Die Razzia gegen angebliche Muslimbrüder und ein fragwürdiges Gutachten

19.05.2021
Möglicherweise erinnern Sie sich an eine dramatische Erklärung von Innenminister Nehammer wenige Tage nach dem Terroranschlag in Wien vom vergangenen Herbst? Der Exekutive sei bei einer Razzia gegen den Muslimbruderschaft gerade ein Schlag gegen Extremismus und politischen Islam gelungen, verkündete der Minister. Die sogenannte Operation Luxor habe sich gegen Personen gerichtet, „die im Verdacht der terroristischen Vereinigung, der Terrorismusfinanzierung, der staatsfeindlichen Verbindungen, der kriminellen Organisation und der Geldwäscherei standen“, so die martialische Erklärung Nehammers.

Einen kriminologischen Zusammenhang mit dem Anschlag vom 2.November haben die Behörden nicht hergestellt. Aber die inhaltliche Botschaft der Regierung war klar: die Operation mit fast tausend Polizeibeamten in ganz Österreich richtete sich gegen die Hintermänner von Terroristen.  

60 Hausdurchsuchungen hat es in der Nacht des 9.November 2020 gegeben. Beim Politikwissenschaftler Farid Hafez wurde, wie bei anderen auch, die Wohnungstüre mit einem Rammbock aufgebrochen und ein Fenster eingeschlagen. Die Beamten ließen eine nicht abgefeuerte Patrone zurück. Bei der Mafia gilt eine Patrone als Morddrohung. Ein Polizeisprecher meinte später, die Patrone sei zufällig verloren gegangen. Wie man eine Patrone aus einem Magazin verlieren kann rätseln Pistolenbesitzer. Für den österreichischen Dissidenten Farid Hafez engagieren sich seither Universitätsprofessoren aus verschiedenen Ländern in einem Unterstützungskomitee.  

Ein halbes Jahr später wird die Grundlage für die Razzia immer dünner. Anklage wurde bisher keine einzige erhoben. Die Justiz sieht schwere Mängel bei dem als Begründung für die Polizeiaktion verwendeten Gutachten. Eine neue und seriösere Einschätzung der Muslimbruderschaft wird jetzt in Auftrag gegeben. Der Staatsanwaltschaft Graz, von der die Razzia ausgegangen ist, wurde laut „Presse“ und „Kurier“ die Kompetenz entzogen, neue Gutachter zu bestellen.

Für den österreichischen Rechtsstaat ist es ein gutes Zeichen, dass die Justiz auch bei einem politisch aufgeheizten Thema sachlich bleibt und nicht nach der Pfeife islamophober Einflüsterer tanzt. Die bisherigen Gutachter, Heiko Heinisch und Nina Scholz, sind mit Kampfschriften gegen den sogenannten politischen Islam hervorgetreten.

Politisch gehören Antiterrormaßnahmen und die Auseinandersetzung mit konservativen Strömungen des Islam scharf getrennt. Die Ideen des Begründers der Muslimbrüder Hassan Al Banna, mit denen der Ägypter in den 1930erJahren mit Hilfe des Koran gegen den Kolonialismus mobilisierte, sind reaktionär, aber in keinem demokratischen Staat  verboten. Wenn sich dagegen jemand für einen Anschlag bewaffnet, wie das der Wiener Attentäter des 2.November getan hat, dann ist der Verfassungsschutz dringend gefragt.

Der spätere Attentäter von Wien ist nach einem versuchten Munitionskauf in der Slowakei vor dem Anschlag weder festgenommen noch observiert worden. Paradoxerweise begründen die österreichischen Staatsschützer das folgenschwere Versäumnis  vor Gericht damit, dass sie mit den vielen tausend Observationen zur Vorbereitung der Razzia gegen die Muslimbruderschaft überlastet waren. Die grassierende Obsession mit dem politischen Islam wurde somit zum Hindernis für reale Antiterrorprävention.  

Von R. Löw

Verweise