Präsidential-Referendum bestätigt Spaltung der Türkei

17.04.2017
Erdogan institutionell gefestigt, politische Gräben indes vertieft
von Wilhelm Langthaler
Das Abstimmungs-Ja für sein präsidiales System bedeutet unmittelbar eine Stärkung Erdogans und seines Machtblocks. Doch der knappe Ausgang zeigt die sich verschärfende Polarisierung, die Erdogan mit dieser gefährlichen Flucht nach vorne zu einem autoritäreren Regime befeuert. Der Schwenk zum türkischen Nationalismus hat seine Basis nicht vergrößert, die Kurden jedoch entfremdet. Die kemalistischen Kerne in der Armee haben sich schlafend gestellt. Die latente Tendenz zum Bürgerkrieg über die Kurdenfrage hinaus, könnte die Offiziere jedoch wieder aktivieren – das nächste Mal vermutlich mit einer festeren Unterstützung des Westens. Dieser hat jedenfalls eine Niederlage einstecken müssen.
Referendum Präsidentialismus: grün - ja, rot - nein

1. Erdogan-Block hat gehalten
2. Antiimperialistische Rhetorik
3. Wenig erfolgreiches Bündnis mit rechten Nationalisten
4. Erdoganismus vs. Kemalisten vs. Nationalkurden
5. Kurdische Führung verspielt den Hebel in den islamischen Block hinein
6. Zug zum Bonapartismus
7. Selbstverteidigung der schwarzen Türken in Europa
8. Sozialrevolutionärer dritter Pol

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1. Erdogan-Block hat gehalten

Schlüsselt man die Wahlergebnisse regional auf, wird man ein bekanntes Muster erkennen: Die schwarze Türkei bleibt fest hinter Erdogan. Während die großen und industriellen Städte, die Mittelmeerküste, Kurdistan, die Aleviten und die weiße Türkei gegen den Präsidentialismus stimmten, hat Anatolien und die Schwarzmeerregion wieder massiv für Erdogan votiert.

Neben der Konstante des islamischen Anspruchs sind diesmal zwei Momente in der AKP-Kampagne stärker als bisher akzentuiert worden: Der Antiimperialismus und der türkische Nationalismus.

Die Unterstützung der schwarzen Türkei für den Erdoganismus darf jedoch nicht nur auf Ideologie und Kultur reduzieren werden – wie es in der islamophoben Kampagne meist getan wird –, sondern sie hat auch manifeste materielle Gründe. In der Periode der AKP-Regierung erhöhte sich das soziale Niveau Anatoliens wesentlich. Es wurde nicht nur eine islamische kapitalistische Elite geschaffen, sondern auch die unteren Schichten konnten nachhaltig profitieren. Laut NZZ vom 9.4.17 hat das unterste Dezil der Bevölkerung zwischen 2007 und 2013 mehr als 18% Realeinkommenszuwachs zu verzeichnen, das oberste weniger als 8%, während die Zehntel dazwischen sich in etwa linear dazwischen bewegen.

2. Antiimperialistische Rhetorik

Die AKP konnte und kann man nicht als antiwestliche Regierung bezeichnen. Im Gegenteil, sie hatte von Anfang an versucht islamische Identität und Kultur mit dem der globalen Herrschaft der USA vereinbar zu machen. Mit großer Verve strebte Erdogan die EU-Mitgliedschaft an und war dafür auch zu einigen Zugeständnissen bereit. Die Botschaft war, dass Islam, Demokratie und Kapitalismus zusammengehen; dass es keiner Revolution bedürfe, um die Herrschaft der Militärs und laizistischen Oligarchie abzuschütteln; dass man mit vorsichtigen Reformen die Nato im Land halten und einen Ausgleich mit den Kurden erzielen könnte. Dafür verliehen die westlichen Medien Erdogan und der AKP das wohlwollende Prädikat „islamisch-konservativ“, während jene die vorsichtige politische Unterstützung der westlichen Mächte genossen.

Doch der syrische Bürgerkrieg und die damit verbundene Konfliktsituation in der Türkei selbst hat die Beziehungen zum Westen verschlechtert. Die USA setzen in Syrien vor allem auf die kurdische PYD, die Ankaras Hauptfeind darstellt. Lange Zeit unterstützte die Türkei in Syrien den Jihadismus, während die USA (entgegen den Imaginationen vieler geopolitischer Linker) vor dessen Erfolgen Angst bekommen hatten. Erst Russland zwang die Türkei zum Einlenken, mit dem Erdogan nach einem zwischenzeitlichen Zerwürfnis zu einem prekären, erratischen und vermutlich auch nicht stabilen Bündnis zurückgekehrt ist. Im Gleichschritt mit der Vertiefung der inneren Konflikte in der Türkei selbst, auf die Erdogan autoritär und kulturkämpferisch reagiert, hat der Westen im Rahmen der allgemeinen antiislamischen Mobilisierung insbesondere auch eine antitürkische Kampagne lanciert. Zum strategischen Bruch ist es aber noch nicht gekommen. Dafür ist der türkische Staat als Nato-Südostflanke zu wichtig. Doch es ist auch klar, dass der Westen eine Regimeänderung wünscht – deren Mittel offen sind.

Auf diesen Druck reagiert Erdogan mit antiwestlicher Rhetorik. Im Einzelnen wirken die Themen und Motive für nicht türkisch-islamische Ohren wenig plausibel und stark übertrieben. Der Nazi-Vergleich für die politischen Systeme Europas; die angebliche Unterstützung des Westens für die „FETÖ“ sowie der PKK (allein diese Konstruktion einer terroristischen Organisation von Fetüllah Gülen, mit der man zuvor aufs Engste kooperiert hatte, ist wenig überzeugend – auf der anderen Seite weiß man, wie der Westen auf gleiche Weise nach Belieben bewaffnete Organisation als gute Rebellen und böse Terroristen klassifiziert und bei Bedarf auch wieder umordnet); die behauptete böswillige „Zinslobby“, die es im Allgemeinen vermittelt über das globale Herrschaftssystem natürlich gibt, von der jedoch insbesondere die AKP-Türkei mittels niedriger Zinsen, über die das massive Aushandelsdefizit ohne Crash gedeckt werden konnte, über lange Strecken profitierte; das Narrativ von der von der ganzen Welt verfolgten und bedrohten großen türkischen Nation, die an den hohlen nationalistischen Antiimperialismus der Kemalisten erinnert, während sie gleichzeitig der Nato als Handlager dienten; usw.

So falsch das alles im Einzelnen sein mag, so hat die Verteidigung gegen den westlichen Druck im Allgemeinen durchaus seine Berechtigung. Denn es gibt eine imperiale und koloniale Geschichte Westeuropas gegenüber der Türkei. Im Kalten Krieg wurde das gedämpft, denn der Kemalismus diente als Speerspitze gegen Kommunismus und Sowjetrussland. Aber in der gegenwärtigen Konjunktur und mit dem dauerhaft eingerichteten islamischen Regime wird der westliche Herrschaftsanspruch wieder deutlich. Das passiert nicht nur aus kulturell-ideologischen Gründen, sondern auch auf der Basis die Differenz über Syrien, gegenüber Russland und der angezweifelten Verlässlichkeit als Partner der Nato und als lokale Stütze des globalen Systems. Es ist Kehrseite des Trends zur multipolaren Welt, zum Kontrollverlust der USA und des Westens.

Auf der anderen Seite zeichnet sowohl das Osmanische Reich als auch der Nato-Staat Türkei seinerseits ebenfalls für eine imperiale Geschichte der Unterdrückung anderer verantwortlich.

In jedem Fall macht sich die westliche Linke zum Komplizen des globalen Herrschaftssystems, wenn sie im Gleichklang mit Washington, Brüssel und Berlin gegen Erdogan, Putin & Co zu Felde zieht. Denn deren Widerstand gegen den Westen enthält Momente der Selbstbestimmung, welche unerlässlicher Teil eines demokratischen Programms sind. Erst diese Anerkennung der Selbstbestimmung gegen das globale Herrschaftszentrum verleiht Kritik an autoritären Verhältnissen demokratische Legitimität.

Erdogans AKP erhält auch aufgrund dieses latent antiimperialistischen Moments Unterstützung aus dem Volk, so rhetorisch und substanzlos es noch vielfach sein mag. Es lässt tendenziell Raum für mehr offen, spielt zumindest mit einer solchen Projektion.

3. Wenig erfolgreiches Bündnis mit rechten Nationalisten

Für sein präsidentielles Projekt hat sich Erdogan die Unterstützung der bisweilen rechtsradikalen MHP geholt. Wie keine andere Kraft repräsentiert diese mit ihrer Sturmtruppe der Grauen Wölfe den tiefen Staat, der gegen die Linke und die Kurden, teilweise in islamischer Verkleidung, mit den Mitteln des schmutzigen Krieges vorgegangen war. Sie erledigten nach lateinamerikanischem Vorbild die Drecksarbeit für den gelegentlich auch linksblinkenden Kemalismus und die Nato.

Genau gegen die Kräfte war die AKP einst angetreten und hatte sie im Bündnis nicht nur mit dem Linksliberalismus, sondern vor allem mit der Hikmet-Bewegung Gülens, die den Staatsapparat unterwandert hatte, erfolgreich zurückgedrängt. Höhepunkt dessen war der Ergenekon-Prozess (2007-13) und das erfolgreiche Verfassungsreferendum 2010, das den Militärs final die Flügel stutzte.

Versteckt hinter großen Worten handelt es sich um eine Teilkapitulation Erdogans vor den Epigonen des ancien régime und seiner Ideologie des türkischen Nationalismus und des antikurdischen Chauvinismus. Es ist eine Rückwendung, jedoch ohne auf die Gegenliebe der alten Eliten zu stoßen, vielmehr der Versuch ihre Klientel wieder unter die Fittiche zu nehmen.

Ein Kernstück der demokratischen Reformen Erdogans war der versprochene Ausgleich mit den Kurden, der am Höhepunkt des Friedensprozesses dann wesentlich für das Zerwürfnis mit seinem antikurdischen Bundesgenossen Gülen mitverantwortlich war. Gründe für den Abbruch der Verhandlungen gab es mehrere. Im Vordergrund steht das Fiasko der Intervention in den syrischen Bürgerkrieg, bei dem das jihadistische Pferd niederging. Man hatte alles auf dieses gesetzt, weil man mit amerikanischer Unterstützung gerechnet hatte, die aber ausgeblieben war. Stattdessen stiegen die PKK-nahen Kurden gegen den Islamischen Staat ausgerechnet mit amerikanischer Hilfe auf (siehe die Wende von Kobane). Aber da ist auch der massive Machtverlust durch den Konflikt mit Gülen, der Erdogan zurückrudern lies, zumal man sich ja nach Gezi auch mit dem Linksliberalismus überworfen hatte. Erdogan stand an zu vielen Fronten im Krieg, irgendwo brauchte er Entspannung.

Es ist kein Zufall, dass sich die MHP über die Unterstützung für Erdogan und das Referendum gespalten hat. Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 erhielten AKP und MHP zusammen über 61% der Stimmen, die Ja-Kampagne nunmehr um ganze 10 Prozentpunkte weniger. Die MHP-Basis traut der AKP nicht über den Weg. Sie will sich mit einer Rolle als willfährigem Mehrheitsbeschaffer, der bei der nächsten Drehung Erdogans seinerseits über die Klinge springen könnte, nicht zufriedengeben. Und schon gar nicht lässt sich mit der Umarmung des Nationalismus das kemalistische Herz des alten Regimes gewinnen. Dieses weiß um die einsame Position Erdogans. Die Offiziere warten auf bessere Zeiten, eventuell um wieder zuschlagen zu können. Und schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass Erdogan nicht doch nochmals den Kurden entgegenkommt, sollte es ihm in veränderter Konjunktur zupasskommen.

Hinzu kommt, dass der Grund für die bedingungslose Unterstützung des türkischen Nationalismus durch den Westen aus der Zeit des Kalten Kriegs nicht mehr gegeben ist, umso mehr als sich Erdogan als unverlässlicher Partner erweist.

4. Erdoganismus vs. Kemalisten vs. Nationalkurden

In den westlichen Medien wird gerne von der Opposition gesprochen. Doch es gibt keinen der AKP entgegengesetzten Oppositionsblock. Grob vereinfacht gibt es den Kemalismus in den verschiedenen Schattierungen auf der einen Seite und die Nationalkurden auf der anderen Seite. Der Gegensatz zwischen den beiden ist historisch-strategisch größer als jeweils gegenüber der AKP. Über diesem Gegensatz kann sich der wachsende Bonapartismus Erdogans erheben.

Der Sieg im Referendum war nur möglich, weil der Erdogan-Block die Kurden mit aller Härte unterdrückte – was wiederum ohne die stille Unterstützung des Kemalismus nicht denkbar wäre. Die kurdische Nein-Kampagne konnte mit legalen Mitteln kaum geführt werden. Es kam nicht nur zu massiver Repression und Druck, sondern viele konnten ihre Stimme gar nicht abgeben. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung zwar sehr hoch, in den kurdischen Gebieten jedoch fiel sie geringer aus.

5. Kurdische Führung verspielt den Hebel in den islamischen Block hinein

Die Begriffsbildung weiße versus schwarze Türkei verbindet soziale Differenzierung mit kultureller Überformung. Insofern ist sie brauchbar. Doch für die Kurdenproblematik ist sie nicht zweckdienlich und für jene der Aleviten nur sehr begrenzt. Denn beide Gruppen würden sozial zur schwarzen Türkei gehören, viele Kurden sogar zum islamischen Block.

Und tatsächlich hatte die AKP unter den Kurden eine starke Anhängerschaft, zumal das Konzept der islamischen Umma dem türkischen Chauvinismus gegenüber dämpfend wirkt. Doch die AKP hat mehr versprochen, nämlich einen Ausgleich mit den Kurden im Rahmen des türkischen Staates. Die historische Führung der Nationalkurden, die PKK, sollte dabei möglichst umgangen oder zumindest gespalten und ein Teil domestiziert werden. Eigentlich war es das erste Mal, dass der türkische Staat jenseits der völligen Assimilierung für die Kurden eine historische Alternative anbot.

Doch der syrische Bürgerkrieg und die innere Zuspitzung kamen dazwischen und Erdogan machte eine Kehrtwende. Auf der islamisch-kurdischen Seite machte sich ein politisches Vakuum breit, denn die Versprechungen der AKP drohten sich in Luft aufzulösen.

Nach den Parlamentswahlen in Juni 2015 hatte die AKP die absolute Mehrheit verloren und bedurfte einer Koalition. Die aus der Wahl gestärkt hervorgehende kurdische HDP hätte in das Vakuum vorstoßen und der AKP einen Pakt zur Lösung der Kurdenfrage anbieten können. Die alleinige Verantwortung wäre dann bei Erdogan gelegen, entweder den Friedensprozess und damit auch die Demokratisierung endlich zum Abschluss zu bringen oder sich zu den alten Eliten zurückzuwenden.

Die HDP indes warf sich den Vertretern des alten Regimes an die Brust, indem sie der kemalistischen CHP und sogar der nationalistischen MHP eine Koalition anbot – ihren historischen Feinden, die sie mit der Nato im Rücken jahrzehntelang gnadenlos unterdrückt hatten. Gramscianisch gedacht, ein politisches Geschenk an Erdogan, das ihm die Tür zum Bonaparte erst aufstieß. Wie kamen sie dazu?

Einerseits spielte die US-Wende bei der Schlacht um Kobane eine große Rolle. Knapp vor der Vernichtung durch den Islamischen Staat griff im September 2014 die USA auf der Seite der Kurden ein. Diese machten Kobane zu ihrem Stalingrad, stark auch auf die Mobilisierung unter der kurdischen Bevölkerung der Türkei setzend. Seit damals waren sie in der Lage mit wachsender US-Unterstützung (sowie Duldung durch Moskau und Damaskus) sehr große Territorien in Syrien einzunehmen, auch solche, die mehrheitlich nicht kurdisch besiedelt sind. Diese Erfolge mögen zur Überschätzung der eigenen Möglichkeiten geführt haben. Wer sich mit den USA einlässt, ruft nicht nur den Zorn und die Feindschaft der anderen hervor (Türken wie Araber). Sondern er läuft auf längere Frist auch Gefahr, verraten zu werden und dann einen umso höheren Preis zahlen zu müssen.

Auf der anderen Seite versuchten die HDP die antiislamische Welle gegen den Jihadismus und insbesondere gegen den Islamischen Staat zu reiten, sowohl im Westen als auch in der Türkei, wo der Linksliberalismus gerade zuvor mit Erdogan gebrochen hatte. Aus alevitischen Umfeld stammend, hatte die PKK-Führung den Kulturkampf bisher zu vermeiden verstanden und war auch bei Gezi verhalten geblieben (sowohl wegen Rücksichtnahme auf den Friedensprozess als auch wegen der kemalistischen Ober- und Unterströmungen). Aber just in diesem Moment, brach sich dieser kulturkämpferische Impuls Bahn, um in einem regionalen Bürgerkrieg im Südosten der Türkei zu enden, der militärisch nur verloren gehen konnte.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Hauptverantwortlich für das Scheitern des Friedensprozesses ist und bleibt Erdogan und die AKP, aber die nationalkurdische Führung hat ihr Scherflein dazu beigetragen.

6. Zug zum Bonapartismus

Wir haben bereits dargestellt, wie sich über das Machtdreieck Politischer Islam-Kemalismus-Nationalkurden der Erdoganismus und Erdogan als Bonaparte erheben kann. Je schwächer das spezifische Gewicht des islamischen Blocks wird, je tiefer die Gräben zwischen den Blöcken werden, desto autoritärere Charakteristika muss der Staat annehmen.

Die Notwendigkeit eines starken Mannes gilt übrigens auch innen, gegenüber Erdogans eigenem Milieu. Das begann mit der Abrechnung mit den zu Terroristen mutierten engsten Freunde von den Gülenisten, die eine (regimenahe) Strömung innerhalb des islamischen Blocks darstellten und die friedliche Niederringung des Kemalismus erst ermöglichten.

Erdogan ist immer wieder zu pragmatischen Schenks und Wendungen fähig und auch gezwungen. Erinnern wir uns an seine Sonderbeziehung zu Assad. Zunächst hätte er gerne noch weiter auf diesen eingewirkt, jedoch in der Erwartung der Nato-Unterstützung setzte er dann jäh auf die militärische Konfrontation, die sich schrittweise zu einer vollen Unterstützung des Jihadismus auswuchs – mitsamt der ideologischen konfessionalistischen Begleitmusik, die Erdogans Bündnissystem in der Türkei selbst zugrunde richtete. Als dann Russland Assad rettete und das Kriegsglück sich gegen die Türkei wandte, verstand Erdogan, dass man Aleppo, das geplante Meisterstück seiner Geheimdienste, fallenlassen musste. Doch da hatte ein Teil seiner islamistischen Basis schon eine heftige Kampagne gegen den „russischen Imperialismus“ gestartet. Erdogan spaltete den syrischen Jihadismus entlang der Aufgabe Aleppos und des Ausgleichs mit Russland. Die fast unmögliche Aufgabe, den radikal-reaktionär-antiimperialistischen Teil im De-facto-Kalifat von Idlib niederzuringen oder zu domestizieren, steht noch bevor.

Auch dazu braucht Erdogan freie Hand, genauso wie für zukünftige abrupte Wendungen oder gar einen Bürgerkrieg.

7. Selbstverteidigung der schwarzen Türken in Europa

Der große Erfolg der Ja-Kampagne in Europa, wo in den Zentren der Arbeitsmigration Erdogan auf Zweidrittelmehrheiten und mehr zählen konnte, hängt natürlich wesentlich mit dem anatolischen Charakter der der Bevölkerung zusammen. Teilweise muss man es aber auch als Form der Selbstverteidigung gegen den intensiven antitürkischen und antiislamischen Chauvinismus – von oben wie von unten – verstehen.

8. Sozialrevolutionärer dritter Pol

Wer glaubt, dass allein mittels der kurdischen Frage der verschüttete soziale Konflikt freigelegt werden kann, der irrt. Der islamische Block bleibt klassenübergreifend und überspannt die gesamte soziale Stufenleiter. Lässt man sich auf den Kulturkampf ein, agiert man reziprok, kann man nur verlieren und den AKP-Block weiter zusammenschweißen.

Vielmehr geht es darum, in der Kulturfrage höchst defensiv zu handeln, die elementaren demokratischen Rechte und die Koexistenz der Identitäten zu verteidigen. Das bedeute die kurdischen, alevitischen, laizistischen Identitäten zu bestätigen, ohne das Recht auf eine sunnitisch-konservative Identität zu negieren, ihr aber den Übergriff auf andere zu verweigern, ihr demokratische Grenzen zu setzen. Das ist gleichzeitig auch der Weg einen Bürgerkrieg, wie er in wichtigen Teilen der arabischen Welt latent oder akut herrscht, zu vermeiden.

Dabei muss die Distanz zum alten Regime, zu den Militärs und Kemalisten und natürlich zum Westen über jeden Zweifel erhaben sein, um die Kritik am Autoritarismus Erdogans glaubwürdig zu halten.

Eine innere Differenzierung im islamischen Block ist die Voraussetzung zur Repolitisierung des sozialen Konflikts hin zur Notwendigkeit eines Bruchs mit der kapitalistischen Elite als auch mit dem globalen System.

Dabei ist die Kritik an Erdogans Außenpolitik von großer Bedeutung. Rückzug aus dem syrischen Bürgerkrieg, Beendigung der neoosmanischen Anwandlungen, Schluss mit der Unterstützung für den Jihadismus, kein EU-Beitritt und Austritt aus der Nato, möglichst freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn und zu Russland.