Der Oktober 1917 –Fanal der Weltrevolution oder ein nationales russisches Ereignis?

02.12.2017
Von Boris Lechthaler
Beitrag zum Seminar "100 Jahre Oktoberrevolution"

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Der Oktober 1917 –Fanal der Weltrevolution oder ein nationales russisches Ereignis?

(Boris Lechthaler, Okt.-Nov. 2017)

1.       „Russland möge normal sein“

2.       Gibt es etwas spezifisch Russisches in den Ereignissen des Oktober 1917 zu entdecken?

3.       Das „schwächste Kettenglied“

4.       Soziale Umwälzung und politische Revolution

5.       Politik, Macht, Gewalt und das Nationale

6.       Auch heute: Die Gewalt ist konkret!

7.       Das gilt auch für Österreich

 

1.„Russland möge normal sein“

 

Die russische Regisseurin und Drehbuchautorin Maja Torowskaja, die u. a. wesentlich an dem Dokumentarfilm „Der ganz normale Faschismus“ mitgewirkt hatte, hat in einem Gespräch mit Renata Schmidtgunz in Ö1, ich glaube im August dieses Jahres, auf die Frage, was sie sich für Russland erhoffe, geantwortet: „Ich hoffe, Russland möchte normal sein.“

Am 21. Oktober 2017 konstatierte ein gewisser Alfred Pfabigan in einem denunziatorischen Feuilleton in der „Presse“ über Lenin: „Seine intellektuelle und moralische Skrupellosigkeit hat ihn (Lenin, B.L.) befähigt, über die Pläne seiner Gegner hinauszugehen, die Russland möglicherweise in eine normale parlamentarische Demokratie verwandelt hätten.“1) Mit dem Adverb „möglicherweise“ lässt sich der Autor listigerweise ein Hintertürchen offen. Dennoch stellt sich die Frage, wie sich die Hoffnung Fr. Torowskajas 2017, Russland möge normal sein, mehr als 25 Jahre nach Einführung einer parlamentarischen Demokratie in Russland ergründet. Pfabigan wiederholt ja einfach den antirevolutionären Mainstream der vergangenen 100 Jahre, demzufolge bloß die Beendigung der Doppelherrschaft im roten Oktober 1917 zugunsten der Sowjets dieses Normalwerden verhindert hätte. Wenn Kerenski das in seinen Memoiren selbst ausspricht, mutet das selbst bürgerlichen Autoren wie Györgi Dalos etwas fragwürdig an, war doch seine provisorische Regierung über fast 8 Monate nicht in der Lage die Wahlen zur konstituierenden Versammlung zu organsisieren.2)

Nun gibt es schon längst keine Sowjetunion mehr und Russland ist, folgt man Fr. Torowskaja, noch immer nicht normal.

Was heißt eigentlich in diesem Zusammenhang „normal“?

Es ist schwer vorstellbar, dass in dieser Sehnsucht nach dem Normalen, die Vorstellung, Durchschnittlichkeit wäre etwas Erstrebenswertes ihren Ausdruck findet. Wir erkennen diese Sehnsucht nach dem Normalen durchaus auch in currenten Konflikten, so etwa in der Hoffnung, Griechenland möge ein normales Mitglied der EU werden, oder im Erschrecken ob des Umstands, dass die USA möglicherweise keine normale parlamentarische Demokratie mehr seien. Das linksliberale Feuilleton in Österreich moniert seit mehr als 30 Jahren über die Abnormalität Österreichs und ist bemüht, es mit ihren Texten zu einer normalen westlich-europäischen Gesellschaft zu erziehen.

Wir sollten uns vor Zynismus hüten. Rasche, heftige gesellschaftliche Bewegungen verursachen, insbesondere wenn sie gewaltförmig werden, nicht nur enorme ökonomische und soziale Kosten, sondern über Jahrhunderte lastende Traumata. Dennoch gilt es sich zu vergegenwärtigen, die gesellschaftliche Bewegung hält sich nicht an programmierte Abläufe und schon gar nicht gibt es eine Gravitation ausschließlich hin zum Normalen. Katalonien lässt grüßen.

 „Der Oktober 1917 –Fanal der Weltrevolution oder ein nationales russisches Ereignis?“ lautet die Fragestellung meines Beitrags für dieses Seminar. Vorweg möchte ich klarstellen: Absicht dieser Fragestellung ist nicht, die weltgeschichtliche Bedeutung des Roten Oktober 1917 kleinzureden. Es war, ist und wird weiter notwendig sein, diese Bedeutung zu untersuchen und zu referieren. Hier in meinem Beitrag, denke ich, ist es zunächst verzichtbar, ist das doch schon in der Einladung präzise zusammengefasst. Auch wenn wir 1789 als „Große Französische Revolution“ reflektieren, relativiert dies nicht ihre Bedeutung für die Geschichte der Menschheit

Es bleibt zunächst offen, ob es überhaupt sinnstiftend ist, der Fragestellung in dieser Form nachzugehen. Was bedeutet nationales Ereignis? Was bedeutet nationales russisches Ereignis? Wir könnten zunächst der Frage nachgehen:

2. Gibt es etwas spezifisch Russisches in den Ereignissen des Oktober 1917 zu entdecken?

Eine Falle, die sich dabei öffnet, ist ein europäistischer Chauvinismus, auf dessen Grundlage auch viele Linke in weiterer Folge, die hässliche Seite des roten Oktober und seiner Folgen als Manifestation des asiatischen Charakters des Landes und seiner Menschen charakterisierten. Wie verhält es sich dann mit dem europäischen Faschismus? Wer die Grausamkeit in der konkreten Geschichte zu etwas Uneuropäischem stilisiert, betreibt Ideologie und argumentiert nicht im Sinne des Begreifens von Geschichte.

Weiters gilt es festzuhalten, wollte man der Geschichte aus einer Mentalitätsperspektive nachgehen, dass das Russland des Jahres 1917 ein Vielvölkerstaat war, die Sowjetunion selbst eine Föderation formell selbständiger Staaten darstellte und auch das Russland des Jahres 2017 ein Vielvölkerstaat ist. Freilich wäre es umgekehrt auch eine Verklärung, würde man die besondere Rolle des Russischen in all diesen politischen Formationen ausblenden.

Die Zarin notierte bereits am Tag nach Erstürmung des Winterpalais in ihrem Tagebuch, dass alle bolschewistischen Mitglieder des Rates der Volkskomissare „Juden unter erfundenen Namen“ seien und der Zar informierte am 18.11.2017 in einer Art Kassiber seine Schwester über die angeblich jüdischen Klarnamen der neuen Regierung. 3) Von dieser Seite wurden also die Ereignisse des Oktober 1917 gar als antirussisches, jüdisches Komplott interpretiert und wird es vielfach heute noch.

Trotzdem: Bei all den Ausschlägen in der politischen Geschichte des russischen Raums lassen sich m. E. dennoch bestimmte Konstanten im Verhältnis der Menschen untereinander und zum Staat erkennen, obwohl dennoch fraglich bleibt, ob darin etwas typisch Russisches zum Ausdruck kommt.

·       Angesichts der auch aktuell wieder schwindelerregenden Ungleichheit in Russland, mag es absurd erscheinen, aber es gibt in Russland dennoch eine Art von gelebter Gleichheit unter Brüdern (Geschwistern), die mitunter ausgeprägter ist, als in anderen Gesellschaften, insbesondere des Westens 4) Jedenfalls spielte die nach wie vor, oder vielleicht stärker als zuvor lebendige Dorfgemeinschaft im Russland des I. WK eine große Rolle bei der Zuspitzung des Konflikts. Sie bildete mitunter ein starkes Hemmnis für frühe Hierarchisierung und Akkumulation insbes. am Land. Damit verbunden ist mitunter auch eine Tendenz zur dörflichen Subsistenz, die komplexere Austauschbeziehungen zwischen dem Land und den städtischen Zentren erschwert 5)

·       Eine gewisse anarchische Staatsferne. Im gesamten slawischen Raum kam es erst nach äußerst losen situativen Verbindungen zu Staatsgründungen, oftmals unter Zuhilfenahme germanischer Adelsgeschlechter. So könnte auch die Entwicklung einer Bourgeoisie unter Zuhilfenahme deutscher und jüdischer Repräsentanten am Ende des 19. Jhdts. in diesem Kontext gesehen werden.

·       Die wiederkehrende kollektive Erfahrung äußerer Bedrohung und Versklavung. Sie erzwingt gewissermaßen einen Staat wider Willen. Erst aus der Widersprüchlichkeit von Staatsferne und Staatsnotwendigkeit erklärt sich mitunter, die über lange Perioden immer wieder festzustellende Hinnahme seiner willkürlichen Ausgestaltung.

Wie auch immer, diese Momente in die Betrachtung miteinzubeziehen, ist ebenso unerschöpflich, wie gefährlich. Gefährlich, wenn versucht wird, die Erklärung der Ereignisse in ihrer Gesamtheit darin zu ergründen. Andererseits m. E. unverzichtbar, wenn der Prozess von der Verweigerung der Petrograder Garnison im Februar 1917 , auf ihre Brüder und Schwestern zu schießen,  zu den stalinistischen Säuberungen der Jahre 1936 bis 38 nur halbwegs begriffen werden soll.

 

3. Das „schwächste Kettenglied“

Wir können uns der Frage nach dem spezifisch Russischen, auch aus einer anderen Perspektive nähern. Lenin entwickelte in seiner Imperialismusanalyse die These vom „schwächsten Kettenglied“. Die Sinnhaftigkeit dieser These in einem politisch-strategischen Sinn erschließt sich nur aus dem Blickwinkel der Entwicklung Russlands im Rahmen eines imperialistischen Weltsystems. Zunächst ist festzuhalten, dass die industrielle Entwicklungsdynamik im 19. Jahrhundert auch Russland erfasste.

Pro-Kopf-Produkt in US-Dollar (1990) nach Großregionen

                                                         1820                    1870                    1913

Westeuropa                                  1232                    1974                    3473

USA                                                 1257                    2445                    5301

Geb. d. UdSSR                               689                      943                      1488       6)

Nicht nur das verspätete Einsetzen dieser Dynamik ist jedoch deutlich erkennbar, sondern auch die andauernde schwächere Dynamik. So ergibt sich im Zeitraum zwischen 1870 und 1913 für die USA ein akk. Wachstum des Pro-Kopf-Produkts von 217%, für Westeuropa eines von 176%, und für Russland eines von 158% und das trotz erheblich niedrigerer Ausgangsbasis.

Freilich bleiben bei diesen Globalzahlen sowohl die enormen zeitlichen Diskontinuitäten, als auch die gewaltigen regionalen Unterschiede und insbes. der Unterschied von Stadt und Land unberücksichtigt. Insbes. erreicht die Dynamik zwischen 1907 und 1914 fast „amerikanisches Tempo“ (Fleischer, Könen). Diese Dynamik verläuft wie auch anderswo, man ist versucht zu sagen naturgemäß, nicht harmonisch. Es ergibt sich, „dass die Mobilisation sozialer Kräfte und die Expansion ihrer Ansprüche und Erwartungen den reellen Fortschritt der ‚Reichtumsprodukion‘ oftmals weit überflügelte, also in beträchtlichem Maße eine relative ‚Übermobilisation‘ gewesen ist. So war es ja auch im europäischen Westen, wo der stürmisch sich ausweitende Hochindustrialismus die Expansionskräfte eines modernen Imperialismus freisetzte, die sich dann im Weltkrieg entzündeten.“ (Fleischer, Könen, ebda)

So besehen könnte die Oktoberrevolution als Entwicklungsrevolution gefasst werden. Das hat und wird jedoch auch immer den Beigeschmack des Legitimatorischen haben. Die konkrete Politik der politischen Führung insbesondere in Bezug auf die Bauern und das (kleine) Privateigentum kann sie nicht umfassend erklären. Bereits in der Phase der Neu Ökonomischen Politik (NEP) wurden Wachstumsraten von 9% erreicht, eine Größe, die in der folgenden Phase fast militärischer Akkumulation über die Fünfjahrespläne auch nicht getopt wurde. 7) Ab den 60er Jahren kam es zu einer lastenden Abflachung der Dynamik, letztlich zur Stagnation, also dem Gegenteil von Entwicklung.

 

Durchschnittl. Jährliche Wachstumsraten in Prozent:

1913-1950                        1950-1973                        1973-1998

1,76                                   3,36                                   - 1,75

(A.Komlosy, Globalgeschichte, S 77)

(Die Zahlenreihe ist mit Vorsicht zu interpretieren, weil mit dem II.WK und der Auflösung der SU 91/92 gewaltige „Nichtsytemfaktoren“ zu berücksichtigen sind.)

Das Konzept des“schwächsten Kettenglieds“, geht jedenfalls über eine Entwicklungsrevolution hinaus und ergibt nur im Kontext des Aushebelns des gesamten imperialistischen Weltsystems einen Sinn. Jedenfalls bliebe die Frage, ob es nationale Faktoren sind, die einen Entwicklungsrückstand bewirken, Russland zum „schwächsten Kettenglied“ machen, und was aus diesen Faktoren wird, wenn die Entwicklung aufgeholt sei, unbeantwortet.

4. Soziale Umwälzung und politische Revolution

Die revolutionären Ereignisse im Russland des Jahres 1917 erregten gleichermaßen enorme Symphathien unter der Arbeiterschaft – und nicht nur unter der Arbeiterschaft, sondern auch bei den um nationale Befreiung und gegen Kolonialismus und imperiale Bevormundung kämpfenden Völkern - nicht nur in Europa, sondern weltweit. Gleichzeitig begann aber die Distanzierung, bes. auch von seiten der Führungen der sozialdemokratischen Parteien. (Vgl. Otto Bauer: Der Weg der Sozialdemokratie geht nur über den Parlamentarismus).

Bis ans Ende der Sowjetunion und darüber hinaus läuft der ideologische Disput, ob der Rote Oktober nunmehr das Fanal der Weltrevolution war, oder ein typisch russischer Irrtum der Geschichte, ausgelöst durch je nach Standpunkt illusionäre oder halb bis ganz kriminelle Akteure. Im Westen argumentierten viele, sich in irgendeiner From auf Marx beziehende Analytiker: „Uns will scheinen, dass man den Fall der Sowjetrevolution von dem ganzen geschichtlichen Komplex des westlichen Sozialismus und dessen ‚marxistischer‘ Doktrin fast gänzlich abtrennen kann – ausgenommen ein paar schwache Verbindungsstränge.“ (Fleischer, Könen) Exegeten jeglicher Prägung können darüber endlos und trefflich streiten. Wesentlich erscheint mir aber in diesem Zusammenhang eben nicht die Exegese, sondern die offenkundige Bezugnahme der Akteure auf Marx und den westlichen Sozialismus. Bekommt die Tat auch von renommierten Professoren das Testat: „Marx hätte die Revolution in Russland nie gewollt!“ bleibt die Frage, was ihn für die konkrete Tat so praktikabel werden lies. Und da finden wir von einem deterministisch interpretierten Historischen Materialismus, mit seinen ökonomisch, mitunter sogar ökonomistisch, interpretierten Epochen, über eine gleichermaßen intentierte Klassenanalyse incl. Beantwortung der Frage nach dem politischen Subjekt (Arbeiterklasse), bis zur Begründung der Notwendigkeit einer politischen Revolution als Voraussetzung für eine soziale Umwälzung einen reichhaltigen Fundus, an dem sich die Revolutionäre in Russland – und nicht nur dort – bedienen konnten.

Wie gesagt, im gesamten Fundus, findet sich sicherlich auch Vieles, das im Konkreten auch gegenteilige Entscheidungen begründet hätte . Das ist aber ein Streit um vergossene Milch. Viel wichtiger erscheint mir die Frage, ob das Ereignis und die Ereignisse möglich gewesen wären, ohne das Selbstbild als Avantgarde bei der Vollstreckung der Geschichte. Mir erscheint die Frage gleichermaßen als bedeutend – für unser hier und heute bedeutend – wie unbeantwortet , notwendigerweise unbeantwortet. Wie hätte diese Überschreitung – die Verhaftung einer Regierung – und die damit verbundene und auf Jahre hinaus folgende permanente Mobilisierung weiter Teile der Gesellschaft anders begründet werden können? Und wäre sie dann überhaupt möglich geworden?

Bevor wir uns distanzieren, sollten wir berücksichtigen, dass es alles Andere als Klarheit bezüglich möglicher Alternativen gab und gibt. Friedrich Engels schreibt im Vorwort zu Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la legalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nicht anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.“8) Das klingt bestechend einfach und ist in der Nachbetrachtung des 20. Jhdts. dennoch verstörend naiv. Eine demokratisch nicht legitimierte provisorische Regierung, die ein Land weiter in den Krieg führt, ist nur ein Vorgeschmack. 1917 konnte sich niemand vorstellen, dass die herrschenden Eliten nötigenfalls den Faschismus an die Macht bringen, wenn es gilt, die reale Ungleichheit zu verteidigen. Auch die real existierende EU zeigt wie Elitenherrschaft jenseits von demokratischer Gesetzlichkeit durchgesetzt werden kann. Die Akteure - und wir als Akteure - bleiben auch wenn sie pralle Muskeln und rote Backen bekommen haben, ratlos zurück

Die Frage ist nicht nur, ob die russischen Revolutionäre die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Umwälzung und politischer Revolution falsch beantwortet haben, sondern ob sie überhaupt bisher richtig gestellt wurde. Im Programm des Aktionsradius für den Herbst 2017 wird festgestellt: „Man kann sich heute ohne weiteres den Untergang der Welt vorstellen. Was den Untergang des Kapitalismus betrifft, versagt unsere Vorstellungskraft.“ 9)

Freilich, dass es immer einen Zusammenhang zwischen sozialen, wirtschaftlichen Veränderungen, um nicht nur Umwälzungen zu denken, und politischen Verwerfungen und Brüchen gibt, ist nicht zu leugnen. Es kann gar nicht darum gehen, das zu leugnen. Da sich aber nie das eine einfach in das andere übersetzen lässt, muss auch Politik in ihrer Dialektik aus Prozess und Ereignis begriffen werden. Keine politische Revolution lässt sich allein aus dem sozialwirtschaftlichen Prozess begreifen und ist vice versa das neutrale politische Instrument, das den sozialwirtschaftlichen Prozess seiner politischen Fesseln entledigt.

5.       Politik, Macht, Gewalt und das Nationale

Die Lehre von den „nationalen Besonderheiten“ gewann in weiterer Folge rasch den Beigeschmack des folkloristischen Couleurs in einem ansonsten von der Weltgeschichte determinierten Prozess. Das Nationale ist aber nicht bloß etwas, das den Prozess färbt, sondern verweist auf den, v. a. auch territorialen, Rahmen in dem sich Politik als Dialektik von Prozess und Ereignis entfaltet.

Von Stalin überliefert ist die zynische Frage: „Wieviele Divisionen hat der Papst?“ Von Mao Tse Tung kennen wir den Sager: „Politik kommt aus den Gewehrläufen!“ Nun ist jedem klar, dass es einen Unterschied macht, ob man sich vor oder hinter dem Gewehrlauf befindet. Nicht minder bedeutsam aber ist die Frage, wo sich diese Gewehrläufe tatsächlich befinden. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand den Fortgang der Ereignisse in Moskau oder in Paris analysiert und dass nicht nur im Jahr 1937.

Körperliche Gewalt bleibt im politischen Machtprozess im dialektischen Sinne immer aufgehoben. Und diese Gewalt kann immer nur in einem konkreten Territorium von konkreten Menschen ausgehen und sich auf konkrete Menschen beziehen. Es ist nie einfach die Theorie, die das im Machtverhältnis aufgehobene Gewaltverhältnis begründet, sondern immer auch das konkrete Gewaltverhältnis, das einen Legitimationszusammenhang begründen muss, um zum Machtverhältnis zu reifen.

So besehen könnten wir im Selbstbild der russischen Revolutionäre als Avantgarde der Weltgeschichte, sowohl die Erzählung erkennen, die in der Lage war, Millionen zu mobilisieren, als auch die Erzählung, die sie gegenüber den konkreten Menschen in der(n) unterworfenen Gesellschaft(en), zynisch und rücksichtslos werden ließ.

Als einen Vorgriff auf mögliche, kommende Katastrophen für die konkreten Menschen in Russland, lässt sich mitunter verstehen, wenn wir aus Lenins, noch in der Schweiz verfassten Brief „Über die proletarische Miliz“ vom 11. (24.) März 1917 zitieren: „Ich will hier vorgreifen und bemerken, dass unsere Partei (…) für die gesamte Masse der Bauernschaft besonders empfehlen muss, dass spezielle Sowjets der Lohnarbeiter und dann auch der kleinen, kein Getreide verkaufenden Bauern, getrennt von den wohlhabenden Bauern gebildet werden; ohne diese Bedingung kann, allgemein gesagt, weder eine wirklich proletarische Politik betrieben werden noch die wichtigste praktische Frage, die für Millionen eine Lebensfrage ist, in Angriff genommen werden: die richtige Verteilung des Getreides, die Steigerung der Getreideerzeugung usw.“ 10)

Das, so wissen wir in der Hinterdreinsicht, ist nicht nur weit von der russischen Dorfwirklichkeit entfernt, sondern gewissermaßen ein Grundirrtum nicht bloß der Agrarpolitik. Es geht nicht darum verborgene Bestände zu requirieren. Dennoch, obwohl vom Lenin’schen Pragmatismus selbt, mit der Durchsetzung der NEP in gewissem Sinne widerrufen, wird diese Vorstellung Legitimationstrampolin, mit dem später Stalin unter Bezugnahme auf diese Klassenkampfrhetorik, seine Repressionspolitik durchsetzte. 11) Auch verweist es auf manch currente Rhetorik, die mit einem scheinbar radikalen „Eat the Rich!“ ausblendet, dass man Bestände nicht essen kann.

Heute 2017 kennen wir die Ergebnisse: Die Weltrevolution unter russischer Führung wurde abgesagt, das Trauma für die russische und postsowjetischen Gesellschaften bleibt virulent.

6.       Auch heute: Die Gewalt ist konkret

Können wir den Russischen Roten Oktober von 1917 in den Geschichtsbüchern ablegen, als ein Beispiel für die Richtigkeit der Konzeption der Politischen Geschichte als Kriminalgeschichte. Erinnern wir uns an den Juli 2015 in Griechenland und an die praktischen Fragen, die dabei auftauchen: „Was macht eine (linke) Regierung, wenn ihr von einer übergeordneten Notenbank, die Liquiditätsversorgung abgedreht wird? Tsipras hatte scheinbar ein eindeutiges Mandat, um mit der aufoktroyierten Austerität zu brechen. Hatte er auch ein Mandat, um mit der übergeordneten Notenbank zu brechen? Wie organisiert man den Ausstieg aus einem Währungsraum? Wer beginnt, das konkret durchzudenken, kommt unweigerlich zu Tatsachen, wie jener, dass man eine derartige Maßnahmen, abstrakt nur in den Raum stellen, konkret aber nicht ankündigen, sondern durchführen muss? Übers Wochenende müssen Konten gesperrt, Kapitalverkehrskontrollen eingeführt werden, und am Montag müssen irgendwelche neue, werthaltige Zettel zur Verfügung stehen.

Würde eine Regierung so etwas mit Termin ankündigen, würde sie sich von vorneherein eines ihrer wichtigsten Überlebensmittel berauben: Der Fähigkeit internationale Austauschbeziehungen auch nach einem Bruch zumindest notdürftig aufrechzuerhalten. Jedenfalls macht das auch diesmal einen großen Unterschied, ob man darüber in Athen oder in Wien räsoniert. Fern aller klugen Derivationen des Nationalen, bleibt es eine höchst praktische Frage, welcher politischen Gewalt ich konkret unterworfen bin. Auch 2017 müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Frage nach dem nationalen Charakter einer politischen Bewegung, spätestens dann virulent wird, wenn sie im Ereignis konkret wird.

7.       Das gilt auch für Österreich

Aus dieser Perspektive findet auch 2017 die Frage nach dem nationalen Charakter einer Emanzipationsbewegung in Österreich ihre Notwendigkeit und Antwort im konkreten politischen Ereignis. Jegliche politische Emanzipation beginnt mit einer Verweigerung. Ist auch die Wirkung dieser Verweigerung transnational, so macht es dennoch einen fundamentalen Unterschied, ob ich der politischen Gewalt, die mit dieser Verweigerung verbunden ist, unmittelbar unterworfen bin. Die Frage nach dem Nationalen, ist immer die Frage, nach den konkreten Menschen, die einer Gewalt unterworfen sind, die mitunter unserer Gewalt unterworfen sind, wenn wir zum politischen Subjekt werden wollen.

Aus der Perspektive unseres eigenen Handelns hier in Österreich heute, ist m. E. der Oktober 1917 ein höchst nationales russisches Ereignis. Wie auch immer wir unser politisches Handeln theoretisch einordnen, politisch wirkmächtig kann es nur werden, wenn es sich der konkreten Verantwortung für konkrete Menschen in einem konkreten politschen Raum bewußt ist.

 

1)      Alfred Pfabigan, „Meister der einfachen Lösung“, Die Presse, 21.10.2017,

2)      3) Vgl. György Dalos, „Der letzte Zar“, C.H. Beck,2017

4)      Vgl. E. Todd, „Nachruf USA“, Piper 2003, Todd setzt sozialanthropologisch die Erbteilung bei den slawischen Völkern und in der Ile de France dem germanischen Erstgeborenenrecht gegenüber

5)      Vgl: Helmut Fleischer u. Gerd Könen, Eine Revolution wird Geschichte, Nürnberger Zeitung, Nr. 258, 7.11.1987 (Anm. B.L.: Was den Text zusätzlich lesenswert macht, ist die Vergegenwärtiung einer anderen historischen Perspektive: 1987!)

6)      Andrea Komlosy, „Globalgeschichte“, Böhlauverlag 2011, S76ff (Ich habe die Zahlen einfach übernommen. Ich hatte nicht die Kapazitäten, eine Quellenkritik durchzuführen.)

7)      J.P. Nettl, „Der Aufstieg der Sowjetunion“, Molden 1972

8)      MEW, Bd 22, S. 525

9)      www.aktionsradius.at, Okt. – Dez. 2017

10)   Lenin, Ausgewählte Werke, Bd III. Dietz Verlag Berlin, 1972

11)   Albert F. Reiterer, „Planung, Markt und Wertgesetz“, 29.3.2013