Zur Lage in und um Kobani

14.10.2014
Bericht und Analyse
Von Mustafa Ilhan
Die folgenden Eindrücke und Schlußfolgerungen zu den aktuellen Entwicklungen in Syrien und der Türkei sind das Ergebnis dieser Reise die vom 09-12.10.2014 mit Unterstützung des Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke Andrej Hunko stattfand.
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Die Lage um die syrische Stadt Kobani wird immer verzweifelter, seit die Kräfte eines sunnitischen Aufstandes seit Juni 2014 die politische Nachkriegsordnung der USA mit Leichtigkeit hinwegzufegen scheinen. Doch während sich der Aufstand im Irak gegen diejenigen richtet die die US-amerikanische Nachkriegsordnung repräsentieren, richtet sich seine militärische Hauptkraft im heutigen Syrien gegen diejenigen Kräfte die bis heute ein Teil des Aufstandes gegen das Regime in Damaskus gewesen sind. Vor allem die im Zuge des Bürgerkriegs entstandenen autonomen kurdischen Gebiete im Norden Syriens, die sich selbst als „Rojawa „ bezeichnen, sind in Syrien aktuell zum Hauptziel des Islamischen Staates (IS) geworden. Seit ca. 3 Wochen tobt um die kleine Stadt Kobani an der türkischen Grenze eine erbitterte Schlacht zwischen den kurdischen Volksmilizen und dem IS, die international für großes Aufsehen sorgen. Die politisch-militärische Zuspitzung bekommt vor dem Hintergrund eine weitere brisante Komponente indem der Konflikt auf die Türkei überzugreifen droht.

Im Hinblick auf die meist einseitigen Informationen in den bürgerlichen Medien haben wir uns entschieden eine „Fact-Finding-Mission“ zu machen. Ziel war es dabei so nah wie möglich an die Grenze nahe Kobani zu kommen. Schon bei meiner Ankunft in Gaziantep, von der ich später weiter nach Urfa/Suruc an die Grenze bei Mürsitpinar gereist bin, ist das erste, das mir ins Auge springt, die schiere Anzahl der Flüchtlingen in den Städten und Dörfern entlang der Grenze.

Anders als in den türkischen Medien oft verbreitet oder im TV gezeigt, spielt sich das Leben der Flüchtlinge meist eben nicht in gut betreuten Flüchtlingslagern ab. Diese sind sehr oft völlig auf sich alleine gestellt. In Urfa sind selbst nachts Kinder zu sehen, die im Müll nach etwas verwertbarem suchen, um sich etwas dazuverdienen zu können. An der syrisch/türkischen Grenze herrscht ein regelrechtes Chaos. Überall ist türkisches Militär zu sehen, Verletzte warten an der Grenze auf den Abtransport durch türkische Ambulanzen. Aus Kobani selbst sind Schüsse und Explosionen der tobenden Schlacht zu hören, immer wieder unterbrochen durch herannahende US-amerikanische Kampfjets die die Stadt von oben unter Feuer nehmen. Immer wieder sieht man in kleinen Gruppen Flüchtlinge über die Grenze kommen, die es aus der umkämpften Stadt heraus geschafft haben und versuchen sich über die türkische Grenze in Sicherheit zu bringen. Der Grenzübergang nach Syrien bei Mürsitpinar, der nur etwa 1-2 Kilometer entfernt von Kobani liegt, ist mittlerweile der einzige noch mögliche Zugang zur Stadt.

Von syrischer Seite her ist die Stadt durch die IS abgeriegelt, nur ein schmaler Zugang, an der türkischen Grenze kann bisher weiter durch die kurdischen Milizen gehalten werden. Der noch vor Tagen in beide Richtungen durch türkisches Militär blockierte Zugang nach Kobani wird unregelmäßig geöffnet, in Abhängigkeit davon wie die ununterbrochenen Verhandlungen der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) mit den türkischen Stellen vor Ort verlaufen. Selbst eine Anfrage von mir, bei den militärisch Verantwortlichen in Mürsitpinar, über die Grenze nach Kobani selbst gehen zu dürfen wird stattgegeben. Allerdings mit dem Hinweis auf das unkalkulierbare Risiko das damit verbunden ist. Die Haltung der türkischen Regierung, Kobani betreffend, ist widersprüchlich. Noch vor einer Woche kam es landesweit, in der Türkei und in Nordkurdistan, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, nachdem die Türkei sich weigerte Flüchtlinge und Verletzte YPG-Kämpfer (Kurdische Milizionäre) aus dem umkämpften Kobani über die Grenze zu lassen. Kurdische Jugendliche, die versuchten sich über die türkische Grenze, auf die Seite der in Kobani kämpfenden kurdischen Volksmilizen zu schlagen, lieferten sich regelrechte Schlachten an der Grenze mit dem türkischen Militär. Viele wurden festgenommen, verletzt oder gar getötet. Folge war, dass die kurdische Befreiungsbewegung unter Führung der PKK, das Schicksal des Friedensprozesses in der Türkei mit dem Schicksal Kobanis verband.

Der türkischen Regierung, die bis heute weiter an einem Sturz Assads festhält, wird zum Teil zurecht vorgeworfen, durch ihre Unterstützung dschihadistischer Gruppen, die in Syrien bewaffnet gegen das syrische Baath-Regime kämpfen, IS mit aufgebaut und unterstützt zu haben. Von kurdischer Seite wird die Türkei aufgefordert einen Korridor nach Kobani aufzumachen, um Waffen, humanitäre Hilfe, Kämpfer und Nachschub über die Türkei nach Kobani zu bekommen. Wie die aktuelle Lage zeigt und politische Quellen vor Ort berichten, scheint diese Forderung von der türkischen Seite weitgehend umgesetzt worden zu sein. Kritisiert wird aber weiter, dass ankommende Flüchtlinge und Verletzte langwierige Registrierungen über sich ergehen lassen müssen. Manche werden sogar gleich verhaftet oder gar wieder zurück auf die syrische Seite der Grenze abgeschoben. Für ihr Entgegenkommen hat die Türkei von der BDP gefordert, ihren Einfluß geltend zu machen und mäßigend auf die angespannte Lage in den kurdischen Gebieten der Türkei einzuwirken. Die BDP hat sich mittlerweile öffentlich verpflichtet auf gewaltsame Mittel zu verzichten. Von türkischer Seite ist die Grenze zeitweise nach beiden Seiten hin offen. Selbst verwundete Kämpfer der kurdischen Milizen wurden in großer Zahl von der Grenze in türkische Krankenhäuser gebracht und dort behandelt. Insgesamt sind es über 600.

Trotzdem ist die Situation für die Türkei ein Dilemma. Zum einen kann sie kein Interesse an einem Erstarken der kurdischen Autonomie direkt an ihrer Grenze haben, zumal sich die politischen Kräfte, die die kurdische Autonomie in Syrien tragen, direkt auf Abdullah Öcalan berufen und sich somit einer politischen Kontrolle aus Ankara entziehen. Zum anderen zeigen die Entwicklungen im Irak und die politische Basis aus der sich der IS zusammensetzt, das dieser längst eine eigne politische Agenda verfolgt. Selbst Saudi-Arabien und die anderen GCC – Staaten (Golfkooperationsrat) sind längst auf Abstand gegangen und Teil einer von den USA geführten Koalition gegen den IS geworden. Doch bisher scheint diese Koalition keine wirkliche Strategie zu verfolgen. Während die türkische Regierung als Bedingung für eine aktive Rolle ihrerseits eine gesamtsyrische Lösung, den Regime - Change in Damaskus eingeschlossen, fordert, scheinen die USA selbst nur eine Stabilisierung ihrer fragilen Nachkriegsordnung im Irak im Sinn zu haben. Diese meinen sie über eine punktuelle Schwächung des IS erreichen zu können. Ein Einsatz von Bodentruppen auf dem syrischen Kriegsschauplatz ist für die Türkei auch hier in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen würden die türkischen Truppen bei einer Invasion in die kurdischen Autonomiegebiete in Syrien als Invasoren angesehen werden, das, wie die aktuellen Entwicklungen in der Türkei selbst zeigen, zu einem Ende des Friedensprozesses ,mit der kurdischen Befreiungsbewegung führen würde. Andererseits ist eine offene Parteinahme gegen den IS, mit der Befürchtung verbunden, selbst Teil des Krieges zu werden. Dies ist eine durchaus berechtigte Angst, weil der IS aus der Türkei über Gruppen Unterstützung erfährt, die einstmals aus einer Koalition gegen Assad hervorgegangen und nun auf die Seite des IS übergangen sind. Aktuell scheint man in Ankara aber eher auf eine verdeckte Unterstützung der in Kobani kämpfenden kurdischen Milizen zu setzen. So sind in den letzten Tagen, nach Berichten aus der Region und dem Umfeld der PYD, 100-200 Militante der Gruppen von Khatip Sems el-Simal, Ahrar Ragga, Suar Ragga, Ahrar Suriya, Abu Isa, YPG und VOLKAN EL-FIRAT nach Kobani durchgestoßen, um den kurdischen Milizen beizustehen. Gruppen, die unter dem Label der Freien Syrischen Armee (FSA) firmieren. Sie gehören zu denjenigen Gruppen, die sich im Umfeld der von der Türkei unterstützten Opposition des SNC (Syrischer Nationalkongress) bewegen.

Die KDP ( Kurdisch Demokratische Partei) des irakischen Stammesfürsten Masut Barzani, hat über die Türkei anfragen lassen, ob über die Türkei Peschmerga Truppen in das umkämpfte Kobani entsandt werden können. Von Flüchtlingen und Verletzten war vor Ort immer wieder berichtet worden, dass den kurdischen Truppen die Munition auszugehen drohe. Doch nachdem der Premierminister der irakischen Kurden Nechirvan Barzani am 12.10.2014 öffentlich erklärte, das die KDP den YPG-Einheiten am Til Kocer Maschinenkanonen (22mm Flak) RPG- Panzerfäuste und Munition übergeben hätte, war von solchen Berichten, auch auf Nachfrage, nichts mehr zu hören. Das gerade die KDP, die zur Abwehr des IS im Irak auch durch die deutsche Bundesregierung mit modernen Waffen ausgerüstet wurde, nun via Türkei einer bis heute in der BRD als „Terror-Organisation“ eingestuften politische kurdischen Organisation Waffen zukommen läßt, zeigt einmal mehr wie heuchlerisch und zynisch diese Politik der BRD gegenüber den Kurden und ihren politischen Forderungen der letzten Jahre war und ist. Trotz der heftigen Gefechte in und um Kobani wird von Flüchtlingen aus Kobani und entgegen anders lautenden offiziellen Verlautbarungen aus Ankara berichtet, dass sich weiter eine große Anzahl von Menschen in Kobani aufhalten. Aus dem Umfeld der PYD wird die Anzahl der in Kobani verbliebenen Zivilisten auf 7000-8000 geschätzt. Grund dafür ist vor allem die zögerliche Haltung der Türkei in den letzten 3 Wochen, die dazu führte das kaum Flüchtlinge aus Kobani in die Türkei gelassen wurden. Zum andren war es kaum möglich einen Weg durch die militärischen Auseinandersetzungen zu finden, da auch das Umfeld um Kobani, vor allem im türkischen Grenzbereich heftig umkämpft ist.

Nach Einschätzungen türkischer Offiziere vor Ort mit denen ich gesprochen habe, hat sich der IS wieder weitgehend aus dem Stadtzentrum in die Vororte von Kobani zurückgezogen, seit die USA angefangen haben vor einigen Tagen gezielt gegen IS ihre Luftwaffe zum Einsatz zu bringen. Man fragt sich, angesichts des Leids um einen herum hier inmitten einer Schlacht um eine kleine Stadt, die bis vor einigen Wochen niemand kannte, wer für dieses Chaos die Verantwortung trägt. Auf dem Rücken der kurdischen und syrischen Bevölkerung wird ein Krieg ausgefochten, der schon lange nicht mehr der Ihrige ist. Der Krieg hätte vermieden werden können, hätte sich die syrische Baathpartei auf eine politische Lösung eingelassen, die lange von einer Koalition des NCB und der kurdischen Partei PYD angestrebt wurde. Und der Krieg hätte vermieden werden können, hätten die USA, Europa, der GCC und die Türkei nicht diejenigen Kräfte politisch hofiert und bewaffnet, die auf eine militärische Lösung im Syrien gesetzt hätten. Die konfessionelle Spaltung, die von den USA 2003 im Irak favorisiert wurde, um eine politische Stabilisierung in ihren Sinne zu etablieren, hat sich nun als ein Schuß nach hinten erwiesen. Der Krieg, den die USA 2003 gegen den Irak begonnen hat, hat sich längst auf Syrien und den Libanon ausgeweitet und droht nun auch die Türkei in den Abgrund zu reißen. Die Bombardierung gegen den IS im Irak und Syrien stellen dabei nur eine neuerliche Eskalation der imperialistischen Intervention dar, die diesmal auf dem Rücken der Yesiden und Kurden als humanistische Intervention getarnt, daherkommt. So wenig wie durch einen Angriffskrieg 2003 im Irak eine Demokratie errichtet wurde, wird heute durch US-amerikanische Bomben auf Kobani oder den IS eine demokratische Lösung in Syrien erreicht werden können.

14.10.2014 Initiativ e.V.- Verein für Demokratie und Kultur von Unten