Buchbesprechung: "Comment le peuple juif fut inventé" (Wie das jüdische Volk erfunden wurde)

27.01.2009

Intifada Nr. 27, von Shlomo Sand

Shlomo Sand: "Comment le peuple juif fut inventà©" (Wie das jüdische Volk erfunden wurde) (Fayard, Paris, 2008). Zurzeit liegt das Buch in der hebräischen Originalsprache und in französischer Übersetzung vor, englische und arabische Ausgaben sind in Vorbereitung.

In diesem grundlegenden Werk - ein Bestseller in Israel und Frankreich - mistet der israelische Historiker und Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, Shlomo Sand, den Augiasstall sowohl der traditionellen jüdischen wie auch der zionistischen Geschichtsschreibung aus. Das Buch ist eine Herausforderung Israels heiligster Tabus.

Im Gegensatz zu den gängigen israelischen und jüdischen Auffassungen entstand die jüdische Diaspora Sand zufolge nicht aus der Vertreibung der antiken Judäer aus dem damaligen Palästina, sondern aus Konversionen zum Judentum von zahlreichen Römern, Griechen, Puniern and Angehörigen anderer Völker des Nahen und Mittleren Ostens. Sands Beweisführung erschüttert die Grundfesten des Zionismus. Bis vor einem Jahrhundert nahmen die Juden ihre Identität vor allem in ihrer Religion wahr. Da dies dem aufkommenden Zionismus als nationale Bewegung nicht genügte, propagierten zionistische Ideologen die Idee, dass die Juden nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern ein "ethnos", eine Nation, seien und überzeugt werden müssten, aus dem "Exil", in das sie vertrieben worden waren, als Antwort auf den Antisemitismus in ihr Ursprungsland zurückzukehren.

Sand entlarvt den Begriff einer einheitlichen jüdischen Nation - ein Hauptargument in der Rechtfertigung für die Schaffung eines jüdischen Staates - als Mythos, der mit dem Zionismus geboren wurde. Der Historiker stützt sich dabei auf äußerst umfangreiches Quellenmaterial von der Antike bis zur Gegenwart sowie auf die jüngste archäologische Forschung. Er weist nach, dass die antiken Judäer nach ihren erfolglosen Aufständen gegen die römische Herrschaft (70 und 135 n.Chr.) nicht ins Exil getrieben wurden, sondern dass ihnen nur der Zugang zu Jerusalem einige Zeit verwehrt blieb. Wie aus der römischen Geschichte hervorgeht, hatten die Römer nie ein ganzes Volk exiliert. Außer einer kleinen Zahl von Kriegsgefangenen und Zivilisten, die versklavt wurden, blieb die große Mehrheit der Judäer in ihrem Land. Es gibt nach Sand keinerlei historische Quellen, die eine Vertreibung ins Exil nachweisen. Das Exil ist ein von den frühen Christen verbreiteter Mythos - eine Strafe Gottes für die Kreuzigung Christi, die die Juden zu ewiger Wanderschaft verurteilt. Dieser Mythos verankerte sich tief im Bewusstsein der Völker und selbst der Juden. Wie bei Josephus Flavius (dem ersten jüdischen Historiographen und Zeitzeugen) nachzulesen ist, waren die im Land gebliebenen Judäer mehrheitlich Bauern. Händler, Söldner, kulturelle Eliten bildeten eine Minderheit. Ein Teil der Bewohner Palästinas bekehrte sich im 4.Jh. zum byzantinischen Christentum, der Großteil aber nach der arabischen Eroberung im 7.Jh. zum Islam. Die These, dass viele der heutigen Palästinenser die Nachfahren der damals zum Islam bekehrten Juden sind, wurde bereits 1918 von David Ben Gurion und dem späteren Präsidenten Ben Zwi in einem Buch veröffentlicht. Nach der palästinensischen Revolte von 1929, die Ben Gurion zutiefst entsetzte, geriet diese These in Vergessenheit.

Wenn es nun aber keine Vertreibung und kein Exil gab, woher kamen die zahlreichen Juden, die in den Städten rund ums Mittelmeer und Vorderasiens lebten und Gemeinden gründeten?

Laut Sand war das Judentum seit dem 2.Jh eine stark proselytierende Religion. Unter der judeo-hellenischen Herrscherdynastie der Hasmonäer in Judäa, während eines Jahrhunderts der Unabhängigkeit (140 - 40 n.Chr.), wurden Nachbarstämme (Idumäer, Ituräer) mit mehr oder weniger Gewalt zum Judentum konvertiert. Konversionen waren im ganzen Nahen Osten und im Mittelmeerraum häufig. Zahlreiche Hinweise auf das jüdischen Prolelytentum finden sich bei Josephus Flavius und bei lateinischen Autoren wie Strabon, Horaz, Seneca, Juvenal, Tacitus - nicht immer freundlich - und selbst in der jüdischen religiösen Literatur, d.h. im Talmud und der Mischna.

Der Sieg des Christentums setzte dem jüdischen Proselytismus aus Konkurrenzgründen zwar im Mittelmeerraum ein Ende, nicht aber in Randgebieten. So entstand im 5.Jh. ein jüdisches Königreich - Himyar - im heutigen Jemen. In arabischen Chroniken des 7.Jh. wird über judaisierte nordafrikanische Berberstämme berichtet, die zwar zuerst dem Islam Widerstand leisteten, aber im 8.Jh. eine führende Rolle in der Eroberung der spanischen Halbinsel innehatten und mit den Juden, die bereits seit Jahrhunderten dort lebten, die Grundlage für die jüdisch-arabische Kultur in Andalusien schufen.

Die bedeutendste, auch dokumentierte, Konversion war im 8.Jh. die der Khasaren, ein Turkvolk, dessen Königreich sich in Südrussland vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer erstreckte. Es ist nicht klar, ob es sich bei der Konversion um das ganze Volk oder nur einen Teil handelte, bestimmt aber um den König, den Kagan, und die Elite. Jedenfalls wurden die Khasaren durch den Mongoleneinfall im 13.Jh. in die Ukraine gedrängt, wo sie sich mit den Juden aus den südslawischen Gebieten und den aus Deutschland nach Osteuropa eingewanderten Juden vermengten und im Laufe der Zeit deren Sprache, das Yiddische - eine aus hebräischen, slawischen und deutschen Dialekten bestehende Sprache - annahmen. Das jüdische Viertel hieß z.B. im alten Kiew (ein Name türkischen Ursprungs) auch das der "kuzar", "der Khasaren". All diese pluralistischen Ursprünge der Juden - übrigens reichlich dokumentiert in unübersetzten amerikanischen historischen aber auch in israelischen hebräischen Abhandlungen und Monographien - finden keine Erwähnung in der offiziellen israelischen zionistischen Historiographie, die grosso modo am traditionellen Geschichtsbild der Juden als "ethnos" einheitlichen Ursprungs von der Antike über das "Exil" bis zu "Rückkehr" ins Gelobte Land festhält.

Interessanterweise stießen Shlomo Sands Thesen in Israel kaum auf Widerspruch. Tom Segev, einer der bekanntesten Journalisten und Historiker, fand das Buch "faszinierend und herausfordernd". Sand führt die Zurückhaltung seiner Historikerkollegen auf eine stillschweigende Zustimmung vieler zurück, für die das Unterrichtsfach "Jüdische Geschichte" ein Kartenhaus ist. In Israel ist die offizielle jüdische Geschichtslehre neuen Erkenntnissen aus der Forschung in Archäologie und Geschichte unzugänglich.

Peter Melvyn