Palästina: Zwischen Machtkampf und Ohnmacht

10.09.2008

aus Intifada Nr. 26

Einige Monate sind seit der Unterzeichnung des "Waffenstillstands" zwischen der Widerstandsregierung im Gazastreifen und Israel vergangen. Das Abkommen ist das Ergebnis langer indirekter Verhandlungen, bei denen Ägypten eine Schlüsselrolle als Vermittler spielte und auf die Hamas-Führung erheblichen Druck ausübte. Obwohl die Vereinbarung -noch - gültig ist, hat sich am Alltag der Konfrontation nur wenig geändert. Die israelischen Angriffe im Westjordanland und auch im Gazastreifen gehen weiter, die Blockade von Gaza bleibt, mal enger mal lockerer, aufrecht und gewinnt durch die Beteiligung der Nachbarstaaten und die Abmachungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) in Ramallah langsam einen "legalen" Status. Die "Weltgemeinschaft" schaut bestenfalls zu, während die USA und Europa Mittäter sind.

Unfähig oder ungewillt, eine alternative politische Führung zur kollaborierenden Behörde von Abbas in Ramallah zu schaffen, dreht sich die interne palästinensische Politik seit den Wahlen von 2006 und spätestens seit der militärischen Machtübernahme von Hamas in Gaza im Kreis.

Hamas zahlt für den Waffenstillstand zunehmend einen hohen Preis.

Israel musste zwar die Forderung nach der sofortigen und bedingungslosen Freilassung des gefangenen Soldaten als Bedingung für den Waffenstillstand fallen lassen. Die daraus entstandene kleine politische Wunde in Israel wurde jedoch mit der Aufrechterhaltung der Blockade und regelmäßigen Angriffe im Westjordanland gestillt. Schon in den ersten Stunden des Waffenstillstands ermordeten israelische Spezialeinheiten palästinensische Aktivisten im Westjordanland.

Viel höher war der Preis auf der palästinensischen Seite. Die Hamas, die schon immer einen umfassenden, langfristigen Waffenstillstand vorschlug, was Israel immer ablehnte, akzeptierte ein Teilabkommen für Gaza. Somit gehen die israelischen extralegalen Hinrichtungen palästinensischer Aktivisten im Westjordanland weiter, während die Antwort des Widerstands, die aus logistischen Gründen meistens aus Gaza kam, nun ausbleibt.

Weiters verpflichtete sich Hamas zum ersten Mal, für die Einhaltung des Abkommens seitens aller Organisationen zu sorgen und erlegte sich damit eine schwere Aufgabe auf. Allein von Hamas unterzeichnet, lehnen alle anderen palästinensischen Organisationen, inklusive Fatah (!) das Abkommen ab bzw. kritisieren es. Besteht Hamas auf die Durchsetzung des Waffenstillstands, könnte sie in Konfrontation nicht nur mit den anderen Widerstandsorganisationen, sondern möglicherweise sogar mit ihrem eigenen militärischen Flügel geraten. Vorwürfe der Kollaboration und Vergleiche mit der kritisierten Politik der PNA könnten aufkommen. Das Entstehen von radikaleren salafistischen Organisationen im Gaza-Streifen ist ein Zeichen dafür, wie unzufriedene Hamas-Mitgliedern bereits erfolgreich von diesem Milieu angeworben werden.

Indes kann sich der Waffenstillstand schwerlich als Errungenschaft vermarkten, zumal sich an der Blockade, den israelischen Angriffen im Westjordanland (und teilweise auch in Gaza) und allgemein am Alltag der Palästinenser im Gazastreifen kaum etwas geändert hat.

Das leitet Wasser auf die Mühlen der PNA in Ramallah und der Fatah, die diesmal Kritik "von links" üben durfte und sogar militärische Aktionen vom Gazastreifen aus unternahm. Die Verhaftung der Führer der Fatah-nahen Aqsa-Brigaden durch Hamas war genau das, was die Fatah provozieren wollte: einen scheinbarer Rollentausch, um die Glaubwürdigkeit der Hamas als Trägerin des Widerstands zu erschüttern.
Weitere Verhaftungen von Mitgliedern des Islamischen Dschihad und der linken Volksfront PFLP sind jedoch ernster zu nehmen, da dies die Möglichkeit der Bildung einer politischen Front des Widerstands im Gazastreifen weiter erschwert.

Die Führung der Hamas ringt mit großen Anstrengungen um internationale politische Anerkennung. Tatsächlich kann ihr als Sieger der Wahlen von 2006 niemand ernsthaft die demokratische Legitimität als Vertretung der Palästinenser in den besetzten Gebieten streitig machen, so sehr das Israel und der Westen auch versuchen. Die Befreiung des Gazastreifens von den Siedlern ist großteils ihren Kämpfern zu verdanken. Da sie den Streifen nun de facto kontrolliert, ist sie als Partner für Friedensgespräche unvermeidbar und unerlässlich. Die zur Schau gestellte Bereitschaft von Hamas, den politischen Preis für diese Anerkennung zahlen zu wollen, wird von Israel und dem Westen ignoriert. Diese Bereitschaft seitens Hamas war auch der Grund, warum die Massenbewegung, welche die Grenzen zu Ägypten gesprengt hatte, wieder gestoppt wurde. Doch die von der Hamas gehegten Hoffungen, drohen enttäuscht zu werden und Frustrationen auszulösen. Man ist aber nicht bereit sich über die offensichtlichen Probleme einer objektiv schwierigen Lage Rechenschaft abzulegen. Jedes Gespräch mit einem kleinen internationalen Politiker wird als eine politische Errungenschaft präsentiert. Die Sprecher von Hamas betonen sogar, dass die Gespräche mit dem jordanischen Geheimdienst vom 19. August 2008 "politischen Charakter" gehabt hätten.

Was auf der einen Seite legitimes Bedürfnis der Bevölkerung nach Ruhe, Sicherheit oder zumindest einer Atempause sein kann und von der Politik reflektiert werden muss, droht auf der anderen Seite politisch zu weit zu gehen und die Integrität der historischen Forderungen des Widerstands zu beschädigen.

Zumal die libanesische Krise gezeigt hat, dass die USA eine Eskalation bevorzugen, die so lange dauern soll, bis eine Lösung für die Iran-Krise gefunden wird. Noch jeder Kompromiss, der zwischen Hamas und Fatah erreicht wurde, brach unter dem US-Druck zusammen. Von Seiten des Zionismus ist derzeit auch nicht das kleinste Zugeständnis zu erwarten.

Das Unvermögen der Hamas, die Kollaborateure in Ramallah politisch zu isolieren, eine breite, einschließende politische Alternative zu Abbas zu formieren und das PNA-Regime schließlich zu Fall zu bringen, vertieft die Misere der gesamten Widerstandsbewegung. Beharrend auf ihren exklusiven Führungsanspruch innerhalb des Widerstandslagers, und unfähig, wenigstens eine gemeinsame Führung im Gazastreifen aufzubauen, wird die Führung von Hamas alleine für die kommenden politischen und militärischen Schlappen verantwortlich gemacht werden.

Für die humanitäre Katastrophe in Gaza, die sich zu einem schleichenden Massenmord auswächst, ist jedoch allein die "freie Welt" verantwortlich.

Mohammed Aburous
20. August 2008