„Revolution der Revolution nötig“

20.10.2013
Von Wilhelm Langthaler
Gespräch mit Waseem Haddad*, einem Aktivisten der syrischen demokratisch-revolutionären Bewegung, über die Genfer Verhandlungen, das Ziel einer Übergangsregierung und die konfessionell-militärische Eskalation
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* Waseem Haddad, Mitte 30, Religionswissenschaftler an der Universität Wien, stammt aus Tartous, Syrien. Er engagiert sich in der demokratischen Opposition, tritt gegen ausländische Intervention und für eine politische Lösung ein, die keinen Verzicht auf die demokratischen Forderungen bedeutet.

F: Warum kommt Genf II, die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition, nicht in die Gänge?

A: Viele Menschen sehen eine politische Lösung, konkret die Genfer Verhandlungen, als einzige Hoffnung. Doch die Vorbereitungen leiden unter zahlreichen Schwierigkeiten. Seitens des Regimes wird ein großer Teil der Opposition nicht anerkannt und entsprechend von Verhandlungen ausgeschlossen. Sie wollen mit niemandem an einem Tisch sitzen, der die Waffen gegen sie in die Hand genommen hat oder der ein ausländisches Eingreifen fordert. Sie sagen: „Wir verhandeln nicht mit Terroristen oder Verrätern.“ Was heißt das, wenn sie nur mit der patriotischen Opposition verhandeln wollen? Damit bestimmen sie, wer patriotisch ist und wer nicht. Seitens der Opposition besteht das Problem, dass sie nach wie vor stark zersplittert ist. Darüber hinaus hat sie es bis jetzt nicht geschafft, sich auf ein einheitliches politisches Programm zu verständigen.

Dann ist da der zentrale Streitpunkt über die Person Assad. Die große Mehrheit der Opposition sieht den Rücktritt Assads als Voraussetzung für Verhandlungen. Das Regime, auf der anderen Seite, will Präsident Assad nicht in Frage gestellt wissen. Seine Formel lautet, dass Verhandlungen an keine Bedingungen geknüpft werden dürfen.

Hinzu kommt die ausländische Einmischung der USA, Europas, Russlands, des Iran, der Golfstaaten, der Türkei etc.

Ein weiterer Grund ist auch die zunehmende Macht islamistischer Gruppierungen wie dem „Islamischen Staat im Irak und der Levante“ oder der „Nusra-Front“, die an einer politischen Lösung mittels Verhandlungen überhaupt nicht interessiert sind. In den letzten Wochen haben sich verschiedene islamisch geprägte bewaffnete Gruppierungen zusammen gefunden und haben der Oppositionskoalition die Legitimität aberkannt. Ähnliche Drohungen kommen auch von der Seite des Nationalrats (SNC). Daher stellt sich die Frage, ob die Opposition überhaupt in der Lage ist, eine Verhandlungskommission zu bilden. Sie befindt sich zurzeit also dem Regime gegenüber in einer schwachen politischen Position. Sie wollen nicht nach Genf ohne starken Karten in der Hand zu halten. All dies deutet daraufhin, dass die syrische politische Opposition sich nicht in der besten Lage befindet, um in Verhandlungen mit dem Regime Positionen durchzusetzen. Dies ist auch dem syrischen Regime durchaus bewusst.  

F: Welche Ansätze zur Lösung gibt es angesichts dieser Lage?

A: Zunächst glaube ich, dass man ohne Vorbedingungen zu Genf II gehen soll. Die Frage der Rolle Assads darf nicht Voraussetzung sein, auf keiner der beiden Seiten. Wenn man sie zur Vorbedingung macht, sind Verhandlungen zum Scheitern verurteilt oder werden erst gar nicht zustande kommen. Ob Assad bleibt oder nicht und welche Rolle er in einer Übergansregierung spielt, wird sich als Ergebnis von Verhandlungen herauskristallisieren. Das sollte den syrischen Oppositionellen auch bewusst sein. Die Opposition wäre gut beraten zwischen ihren verschiedenen Richtungen und Flügeln einen ernsthaften Dialog im Bezug auf Verhandlungen mit dem Regime zu führen. Dann könnte eventuell auch eine einheitliche Kommission mit einem klaren politischen Plan nach Genf gesendet werden. Die Entwicklung der letzten Wochen vor allem hinsichtlich des Abkommens zur Vernichtung der Chemiewaffen beweist, dass mit ausreichendem Druck der Internationalen Gemeinschaft bzw. der globalen politischen Mächte es möglich ist, die verschiedenen Konfliktparteien zu einem Abkommen zu bringen. Sie sollten dies auch im Bezug auf Genf II tun.  

F: Es gibt Stimmen die meinen, Verhandlungen mit Assad wären Verrat.

A: Ja, dieser Vorwurf wird vor allem von den islamisch geprägten Milieus erhoben. Die demokratische und gewaltfreie Bewegung sieht das aber nicht so. Sie sehen in Verhandlungen, in einer politischen Lösung, den einzigen gangbaren Weg. Außerdem man muss auch in Betracht ziehen, was das syrische Volk will. Es ist letztendlich von dem Krieg am meisten betroffen, der seit mehr als 30 Monaten andauert. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Syrer, die unter den gegenwärtigen Umständen leiden und viel verloren haben, an einer gerechten politischen Lösung dieses Konfliktes sehr interessiert sind. Sie wollen, dass das sinnlose Töten endlich gestoppt wird.  

F: Kann nicht vom Protokoll Genf I ausgegangen werden, in der eine Übergangsregierung festgelegt wurde? A: Ja, aber einiges blieb in Genf I unklar, eben gerade die Rolle Assads in einer Übergangsregierung und die Macht einer solchen. Diese Befugnisse müssen in Genf ausgehandelt werden. Ich meine, dass eine solche Regierung mit einer großen Machtfülle ausgestattet werden soll. Ich finde es überhaupt nicht wichtig, wenn Assad noch ein oder zwei Jahre bliebe, dafür aber eine Übergangsregierung gebildet wird, die diesen Namen verdient.  

F: Wie kann eine Übergangsregierung gebildet werden? A: Erstens müssen in einer Übergangsregierung die verschiedenen politischen und auch Volksgruppen Syriens vertreten sein. Zweitens muss sie Macht haben. Ihre erste Aufgabe ist die Lage in Syrien zu stabilisieren. Dazu wird es einer langen Zeit bedürfen, vielleicht vier bis sechs Jahre. In dieser Zeit können Parteien gebildet werden, die Flüchtlinge zurückkehren. Das Land muss wiederaufgebaut, zerstörte Krankenhäuser und Schulen repariert werden. Die Basis der Gesellschaft muss wieder hergestellt werden. Alle Voraussetzungen für freie Wahlen müssen geschaffen werden. Aber das wird nicht in ein oder zwei Jahren möglich sein, nach zwei Jahren Krieg. Das ist zu wenig Zeit, denn ein Großteil des Staates ist zerstört und viele Menschen befinden sich auf der Flucht. Wichtig sind auch die politischen Häftlinge, die freigelassen werden müssen. Schätzungen gegen in die Hunderttausende. Die Art und Weise wie man eine solche Regierung bildet, ihre Aufgaben und ihre Macht müssen zweifellos zentrale Themen in Genf II sein.  

F: Besteht nicht eine Gefahr darin, so lange mit Wahlen zu warten und damit auch mit der Umsetzung demokratischer Forderungen? Sind nicht gerade Wahlen der Modus eine solche starke Regierung zu schaffen und sie mit Legitimität auszustatten? Autoritäre Lösungen sind gescheitert, siehe Assad selbst.

A: Eine Übergangsregierung muss auf einem substantiellen Kompromiss aufbauen, der alle Komponenten der Gesellschaft mit einbezieht. Es kann nicht sein (und würde auch nicht akzeptiert werden), dass das Regime im Wesentlichen am Ruder bleibt. Kontrolliert es weiterhin den Apparat, würde es Wahlen mit sicherem Ausgang zu seinen Gunsten organisieren. Ein Abkommen auszuhandeln ist die Aufgabe von Genf. Ob Assad formal bleibt oder nicht, wird dadurch sekundär.

Stabilisierung, Normalisierung braucht seine Zeit. Es gibt keine Parteien in Syrien, die das bewerkstelligen könnten. Und was passiert mit den Jihadisten, die sich gegen eine Versöhnung stellen, wie können diese isoliert werden? Eine Übergangsregierung muss daher sehr stark sein. Sonst droht nach Wahlen ein Rückfall in einen Bürgerkrieg, so wie wir es auch in Ägypten gesehen haben.

F: Aber genau diese Machtteilung, diesen Kompromiss hat Assad bisher strikt abgelehnt. Wie kann man Assad dazu zwingen außer mit Waffengewalt?

A: Genau diese Waffengewalt hat uns in die heutige Situation gebracht. Sie hat nicht zum Erfolg geführt. Beide Seiten haben mit der militärischen Eskalation nichts erreicht.

Die Russen und die Iraner können Assad dazu zwingen und auch der Westen könnte mehr beitragen. Die Entspannung zwischen den USA und dem Iran ist sicher zweckdienlich. All diese Kräfte sind an einer politischen Lösung interessiert oder müssten zumindest interessiert sein.

F: Drängt sich in dieser ausweglosen Situation nicht der Ruf nach der US-Militärintervention auf? Nur diese kann die Kräfteverhältnisse, insbesondere die militärischen, grundlegend verschieben.

A: Dabei überlegt man nicht, was nachher passiert. Niemand spricht davon. Nach dem Sturz von Assad von außen wäre niemand da, keine Gruppe, die das Land regieren könnte. Syrien ist total zersplittert und die konfessionellen Gräben sind sehr tief geworden. Der konfessionelle Bürgerkrieg würde erst so richtig beginnen. Massaker größten Ausmaßes sind zu befürchten. Niemand könnte mehr für die Sicherheit garantieren.

Oft hört man, dass die Syrer anders sind und immer gut zusammenlebten. Doch auch andere lebten lange friedlich miteinander und trotzdem explodierte die Situation. Das ganz große konfessionelle Massaker ist eine reale Gefahr.

Das Regime ist die letzte verbliebene Ordnungsstruktur wie in Latakia, Tartus, Homs oder Sweida. Ohne Regime bricht das bewaffnete Chaos aus, denn Nusra & co werden noch weniger akzeptiert werden.

F: Der libanesische Bürgerkrieg konnte letztendlich auch nur mit massiver ausländischer Einmischung beendet werden.

A: Wir Syrer können den Konflikt nicht mehr alleine lösen. Ich bin nicht gegen internationale Unterstützung. Doch die muss nicht militärisch sein. Es gibt viele Möglichkeiten.

Unsere demokratische Bewegung wurde von niemandem unterstützt, obwohl sie für eine Zeit lang die Haupttriebkraft war. Sie wurde einfach im Stich gelassen. Die erste Generation der Aktivisten wurde entweder getötet, ist im Gefängnis oder nicht mehr im Land. Man muss versuchen diese Bewegung wiederzubeleben anstatt die ganze Zeit mit Waffen und mit militärischer Intervention zu drohen.

F: Man kann weder von den USA noch von Russland erwarten, dass sie linke Demokraten unterstützen.

A: Ich meine keine Staate. Ich meine vor allem die demokratische Öffentlichkeit in Europa und der Welt.

F: Auf sich allein gestellt wurden die linksdemokratischen Kräfte zerrieben, obwohl sie am Anfang die dominante Kraft waren. Die drei Neins der Hayat al Tansiq 1 waren doch grundsätzlich richtig. Was haben sie falsch gemacht? Was hätte man besser oder anders machen können?

A: Da ist einmal das Problem der Generationen. Die historischen Aktivisten fanden kaum Anschluss an die jungen Aktivisten. Dann sind da der Streit und die Konflikte zwischen großen Persönlichkeiten.

Die medialen Äußerungen der Hayat al Tansiq waren ungünstig und konnten gegen sie verwendet werden. Sie erschienen vor allem als Kritik an der vom Westen anerkannten Opposition [nachdem sich die Opposition gespalten hatte] und an den USA sowie ihren Verbündeten. Russland, Iran und Hisbollah, die sich ebenfalls alle einmischten, schienen von der Kritik ausgespart zu bleiben.

Das gleiche Problem mit dem Konfessionalismus: Hayat al Tansiq kritisierte den Konfessionalismus der Islamisten, aber die regierungsnahen Milizen agierten nach der gleichen konfessionellen Logik.

Insgesamt erschien es als würde die Hayat al Tansiq vor allem die Opposition attackieren und weniger die Regierung. Aber vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass die meisten von ihnen im Land geblieben sind.

Zivilgesellschaftliche Initiativen wie Nabt [deutsch: Puls], die lang nach Beginn des bewaffneten Konflikts eigentlich bis heute versuchen unbewaffnet zu agieren [und sich in vielerlei Hinsicht mit der linken, politischen Opposition überschneiden würden], wollen mit Hayat al Tansiq nicht zusammenarbeiten. Sie sind de facto gezwungen mit den bewaffneten Gruppen zusammenzuarbeiten, denn sonst könnten sie keine Lebensmittelverteilung oder andere humanitäre Hilfsaktionen durchführen.

F: Mir erscheinen diese Fehler nicht als entscheidend. Wenn man mit dem Strom der Geschichte schwimmt, wird einem so etwas verziehen, während die Linke im Gegenteil marginalisiert wurde. War nicht der Hauptfehler der prinzipielle Pazifismus, während das Regime mit äußerster Gewalt gerade gegen die linksdemokratische Bewegung vorging?

A: Ich erinnere mich an die Situation im Herbst 2011. Ein halbes Jahr lang hatte die Opposition immer vor Gewalt gewarnt, dazu aufgerufen auf die blutige Repression immer nur friedlich zu antworten. Selbst Michel Kilo, der sich nicht an Hayat a Tansiq beteiligte, beschwor Homser Aktivisten friedlich zu bleiben.2 Diese antworteten: Sollen wir uns über den Haufen schießen lassen? Wer schützt uns, wenn wir das nicht selbst tun?

F: War für eine revolutionär-demokratische Linie überhaupt Platz? Die Linke gruppierte sich um zwei Pole, die man vom Ausland aus mit Haytham Manna auf der einen Seite und Michel Kilo auf der anderen Seite assoziieren könnte. Manna steht für den prinzipiellen Pazifismus, der ihn total an den Rand drängte. Kilo blieb zwar immer gegen die Militarisierung, anerkannte aber die bewaffnete Selbstverteidigung und die daraus folgende Logik des bewaffneten Kampfes. Letztlich schloss er sich dann der offiziellen, prowestlichen Opposition an. Denn ohne äußere Unterstützung wird man immer gegenüber dem Regime auf der einen Seite und den islamistischen Kräften auf der anderen Seite militärisch unterlegen bleiben, die beide massiv von außen unterstützt werden. Bewaffneter Kampf braucht große materielle Mittel.

A: Mit dem Anschluss an die offizielle Koalition betreibt Kilo ein sehr gefährliches Spiel. Er hat damit sehr viele Chancen verspielt und sich, gewollt oder ungewollt, von verschiedenen Mächten abhängig gemacht. Zuvor hatte er an einer unabhängigen Vereinigung der syrischen Demokraten gearbeitet, an der auch ich mich beteiligt hatte. Damit hätte man einiges erreichen können. Aber diese Chance wurde verspielt. Man darf nicht vergessen, dass die Koalition im Land wenig Rückhalt hat, als korrupt und als von außen gesteuert gilt. Auch die Ausrufung einer Regierung ist nicht sinnvoll.

Man hat immer gesagt, dass die Jihadisten und al Quaida marginal seien und kein Problem darstellten. Auch der Konfessionalismus wurde kleingeredet. Keiner wollte das wahrhaben obwohl es antizipierbar war.

Die Strategie von Ghalioun und Sabra 3 ist total gescheitert. Sie hatten die Nusra verteidigt. Die Antwort haben sie jetzt bekommen. Die islamistischen militärischen Kräfte haben sich von der offiziellen Opposition losgesagt und diese damit stark geschwächt.

Es bedarf einer wirklichen Korrektur der Revolution, einer Revolution der Revolution. Wir müssen eine Partei der demokratischen Revolution gründen, die nicht an einigen wenigen Persönlichkeiten hängt. Sie muss funktionsfähige Strukturen aufweisen und wirklich unabhängig sein.

  • 1. Hayat al Tansiq ist der in englisch etwas sperrige National Co-ordination Body for Democratic Change (NBC). Diese Koalition umfasste große Teile der syrischen Linken und ging sogar weit über diese hinaus. Sie gründete sich zügig nach Beginn der Revolte. Die drei Neins lauteten: Nein zum Konfessionalismus, nein zur ausländischen Intervention, nein zum Bürgerkrieg.
  • 2. Homs war die erste Hauptstadt der Revolte, der vom Regime mit militärischer Repression begegnet wurde.
  • 3. Exponenten jener Komponente der Linken, die die prowestliche Koalition mit gegründet und gemeinsam mit dem Muslimbrüdern bis heute führen.