Bericht von der Delegationsreise nach Diyarbakir und Van

08.10.2014
Von Martin Flückiger, BastA! Schweiz
Reise vom 26.09. bis 03.10.2014

1. Rojava

Unsere Delegationsreise war überschattet von der dramatischen Entwicklung in Rojava (so nennen die KurdInnen das kurdische Gebiet im Norden Syriens). Täglich erreichten uns neue Schreckens-nachrichten aus dem Kriegsgebiet rund um die Stadt Kobanê. Um zu verstehen, was sich dort abspielt, sollte man Folgendes Wissen:
Rojava ist mehr als irgendein von KurdInnen bewohntes Gebiet. Rojava ist quasi die Zukunftswerkstatt der Kurdinnen und Kurden. Was diese dort in der kurzen Zeit, die man ihnen gelassen hat, aufgebaut haben, ist beeindruckend und hat Vorbildcharakter nicht nur für den ganzen mittleren und Nahen Osten, sondern weltweit. In Rojava ist eine Gesellschaftsform entstanden, die sich nicht entlang religiöser oder ethnischer Unterschiede organisiert, sondern alle Teile der Bevölkerung in einer Art Rätesystem in die Gestaltung des Gemeinwesens einbezieht: Aleviten, Sunniten, Schiiten, Christen, Armenier, Kurden, Syrer etc. Eine Demokratie „von unten“ eben, wie sie Abdullah Öcalan in seinem Manifest vorgezeichnet hat. Dieses Demokratiemodell entspricht nicht der direkten Demokratie, wie wir sie hier in der Schweiz kennen. Wir haben eine Sonntagsdemokratie, die vor dem Alltag Halt macht: Am Arbeitsplatz sind wir der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt, auf dem Wohnungsmarkt der Geldgier der Hausbesitzer und Spekulanten. Nicht so in Rojava, wo demokratische Strukturen alle Lebensbereiche umfassen.
Es liegt auf der Hand, dass dieses Gesellschaftsmodell weder den mächtigen, autoritären Ölstaaten in der Region noch den USA oder der EU in den Kram passt. Es ist wohl kein Zufall, dass die USA vor allem Stellungen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ in Nordirak bombardieren und die Kurdinnen und Kurden in Rojava ihrem Schicksal überlassen. Diese besitzen ja kein Öl. Und mit Barzani im Nordirak kann man sich verständigen. Der ist – im Unterschied zu Abdullah Öcalan – kein Politiker, und schon gar nicht ein gesellschaftlicher Erneuerer, sondern vor allem Milliardär und Ölmanager, ein Kapitalist eben.
Die USA haben in jüngster Zeit zweimal versucht, den mittleren Osten nach ihren Interessen umzu-gestalten, beide Male mit verheerenden Konsequenzen. Der Einmarsch der amerikanischen Truppen in den Irak hat zwar der Diktatur Saddam Husseins ein Ende gesetzt, aber im Gegenzug nicht nur den Irak selber, sondern die ganze Region destabilisiert. Und die amerikanische und europäische Unterstützung der syrischen „Rebellen“ gegen das Assad-Regime hat fanatischen Gotteskriegern den Weg bereitet, die jetzt auf ihre schreckliche Weise ebenfalls versuchen, den mittleren Osten umzugestalten.
Die Türkei spielt in diesem Zusammenhang ein äusserst dreckiges und gefährliches Spiel. Der türkische Staat unterstützt die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) zumindest logistisch – dafür gibt es Beweise – und sieht zu, wie der IS die Kurdinnen und Kurden niedermetzelt und damit vor allem auch die PKK schwächt. Erdogan hat öffentlich geäussert, er betrachte die PKK als die grössere Gefahr als den Islamischen Staat. Ausserdem erhofft sich die Türkei, durch den Vormarsch des IS grünes Licht für die Errichtung einer sogenannten Sicherheitszone entlang der syrischen Grenze zu erhalten. Damit würden dann genau die Gebiete von der Türkei militärisch besetzt, in denen die Kurdinnen und Kurden daran sind, ihr innovatives Gesellschaftsmodell zu verwirklichen.
Gefährlich ist dieses Spiel für die Türkei aber auch innenpolitisch. Die PKK interpretiert das Verhalten der Türkei zu Recht als Verletzung des Waffenstillstands, der seit 2013 in Kraft ist. Sollte das Kalkül der Türkei aufgehen und Kobanê fallen, ist absehbar, dass die PKK wieder Ziele in der Türkei angreifen wird. Es droht ein erneuter Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee, und dieser Krieg wird heftiger geführt werden als alle vorangehenden, befürchten unsere GesprächspartnerInnen in Diyarbakir und Van.
Ich könnte vor Wut weinen beim Gedanken, dass einem derart vielversprechenden Aufbruch in eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie er in Rojava stattgefunden hat, durch barbarische Gewalt ein abruptes Ende droht. Die Weiterführung dieses gesellschaftlichen Experiments wäre enorm wichtig, nicht nur für die Kurdinnen und Kurden selber, sondern auch für uns, die wir uns weitgehend mit dem kapitalistischen System arrangiert haben und uns eine radikal andere Gesellschaft jenseits kapitalistischer "Sachzwänge" kaum mehr vorstellen können. Gelebte Gesellschaftsmodelle mit Vorbildcharakter sind rar und daher sehr kostbar. Was in Rojava geschieht, geht uns alle ganz direkt etwas an. Wir sind alle Kurdinnen und Kurden.
Die Lage in Kobanê ist dramatisch. Die Stadt ist vom IS umzingelt. Die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer sind entschlossen, ihre Stadt bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Kapitulation würde sowieso den sicheren Tod bedeuten, der IS kennt keine Gnade. Der einzige Fluchtweg wäre Richtung Türkei. Doch da steht die türkische Armee mit Panzern und Soldaten, und die sind der PKK bekanntlich alles andere als wohlgesinnt. Die Demonstrantinnen und Demonstranten, die an der türkisch-syrischen Grenze seit Tagen ausharren, um ihre Solidarität mit den Menschen in Kobanê auszudrücken – mehrere Tausend – sind von der türkischen Polizei mit Tränengas, Gummischrot und Knüppeln vertrieben worden. Die Türkei duldet keine Augenzeugen. Die Kämpferinnen und Kämpfer in Kobanê haben sich Bomben um den Leib geschnallt. Sollte der IS in die Stadt einmarschieren, werden sich die Kämpfenden den Besatzern als lebendige Bomben entgegen werfen. Ein letzter, verzweifelter Akt des Widerstands.
Wir haben auf unserer Reise aber auch viel Schönes und Ermutigendes erlebt, mit wunderbaren Menschen gesprochen, gelacht, gut gegessen, haben mitbekommen, was kurdische Politikerinnen und Politiker mit Mut und Beharrungsvermögen unter widrigsten Umständen alles erreicht haben. Wenn ich aus Kurdistan zurückkomme, bin ich immer voller Elan und schäme mich, dass wir in der Schweiz unter wesentlich besseren Bedingungen nicht mehr zustande bringen. Wir können von den Kurdinnen und Kurden nur lernen.

2. Diyarbakir (27.09.2014)

Wegen der dramatischen Ereignisse rund um Kobanê waren einige vorgesehenen Gesprächspartnerinnen und -partner nicht in der Stadt, sondern an der syrischen Grenze oder in Kobanê, um die Kämpfenden moralisch zu unterstützen. So die neu gewählte Oberbürgermeisterin von Diyarbakir und Osman Baydemir.
Ein schönes Zusammentreffen hatten wir mit Nezahat, die zurzeit bei ihrer älteren Tochter in Diyarbakir wohnt. Die Tochter hat ein Mädchen zur Welt gebracht. Nezahat ist jetzt also stolze Grossmutter und macht einen entspannten und glücklichen Eindruck. Apolitisch ist sie deswegen aber keineswegs geworden. Politisch engagiert ist sie noch immer. Auch sie ist sehr beunruhigt über die Entwicklung in Rojava. Aber ist nicht die Geburt eines Kindes das genaue Gegenteil von Krieg? Darüber darf und soll man sich freuen!

a) Raci Bilici (Menschenrechtsorganisation IHD)

Raci Bilici hat nur wenig Zeit für uns, da er an der wöchentlichen Mahnwache der Friedensmütter eine Rede halten wird (wir haben ihn dann dorthin begleitet). Seit 2013 habe man nun einen Waffenstillstand, erklärt Bilici, doch einer demokratischen Lösung des Kurdenkonflikts sei man nicht näher gekommen. Die Türkei nehme den Friedensprozess nicht ernst, sondern benutze den Waf-fenstillstand im Gegenteil, um aufzurüsten und militärische Stellungen auszubauen. Auch auf der gesetzlichen Ebene habe sich nicht viel getan. Die demokratischen Grundrechte würden nach wie vor missachtet, und auch von kultureller Freiheit sie nicht viel zu spüren. So wurden neu eröffnete Schulen, in denen auf Kurdisch unterrichtet werden sollte, von der Polizei am Eröffnungstag gestürmt. Am äusserst harten Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstrantinnen und Demonstranten habe sich nichts geändert. Seine Kurzfassung: „Durch den Waffenstillstand gibt es in der Türkei zwar keine Toten durch militärische Auseinandersetzungen mehr, aber die demokratischen Grundrechte sind nach wie vor nicht gewährleistet und damit ein stabiler Friede in weiter Ferne.“

b) DTK (Demokratischer Volkskongress)

An die DTK sind wir verwiesen worden, weil wir noch Hilfsgüter für Rojavamitgebracht hatten. Die DTK hat die Projektkoordination für Rojava übernommen. Nach Einführung der Selbstverwaltung in Rojava habe dort ein grosser Bedarf an humanitärer Hilfe geherrscht. Das habe zu Vereinsgründungen sowohl in kurdischen wie in türkischen Städten geführt. Auch internationale Hilfe habe es vereinzelt gegeben. So habe Kanada 40‘000 Dollar zur Verfügung gestellt. Wenn möglich würden sie aber kein Geld direkt entgegen nehmen. Im Falle Kanada habe man das so gelöst, dass vor Ort Decken eingekauft worden seien. Die Rechnung habe man dann nach Kanada geschickt, das den Betrag direkt der Firma vergütet habe, die die Decken geliefert habe. Dieses Modell würden sie befürworten. Hilfsgüterlieferungen wie Kleider oder Medikamente aus dem Ausland hingegen seien oft problematisch. Die Einfuhr der Güter in die Türkei sei schwierig, und der Transport würde oft mehr kosten, als wenn man dieselben Güter vor Ort eingekauft hätte.

3. Van (29.09. bis 02.10.2014)

Seit den Wahlen im April dieses Jahres ist die Provinz Van neu strukturiert. Der Stadt Van unterstehen jetzt zusätzlich 553 Verwaltungseinheiten (Gemeinden, Quartiere etc.) in der ganzen Provinz. Diese wiederum sind in drei Verwaltungsdistrikte aufgeteilt, von denen zwei in den Händen der BDP sind, einer in den Händen der AKP. Einer dieser Verwaltungsdistrikte ist Edremit, wo Rojbin als Bürgermeisterin amtet.

a) Rojbin, Bürgermeisterin von Edremit (29.09.2014)

Rojbin empfängt uns in alter Frische, voller Elan und von Ideen sprühend. In ihrem Verwaltungsdistrikt leben offiziell 105‘000 Menschen, in Wirklichkeit aber ca. 125‘000. Dass der Zentralstaat bei der Zuteilung der Gelder auf die offiziellen Zahlen abstellt, ver Die Bevölkerung sei sehr arm, die Arbeitslosenquote hoch. Die Probleme, die sie angehen muss, sind vielfältig:

• Die Bildungsangebote sind ungenügend, die bestehenden Unterrichtsgebäude viel zu klein.
• Edremit – unmittelbar am See gelegen – gilt als Gegend mit touristischem Potenzial. Nur kann dieses kaum genutzt werden. Die schönsten Strandabschnitte sind von Verwaltungsgebäuden der Zentralregierung besetzt, und die ist nicht bereit, diese herzugeben. Auch setzt das Budget dem Aufbau einer touristischen Infrastruktur enge Grenzen. Allein die Wasserversorgung schluckt 40% des Budgets.
• Die Hochhaussiedlungen, welche die staatliche Baufirma Toki nach dem Erdbeben gebaut hat, sind tote Schlafstätten für arme Menschen. So etwas wie ein Quartiersleben mit Läden und Teehäusern gibt es nicht.
• Ein grosses Problem stellen die drogenabhängigen Jugendlichen dar. Es gibt Hinweise darauf, dass die Zentralregierung den Drogenhandel gezielt fördert, zumindest durch stillschweigende Duldung.
• In Edremit gibt es weder eine Kanalisation noch eine Abwasserreinigung. Die Abwässer gehen ungefiltert in den See, was einer touristischen Nutzung der Gegend nicht eben förderlich ist.
• Sorgen bereitet auch die gezielte Islamisierung der Gesellschaft. In jeder Toki-Haus-Siedlung gibt es mindestens einen Raum, wo der islamistische Familien- und Kinderschutzverein den Kindern Korankurse anbietet und islamistische Werte und Moralvorstellungen vermittelt. Bereits gebe es Beispiele, wo ein Sohn einer Familie in den Bergen kämpfe (PKK), ein anderer sich dem IS angeschlossen habe.

Rojbin hat aber auch etliche Ideen, wie die Misere angegangen werden kann:
• Stolz präsentiert sie uns den Rohbau eines Gebäudes, in dem künftig Kinder gratis Nachhilfeunterricht erhalten und Vorbereitungskurse für den Besuch höherer Schulen besuchen können. Und das nach nur 5 Monaten im Amt!
• Ihr schwebt ein Projekt vor, das es Frauen in Schwierigkeiten erlaubt, in Sicherheit zu leben und sich autonom zu ernähren.
• Sie möchte Kleinhändler und Handwerker in Kooperativen organisieren.
• Alte armenische Weinbaugebiete könnten wieder reaktiviert werden, doch das braucht Geld.
• Für die vielen Kleinbauern, die entlang der Hauptstrasse (illegal) Schilfhütten aufbauen, wo sie Melonen oder Kürbisse anbieten, möchte sie einen Marktplatz/eine Markthalle schaffen, wo die Menschen auch bei schlechter Witterung ihre Produkte anbieten können.
• Auch die Agrarwirtschaft sollte reaktiviert werden.
• Nicht zuletzt möchte Rojbin eine Art Kinderdorf realisieren, das die Kinder mitgestalten können, mit Sport- und Spielplätzen, einem Gartenbeet, einer Bibliothek, kurz, ein Ort, wo Kinder – betreut von Fachpersonen – Kinder sein können, Märchen erzählt, aber zum Beispiel auch Verkehrsregeln unterrichtet werden. Ziel dieses Projekts ist es, die Kinder zu entlasten und ihnen soziales Verhalten beizubringen, nicht zuletzt auch als Vorbeugung gegen Drogenmissbrauch und islamistische Indoktrinierung. Dieses Projekt soll übrigens ein Projekt für die ganze Provinz Van werden.

Rojbin hat viel zu tun. Doch wo andere vielleicht verzweifeln würden, packt sie die Probleme mit viel Elan an. Wir wünschen ihr viel Erfolg.

b) Enver (Kelimwerkstatt, 29.09.2014)

Wie wir wissen, sind drei Werkstätten beim Erdbeben 2011 eingestürzt. Nun hat Enver aber von der Gemeinde Van Grundstücke bekommen und kann neue Werkstätten bauen. Er sei jetzt doppelt gefordert: Einerseits müsse er sich um die rund 100 Frauen in den Werkstätten kümmern, anderer-seits um die Baustellen. Enver erhält auch ein neues Verwaltungsgebäude, das den Container, in dem er jetzt sein Büro hat, ersetzen wird.
Auf dem Markt sei es aber im Monet schwierig, die Konkurrenz aus Afghanistan, Iran und China etc. sei gross. Obwohl Enver die traditionellen Muster sehr am Herzen liegen, ist er aus ökonomischen Gründen auch gerne bereit, Anregungen von aussen aufzunehmen. Neben Herrn Niederberger aus der Schweiz gibt nun auch einen Norweger, der Bestellungen für mit einem modernenDesign aufgibtTeppiche (Unikate nach vorgegebenem Muster).
Enver hat aber auch sein Tätigkeitsfeld ausgeweitet und ursprünglich 50 Bienenvölker angeschafft – aktuell sind es bereits 75. Die Bienenvölker werden per Los den Frauen zugeteilt, die sie dann betreuen und den Honig vermarkten können, je drei Völker pro Person. Die erste Honigernte ging allerdings an die Sponsoren des Projekts, die sich das so ausbedungen hätten. Er habe den Sponsoren den Honig (rund 300 Kg) zu einem deutlich über dem Marktpreis liegenden Entgelt abgegeben, berichtet Enver mit einem verschmitzten Lächeln. Nächstens wird Enver mit sechs Frauen einen Kurs in Bienenzucht an der Uni in Istanbul besuchen, wo sie auch lernen, Königinnen zu züchten.
In der Werkstätte arbeitet zurzeit auch eine junge Informatikerin, die den Frauen den Umgang mit Computer und Internet beibringt, auf Chancen und Risiken aufmerksam macht. Enver verfügt zurzeit über 30 PC’s mit Internetanschluss. Die Internet-Cafés hält Enver für eine gefährliche Sache. Wenn die jungen Frauen da hingehen, etwa um Hausaufgaben zu erledigen, sei die Versuchung gross, auch Seiten zu besuchen, die gefährlich sind. Die Informatikerin hat uns auf dem Rundgang durch die Werkstätten begleitet.
Erfreulich ist, dass zwei Frauen, die wir auf früheren Delegationsreisen kennengelernt hatten, inzwischen an der Uni studieren, obwohl sie nie eine Schule besucht haben, sondern „nur“ in der Werkstätte unterrichtet worden sind. Erfreulich ist auch, dass die Werkstätte laut Enver zurzeit über genügend finanzielle Mittel verfügt. Wir sollten uns keine Sorgen machen um Teppiche, die bei uns lagern und noch nicht verkauft worden sind, sagt Enver auf Nachfrage.

c) Van Belediye (Oberbürgermeisteramt von Van, 30.09.2014)

Da Bekir Kaya in Kobanê war, empfing uns die Co-Bürgermeisterin von Van. Das ist auch eine Neuerung, welche die BDP eingeführt hat. Bei den Wahlen ist zwar ein Co-Präsidium nicht vorgesehen, doch die BDP hat dies unterlaufen, indem sie zwar nur eine Kandidatin/einen Kandidaten aufstellte, in der Wahlpropaganda aber deutlich machte: Wenn ihr unsere Kandidatin/unseren Kandidaten wählt, wählt ihr zugleich eine Co-Präsidentin/einen Co-Präsidenten. Die Zentralregierung will dieses Vorgehen nun juristisch anfechten.
Die Verwaltungsreform brachte der Stadt Van mehr Verantwortung (wie eingangs erwähnt für 553 Verwaltungseinheiten). Nur die Budgetierung wurde nicht entsprechend angepasst. Die Provinz Van ist sehr arm und rangiert mit 70% Arbeitslosigkeit unter den drei Regionen mit der höchsten Arbeitslosenquote in der ganzen Türkei. Bei denen, die Arbeit hätten, seien befristete Tätigkeiten die Regel.
Die Reform habe der Gemeinde aber auch mehr Autonomie gebracht. So seien die staatlichen Städtebaubüros aufgelöst und diese Aufgabe der Gemeinde übertragen worden. Nur habe der Staat auch sämtliche Gerätschaften wie Bagger, Planiermaschinen etc. mitgenommen, respektive beispielsweise der Polizei überlassen. Was will die Polizei mit Planiermaschinen? DemonstrantInnen plattwalzen??
Vom Wiederaufbau nach dem Erdbeben profitierte Van kaum. Wie befürchtet, hat die staatliche BaufirmaToki die eigenen ArbeiterInnenmitgebracht. Einzig bei lokalen Baustellen kommen einheimische Handwerker zum Zug.
Zurzeit werden von Van aus 22‘000 Flüchtlinge aus Syrien täglich mit warmem Essen versorgt. Van sei da sehr stark involviert.
Die ökonomische Situation in Van ist prekär. Die politisch instabile Lage in der Region schrecke Investoren eher ab. Trotzdem sei in den letzten 10 Jahren ein leichter Aufwärtstrend zu beobachten.
Die Drogenproblematik sei alarmierend, wird uns auch hier bestätigt. Zwar sei in der ganzen Türkei ein Zuwachs von Drogenabhängigen zu verzeichnen, doch in den kurdischen Gebieten sei die Zahl Drogenabhängiger sprunghaft angestiegen. Beweise dafür, dass es sich hierbei um eine gezielte Strategie zur Schwächung der kurdischen Bewegung handle, gebe es zwar nicht, aber deutliche Hinweise schon. So sei die Polizei sofort präsent, wenn sich einige Jugendliche zu einer politischen Kundgebung versammelten. Wenn aber in aller Öffentlichkeit Drogen gedealt würden, schaue die Polizei weg. Es ist auch erwiesen, dass die Polizei in etlichen Fällen direkt in den Drogenhandel verwickelt war, zum Beispiel in Dersim.

d) IHD Van (30.09.2014)

Beim Menschenrechtsverein IHD in Van wurde uns weitgehend bestätigt, was wir schon beim IHD in Diyarbakir erfahren hatten. Die Gesetze, die im Zusammenhang mit den KCK-Verfahren zur Verhaftung von rund 5‘000 AktivistInnen geführt hatten, existieren nach wie vor (Anti-Terrorgesetze aus der Zeit der Militärdiktatur).
In Rojava führe die Türkei mit Hilfe des IS einen indirekten Krieg gegen die Kurden mit dem Ziel, bei Verhandlungen mit Öcalan die besseren Karten in der Hand zu haben. Doch wenn Kobanê falle, werde es wieder Krieg in der Türkei geben. Der Türkei sei es sowieso nie ernst gewesen mit dem Friedensprozess. Dieser sei ihr aufgezwungen worden einerseits durch die Stärke und die Verankerung der PKK in der kurdischen Bevölkerung, andererseits durch Druck von aussen.
Aus menschenrechtlicher Sicht ist es empörend, dass rund 200 schwerstkranke Inhaftierte nicht freigelassen werden – wie es das Gesetz eigentlich vorschreibt – sondern weiterhin in Haft bleiben, mit der Begründung, sie stellten eine Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft dar!
Von den KCK-Gefangenen sind zwar viele auf Grund der neuen Gesetzgebung nach 5 Jahren Haft ohne Urteil freigelassen worden, doch bei einigen Schlüsselpersonen habe man sich beeilt, noch rasch ein Urteil zu fällen, bevor das neue Gesetz greift.
Was die Kinder/Jugendlichen in den Gefängnissen betrifft, habe sich zwar vordergründig die Gesetzeslage verändert, in der Praxis aber kaum etwas. Zwar gebe es nun JungendrichterInnen, aber keine Jugendgefängnisse. Die Kinder/Jugendlichen würden im Gegenteil in den sogenannten M-Gefängnissen untergebracht, zusammen mit „gewöhnlichen“ Kriminellen, und nicht in den F-Gefängnissen, wo politische Häftlinge einsitzen. Vor allem politisch motivierte Jugendlich sollen gebrochen werden, werden gefoltert und sind sexuellen Übergriffen ausgeliefert.
Die Terrororganisation Islamistischer Staat werde auch von der Türkei aus organisiert. Es gebe Vereine, die Kämpfer rekrutierten und dem IS logistische Unterstützung böten, mit Billigung des Staates.

e) Gülcihan (30.09.2014)

Das Wiedersehen mit Gülcihan, der ehemaligen Bürgermeisterin von Van-Bostanici, nach 5 Jahren Haft ohne Urteil war eindrücklich. Gesehen haben wir sie in dieser Zeit zwar schon, als Prozessbe-obachterInnen im Gerichtssaal, zwischen uns 10 Meter Sicherheitsabstand und die Gendarmerie. Aber sie in Freiheit in die Arme schliessen zu können, war schon ein besonderer Moment.
Mit den Masseninhaftierungen wollte die Türkei unsere Bewegung schwächen, sagt Gülcihan. Doch das Gegenteil sei eingetroffen. Die Inhaftierungen hätten die Bewegung gestärkt. Sie seien mit neuem Elan aus den Gefängnissen gekommen und würden entschiedener weiter kämpfen denn je.
In den Akten der Anklage sei übrigens auch unser Flyer zur Wäscherei Maya aufgetaucht, als Beweis dafür, dass sie Verbindungen ins Ausland habe und auch aus dem Ausland finanzielle Unterstützung erhalte.
Unsere Solidarität – und überhaupt internationale Solidarität – sei in solchen Situation enorm wichtig und würde einiges bewegen. Wichtig nicht nur für die Inhaftierten, sondern beispielsweise auch für die Anwältinnen und Anwälte, die dadurch gestärkt würden.
Gülcihan ist eine Persönlichkeit, die man schwer beschreiben kann: Eine enorm starke und gleichzeitig feinfühlige und lebensfrohe Frau mit einer Ausstrahlung, die einen aufrüttelt und Mut macht.

f) Frauenzentrum (01.10.2014)

An diesem Tag hat uns ein Kleinbus abgeholt und an den Ort gefahren, wo noch vor anderthalb Jahren Envers Kelimwerkstatt stand, die vom Erdbeben zerstört worden ist. Uns blieb buchstäblich die Spucke weg, als wir sahen, was da entstanden ist: Ein grosser, schön gestalteter moderner Neubau, davor ein Blumenbeet in Form des Frauenzeichens: das Frauenzentrum von Van. Davon können wir in Basel nur träumen. Im Frauenzentrum werden verschiedene Frauenprojekte gebündelt. Einerseits geht es darum, Frauen handwerklich auszubilden und ihnen dadurch eine finanziell unabhängige Existenz zu ermöglichen, andererseits um Beratungs- und Unterstützungsangebote etwa bei häuslicher Gewalt oder Schwierigkeiten mit Behörden etc. Das Frauenzentrum beherbergt folgende Einrichtungen:

• Zwei Textilateliers, wo Frauen lernen, Kleider herzustellen, und zwar nicht nur traditionelle und für den Eigengebrauch, sondern auch moderne für den Markt. Geplant ist in Van ein Textilzentrum, wo die Frauen ihre Produkte verkaufen können. Deutsche Sponsoren haben moderne Nähmaschinen gestiftet und finanzieren ein Projekt, das vorsieht, 300 Frauen theoretisch und praktisch auszubilden mit Zertifikat. Nach Abschluss des Projekts bleiben die Nähmaschinen im Besitz des Frauenzentrums.
• Ein Keramikatelier, in dem Frauen Artikel herstellen, die dann verkauft werden. Der Erlös geht zu 50% an die Frauen, zu 50% an das Zentrum, das ja das Material und die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt
• Ein Kunsthandwerkatelier, wo Ketten, Armbänder, kleine Tischchen etc. hergestellt werden. Der Erlös geht wiederum zu 50% an die Frauen, zu 50% an das Zentrum.
• Im Zentrum integriert ist auch die Beratungs- und Betreuungsstelle für Frauen in schwierigen Situationen, etwa bei häuslicher Gewalt (Vakasum). Dort arbeiten u.a. eine Psychologin und eine Soziologin. Vakasum ist aber oft auch ausser Haus tätig, also vor Ort, wo die Konflikte eskalieren.
• Eine grosse, schöne Bibliothek mit modern gestaltetem Lesesaal.
• Ein Fitnessraum, in dem neben den üblichen Maschinen auch ein Sandsack hängt, an dem sich künftige Boxerinnen (oder Selbstverteidigerinnen) trainieren können.
• Eine Küche und ein Gemeinschaftsraum, wo gegessen und palavert wird.
• Ein grosszügiger und witzig gestalteter Kinderhort, wo sowohl die Kinder der Lehrerinnen wie diejenigen der Besucherinnen gut aufgehoben sind und betreut werden.

Wie gesagt, von einem so grosszügigen Frauenzentrum können wir hier nur träumen. In Kurdistan ist es innerhalb eines guten Jahres realisiert worden.

g) Ehemals Van-Bostanici (02.10.2014)

Van-Bostanici gibt es seit der Verwaltungsreform als Verwaltungseinheit nicht mehr. Die neue „Gemeinde“ umfasst, wie Edremit, viele kleinere Orte und Dörfer. Ein Dorf beispielsweise, das dazugehört, liegt 150 Km entfernt.
Da die neu gewählte Bürgermeisterin in Kobanê war, empfing uns der Co-Bürgermeister. Dieser meint, die Verwaltungsreform widerspreche eigentlich der europäischen Vereinbarung über Gemeindeautonomie (uns war allerdings nicht ganz klar, was damit gemeint ist). Die Reform habe ja auch vor allem den Zweck verfolgt, die BDP zu schwächen und die AKP zu stärken. Doch dieses Kalkül sei nicht aufgegangen, die BDP habe bei den Wahlen in zwei der drei neu definierten Wahlkreise gewonnen.
Ein wichtiges Anliegen ist dem Co-Bürgermeister der Städtebau. Dem städtebaulichen Wildwuchs müsse endlich ein Riegel geschoben werden. Es gelte, den Städtebau auf der Grundlage wissenschaftlicher und ökologischer Aspekte neu zu organisieren. Man müsse der Willkür entgegentreten.
Als er den Vorschlag gemacht habe, eine ökologische Kläranlage zu bauen, sei er anfangs belächelt worden. Nun sei das Projekt zu 80% von Sponsoren finanziert und werde gebaut. Mit Beharrlichkeit und Fantasie könne man einiges erreichen.
In der Wäscherei Maya wurden wir herzlich empfangen. Gewaschen wird dort zwar kaum mehr, dafür Keramik hergestellt, unter der kundigen Leitung eines jungen Lehrers, der die Frauen ermutig, auch selber Entwürfe zu machen, zu zeichnen und zu gestalten. Das Keramikatelier wird allerdings demnächst ins Frauenzentrum zügeln. Die Wäscherei wird dann vor allem noch als Ausbildungsstätte benutzt (Kurse, Vorträge etc.).

Schlussbemerkung

Trotz der aktuell sehr bedrückenden Situation in Kurdistan war unsere Delegationsreise für alle Beteiligten einmal mehr eine Bereicherung. Die Projekte, die wir von der Schweiz aus finanziell unterstützen, sind überzeugend. Sie sind es nicht wegen des Geldes, das wir überweisen, sondern wegen der engagierten Personen vor Ort, die diese Projekte ausgedacht haben und umsetzen. Viel wichtiger als unser Geld ist den Kurdinnen und Kurden gelebte Solidarität. Dass es uns nicht gleichgültig ist, was in Kurdistan passiert, dass wir Anteil nehmen, uns mit ihnen empören, dass wir ihnen zuhören, mit ihnen politisch debattieren und dabei auch die nicht sehr erfreulichen Zustände in der Schweiz thematisieren, das ist wichtig.
Wir sind den Kurdinnen und Kurden zu Dank verpflichtet. Sie zeigen uns eindrücklich, dass es auch anders geht, dass man etwas erreichen kann, wenn man mutig und beharrlich an einer Sache dran bleibt und nicht vor den kapitalistischen „Sachzwängen“ kapituliert, wie beispielsweise die rot-grüne Regierungsmehrheit in Basel.

05.10.2014