Stacheldrähte wie in Palästina

14.03.2004

Bericht von einer Reise nach Palästina und Irak

Natürlich war ich aufgeregt als wir uns der König-Hussein-Brücke, die über den Jordan führt, näherten. Meine beiden Mitreisenden hatte ich vor dem Krieg in Bagdad kennen gelernt, als wir gemeinsam als menschliche Schutzschilde mithelfen wollten den Kriegsausbruch zu verhindern. Um es kurz zu machen, die Einreiseprozedur nach Palästina ist langwierig und unangenehm. Es sind keine hundert Kilometer von Amman nach Jerusalem. Wir stiegen um sieben Uhr in Amman ins Taxi und waren um 16 Uhr in Jerusalem. Die israelischen Grenzsoldaten sind äußerst penibel. Für Palästinenser kann es Tage dauern.
In Jerusalem trennten sich unsere Wege. Ich war überrascht, wie landschaftlich schön und gepflegt das Westjordanland ist. Die Olivenhaine sehen von der Ferne wie Weinberge aus, in Terrassen angelegt, eine uralte Kulturlandschaft. Um dort von Ort zu Ort zu kommen bedarf es allerdings Zeit, Geduld und Geld. Jerusalem etwa ist nur sieben Autominuten von Bethlehem entfernt, aber für die meisten Einwohner dieses geschichtsträchtigen Ortes, auch für die Christen, unerreichbar. Eine Frau sagte mir: "Aus der ganzen Welt kommen Menschen nach Jerusalem – wir können nicht."
Von Jerusalem nach Ramallah sind es zwanzig Kilometer. Man nimmt also ein Taxi beim Damaskus-Tor und nach ein paar Kilometern heißt es Aussteigen, wir sind beim Qalandiya-Checkpoint angelangt, in die Schlange einreihen. Glücklich alle jene, die kein Gepäck zu schleppen und gutes Wetter erwischt haben. Bei Regen versinkt man bis zur halben Wade im Schlamm und bei der Sommerhitze ist es auch kein Vergnügen. Es sind einige hundert Meter zu überwinden, bis man wieder in ein anderes Taxi auf der anderen Seite einsteigen darf, nachdem Pass und Gepäck von israelischen Soldaten kontrolliert wurden, die alle mit Maschinengewehren und anderen Dingen ausgerüstet sind. Halbe Kinder, die über Leben und Tod entscheiden. Ausländische Besucher werden normalerweise bevorzugt behandelt.
Solche Checkpoints gibt es zu Hunderten und dazu kommen noch die Straßenblockaden. Fast jedes palästinensische Dorf ist damit versehen, die Städte sowieso. Ein Erdhaufen gespickt mit Felsbrocken oder manchmal Betonblöcke verhindern das Durchkommen per Auto. Jede zu liefernde Ware muss abgeladen werden, über den Dreckhaufen – oder was auch immer die Blockade ausmacht – geschleppt werden, ein anderes Fahrzeug für die andere Seite bestellt und die Ware wieder aufgeladen werden – bis zum nächsten Checkpoint oder zur nächsten Blockade. Ich habe beobachtet, wie eine ganze Wagenladung von großen, schweren Propangasflaschen abgeladen, über Blockaden geschleppt und auf der anderen Seite wieder mühsam aufgeladen wurde. Eine zeit-, geld- und kräfteraubende Prozedur, die reinste Schikane, das hat nichts mit Sicherheit zu tun. Es wäre natürlich leicht für ein paar kräftige Männer diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, dann ist allerdings mit schweren kollektiven Strafen zu rechnen. Kein Palästinenser getraut sich auch nur eine Erdkrume zu entfernen. Die wirtschaftliche Strangulierung ist beabsichtigt.
Über Nacht wurde ein Checkpoint errichtet, der das Dorf in zwei Hälften teilte. Wir, eine Gruppe von neun Ausländern, mussten erleben, wie Menschen sechs Stunden vor dem geschlossenen Checkpoint warten mussten, manche knieend. Uns wurde erlaubt zu passieren, allerdings weigerten wir uns und teilten den Soldaten mit, wir würden mit den Palästinensern warten, worauf der Checkpoint geöffnet wurde. Am nächsten Tag war er wieder geschlossen. Ich kann mich nur wundern, mit welcher Engelsgeduld die Palästinenser diese Schikanen, Erniedrigungen und Demütigungen ertragen.
Unter den vielen Ereignissen in der kurzen Zeit war auch eine friedliche Demonstration gegen die Mauer, zusammen mit Palästinensern und vielen Internationalen, bei der die israelischen Soldaten mit Tränengas auf uns schossen. Der Wind war allerdings auf unserer Seite und blies das Zeug wieder zurück.
Anfang Januar ging es weiter in den Irak. Die Ausreise war ohne Probleme. Wie kamen um 19 Uhr in Amman an und fuhren noch in der Nacht um ein Uhr weiter nach Bagdad. Es war eng, fünf Passagiere und der Chauffeur. Um sieben Uhr passierten wir die jordanisch-irakische Grenze. Die Jordanier kontrollieren genau, dagegen ist die irakische Grenze ein Witz. Ein Visum war nicht erforderlich, unser Chauffeur stieg aus, nahm die Pässe, verschwand hinter einem Verschlag, war nach zwei Minuten wieder mit den gestempelten Pässen zurück – das war´s. Zwei amerikanische Soldaten saßen gelangweilt auf einer Bank, niemand kontrollierte, ob die Pässe mit den Insassen des Autos übereinstimmten, geschweige denn eine Gepäckskontrolle. Eine kleine Kostprobe der neuen Freiheit im Irak. Im Niemandsland gibt es eine Zeltstadt, es war nicht zu eruieren, wie viele Menschen dort gestrandet sind.
Gegen Mittag erreichten wir den Euphrat und damit hat die Wüste ein Ende. Es wird grün, plötzlich gibt es Palmen und anderes Gebüsch, aber auch erste erkennbare Zeichen des Krieges. Die Leitplanken sind niedergewalzt, auch eine Brücke zerstört, wir mussten die Autobahn verlassen und auf einer Piste durch das trockene Wadi die zerstörte Brücke umfahren. Es sind fast nur Tankfahrzeuge und Autotransporte unterwegs. Unentwegt werden neue, alte Autos nach Bagdad gekarrt. Falluja war schon vor den Ankündigungstafeln zu erkennen. Es kreisten die Hubschrauber und die ersten Militärkonvois tauchten auf. Ein Grund für mich nervös zu werden, denn wo amerikanische Soldaten – da Gefahr. Wir erreichten Bagdad ohne Zwischenfälle, große Wiedersehensfreude mit Donna, Uzma, Helen, Kevin, Gordon – alle ehemalige menschliche Schutzschilde, die zum Teil über den Krieg geblieben waren und jetzt ein Straßenkinderprojekt auf die Beine stellen. Straßenkinder gab es vor dem Krieg nicht. Sie leisten Großartiges – sie und ihr Projekt mit eigenen Augen zu sehen und auch zu erfahren, was aus Bagdad geworden ist, das war der Grund meiner Reise. Es gibt viel Zerstörung, das ehemalige Pressezentrum total ausgebrannt, die Rashidstraße hat es arg erwischt, dort liegt noch der Schutt herum, viele ausgebrannte Gebäude, die Uferstraße (Abu-Nawas-Straße) gegenüber dem Regierungsviertel gesperrt. Dort gibt es mehrere Galerien, die sich durchaus mit westlichen messen können. Vor dem Krieg kaufte ich in einer vier Bilder und war natürlich sehr erfreut, dass Besitzer und Gebäude den Krieg äußerlich ohne Schaden überlebt hatten. Diesmal erstand ich nur drei Bilder. Ahmad erkannte mich sofort wieder und wir hatten ein längeres Gespräch bei Tee und Kuchen. Er ist froh, dass Saddam weg ist, allerdings wie die meisten, mit denen ich gesprochen habe, enttäuscht über die neue Freiheit – Marke Amerika. Seitdem die Straße gesperrt ist, kommen auch keine Kunden vorbei, obwohl das Hotel Palestine nur einen Steinwurf entfernt ist. Strom gibt es nur stundenweise – Pech für alle, die sich keinen Generator leisten können. Das ist die Mehrheit. Benzin ist ebenfalls Mangelware – kilometerlange Schlangen vor den wenigen offenen Tankstellen, das bedeutet sechs bis acht Stunden Wartezeit. Offizieller Preis für einen Liter Benzin ist zwanzig Dinar, am Schwarzmarkt für fünfhundert Dinar pro Liter zu haben. Wohin das schwarze Gold versickert, niemand weiß es. Brandverletzungen vor allem bei Kindern sind in unerträglicher Weise gestiegen, weil sich fast niemand das Kerosin für die Öfen zum Heizen und Kochen leisten kann und die Leute deshalb irgendein minderwertiges Gemisch zusammenbrauen, das ganz leicht explodiert. Das Telefonnetz noch immer nicht repariert, seit 1. Januar 2004 gibt es Handies, aber wer kann sich das schon leisten. Es gibt keine Arbeit, kein Einkommen. Der reichste Mann in Bagdad ist angeblich der Besitzer eines privaten Sicherheitsdienstes – die sind überall anzutreffen, vor Banken, Geschäften, Internetshops. Die meisten Autos sind ohne Kennzeichen und viele Fahrer nützen die neue Freiheit und kümmern sich nicht um Verkehrsregeln. Irakische Polizisten sind kaum auf der Straße, genauso wenig wie amerikanische Soldaten. Die fahren nur in ihren gepanzerten Ungetümen die Straßen auf und ab und verbreiten Angst und Schrecken. Die Militärverwaltung CPA (Coalition Provisional Authority) hat sich in den Palästen Saddam Husseins eingenistet (regime change), die Soldaten wohnen in den Militärlagern, die sie bevorzugt neben den ehemaligen "family amusement parks" errichten. Wir waren eines Tages mit den Straßenkindern in einem Bus unterwegs und mussten vor drei solcher Einrichtungen kehrt machen, weil daneben die Amis ein Camp errichtet und das ganze Areal mit rasiermesserscharfem Stacheldraht umzäunt haben. Dieser Draht erfreut sich jetzt im Irak genauso großer Beliebtheit wie in Palästina. Ansonsten herrscht Chaos. Müllabfuhr funktioniert noch immer nicht. Wir fuhren sehr viel in Bagdad herum. Ich habe nirgendwo gesehen, dass irgendetwas repariert wurde. Allerdings, die Eingangshallen des Palestine und des Sheraton Hotels wurden neu und sehr chic gestaltet, offensichtlich damit die armen Businessmen nicht Heimweh bekommen.
Frauen im Irak sind zunehmend alarmiert, seit bekannt wurde, dass das bestehende Familienrecht abgeschafft und islamisches Recht eingeführt werden soll. Diese neue Gesetz wurde vom 25-köpfigen Regierungsrat mit einer geringen Mehrheit hinter verschlossenen Türen am 29. Dezember beschlossen und von konservativen schiitischen Mitgliedern ausdrücklich befürwortet. Das alte Gesetz war nicht perfekt, aber es war das modernste und fortschrittlichste in der islamischen Welt. Was die Frauen am meisten schmerzt, ist, dass die Gesetze während der Tyrannei von Saddam Hussein moderner und liberaler waren als die zu erwartenden neuen Gesetze. Seit 1959 wurde das zivile Familienrecht ständig verbessert und weiterentwickelt. Das alte Gesetz verbietet die Eheschließung vor dem 18. Lebensjahr, die eigenmächtige Scheidung, die männliche Bevorzugung bei der Vormundschaft der Kinder und befürwortet die Gleichbehandlung der Geschlechter beim Erbrecht.
Es ist zu befürchten, dass diese Änderung die irakischen Frauen um Jahrhunderte zurückwerfen wird, wie das die afghanischen Frauen erleben mussten. Nach dem Sturz von Saddam Hussein haben viele Frauen gehofft, dass die neuen Autoritäten das Familiengesetz weiter liberalisieren würden, statt dessen wird das neue Gesetz die irakischen Frauen zurück ins Mittelalter bringen. Es wird jedem Mann erlauben vier bis sechs Frauen zu haben und den Frauen die Kinder wegzunehmen. Es wird jedem Mann, der sich als Kleriker bezeichnet, erlauben, ein islamisches Gericht zu eröffnen und ihm das Recht einräumen zu entscheiden wer heiraten oder sich scheiden lassen darf. Während verschiedener Treffen haben Frauen wiederholt darauf hingewiesen, dass sie sogar während der repressivsten politischen Unterdrückung der Saddam-Ära vor unfairen Interpretationen der Sharia geschützt waren. "Wir müssen das neue Gesetz verhindern", sagte Zakia Ismail Hakki, eine pensionierte Familienrichterin und ausgesprochene Gegnerin des neuen Gesetzes.
Es war nicht einfach mich wieder in Wien zurecht zu finden. Die ersten paar Tage fühlte ich mich als wäre ich im Hotel Palestine in Bagdad – das ist nicht die Wirklichkeit, eine kleine Insel in all dem Chaos rundherum.

Waltraud Schauer