Jerusalem. Der zuständige Projektkoordinator in Palästina, Jawad Dweik, setzte sämtliche Hebel in Gang und investierte seine gesamte Energie in den "Kampf" mit den Ministerien und Behörden in Jerusalem. Irgendwie hat er es dann schließlich geschafft, drei neue Pässe bzw. Visa für diese Kinder zu bekommen und ihnen somit die Ausreise und die Teilnahme an dem Sommercamp ermöglicht.
Die Gruppe, die sich inzwischen schon auf dem Weg nach Amman befand, erwarteten ebenfalls einige Schwierigkeiten. Bei ihrem ersten Versuch, die israelische Kontrolle an der Grenze zwischen dem Westjordanland und Jordanien (auf der Brücke zwischen dem Israel und Jordanien, genannt Al-Jisr) zu passieren, wurde die gesamte Gruppe zurückgeschickt. Zurück in Jericho riefen sie sofort bei dem vierköpfigen Betreuer-Team in Deutschland an – die Gruppe in Deutschland hatte mit Problemen gerechnet – dennoch wurden ihre Nerven durch diese Nachricht einmal mehr extrem strapaziert. Alle dachten dies sei das Ende des Projekts – hektisch und nervös wurde hin und her telefoniert, alle möglichen Kontakte aktiviert... schließlich war es den Kindern und BetreuerInnen durch das einzigartige Engagement und die Intervention des Deutschen Botschafters in Amman, Herrn Doktor Schneller, doch möglich die Grenze zu passieren und Amman zu erreichen. Er wartete persönlich an der jordanischen Grenze über sieben Stunden lang bei 45 Grad auf die Ankunft der Gruppe.
Am 30. Juli kam die erste Gruppe in Deutschland an, die zweite Gruppe, die drei Jugendlichen aus Jerusalem , mit einer Betreuerin, kamen am darauffolgenden Tag, an dem das große Begrüßungsfest mit vielen Besuchern stattfand. Die Gruppe reagierte sehr positiv auf die vielen Besucher, im Großen und ganzen verhielten sich die meisten Kinder während des ganzen Sommercamps immer sehr offen und kommunikativ.
Das ARD-Morgenmagazin zeigte sich sehr interessiert an dem Projekt und interviewte zwei Kinder aus Bethlehem und ihre Familien. Die Berichterstattung über den Aufenthalt in Deutschland wurde vom WDR-Team in Köln übernommen.
Das Programm des Sommercamps war sehr vielfältig und ausgewogen: Es wurden einige Aktivitäten im Haus angeboten, wie zum Beispiel Computerunterricht, Deutschunterricht, Filmworkshops, Kalligraphie, Malen, Zeichnen und kreatives Gestalten bei einer ständig anwesenden (Mal-)Betreuerin (D. Sözen). Die psychologischen BetreuerInnen organisierten nebst den zwei-mal-täglichen Vollversammlungen und offenen Diskussions- und Reflexionsrunden für die Jugendlichen auch verschiedenste Aktivitäten wie tägliches Musizieren und Tanzen. Das Malen und das Musizieren spielten eine zentrale Rolle, da die Kinder dabei all ihre Emotionen (Aggression, Frustration, Schmerz, Angst, Sehnsucht nach Liebe, etc.), die sich nicht durch Worte ausdrücken ließen, ausdrücken konnten. Ein Junge imitierte sehr realistisch die Laute und Geräusche verschiedenster Waffenarten und Hubschrauber mit einem Mikrofon – und konnte somit ohne Worte (s)eine Geschichte erzählen. Ein anderes Kind malte sehr detailgetreu und sorgfältig den Angriff der israelischen Armee auf seine Stadt, Dschenin.
Auch außerhalb des Hauses wurden viele Ausflüge und Aktivitäten organisiert. Abends war das Haus täglich für Interessierte und Gäste offen. Ein "Highlight" stellte der Besuch des Märchenerzählers Burhan Karkutli dar.
Insgesamt gab es fünf Arztbesuche. Ein Junge musste sogar operiert werden: Er war vor einigen Monaten von einer Granate verletzt worden und hatte noch einige Granatsplitter im Hals, die sich inzwischen entzündet hatten und ihm große Schmerzen verursachten. Es verlief alles gut. Er wird vermutlich in einigen Wochen oder Monaten noch einmal nach Deutschland eingeladen werden, damit weitere Verletzungen an der Hand fachärztlich behandelt werden können.
Fast täglich kam Herr Graf, der Pfarrer der dortigen evangelischen Gemeinde, vorbei, um für gute Stimmung zu sorgen bzw. um sie gegebenenfalls mit seiner Gitarre und Mundharmonika zu verbessern. Er war bereits während der gesamten, strapaziösen Vorbereitungsphase sehr hilfsbereit gewesen, da er das Konzept und die Philosophie des Projekts unterstützt. Er konnte seine Kirchengemeinde dazu mobilisieren das Projekt mit-zu-unterstützen. Ein Großteil der Kosten für die Flugtickets wurde von der Evangelischen Kirche Bensberg gedeckt – zudem stellten sie das Haus zur Verfügung. Deshalb ist Herr Graf auch einer der "Helden des Projekts".
Gegen Ende des Sommercamps kam die Leiterin des Palestinian Counseling Centers in Jerusalem, Rana Nashashibi, mit vier weiteren Kolleginnen auf Kurzbesuch – sie gaben dem Team noch einmal moralische Unterstützung.
Zumal das Projekt in Deutschland nur von StudentInnen und mit Hilfe von Spenden und freiwilligen HelferInnen organisiert wurde, waren einige kleine organisatorische Probleme nicht zu verhindern – trotzdem sind sich alle einig, dass es ein voller Erfolg ist. Die Persönlichkeit der Kinder wurde im Zuge ihrer neuen Erfahrungen und Erlebnisse, auch durch das Erwerben neuer Fertigkeiten und das Kennenlernen von verschiedenen Ausdrucksformen, gestärkt. Zudem haben sie zum ersten Mal erfahren, was "Frieden" und "Freiheit" ( bzw. "Bewegungsfreiheit", d.h. ein Leben ohne "Curfew" und "Checkpoints") bedeuten, haben bei den täglichen Diskussionsrunden und Versammlungen demokratische Ausdrucksmittel der freien Meinungsäußerung erfahren und erprobt, sind viel "bewusster" geworden.
In den Abschlussbesprechungen während der beiden letzten Tage hat das Team viel positives Feedback von Seiten der Kinder bekommen. Sie waren sehr zufrieden und hatten das Gefühl, persönlich viel profitiert zu haben.
Den OrganisatorInnen und freiwilligen HelferInnen ist klar, dass dieses Projekt erst einen Anfang darstellt. Die Kinder und BetreuerInnen sind am 18. August wohlauf zuhause angekommen – aber das Projekt Al-Jisr (die Brücke) ist deshalb noch lange nicht zu Ende. Es wird zur Zeit intensiv über die Organisation eines ähnlichen Sommercamps in Österreich oder in Frankreich nachgedacht – bzw. über ähnliche Projekte in anderer Form.
Wir haben erst begonnen!

Nabawiya
August 2002

Weitere Informationen unter: www.aljisr.de