Nur die Meinungsfreiheit?

24.10.2014
Tunesien vor der zweiten Wahl nach dem Sturz des Diktators Ben Ali
Von Imad Garbaya
Am 26. Oktober wählen die Tunesier ein neues Parlament, nach dem sie vor drei Jahren die Verfassungsgebende Versammlung in Volkswahl bestellt hatten.

Die Akteure

Auch wenn die Ennahda-Partei (tunesisches Äquivalent zu den Moslembrüdern) im Wahlkampf einen Diskurs der Einheit betreibt, gehen die Tunesier so gespalten wie noch nie nach dem Sturz des Diktators in das Votum. Denn neben der Polarisierung zwischen dem „Identitäts-Flügel“ um Ennahda, anderen islamistischen Strömungen und den „quasi-laizistisch-liberalen“ Parteien (hier sei angemerkt, dass beide Seiten Teile der alten Elite und des alten Regimes „integriert“ haben), gibt es auch starke Differenzen unter den revolutionären Kräften und innerhalb der Linken im Allgemeinen.

Dazu gibt es eine Fülle an Parteien, die auch bei der Wahl eine wichtige Rolle spielen werden, wie z.B. der CPR (Congrès pour la République – Kongress für die Republik) des jetzigen Präsidenten Marzouki. Dazu kommen hunderte unabhängige und regionale Listen.

Im Verlauf des Wahlkampfs hat Ennahda abermals bewiesen, dass sie am besten organisiert und finanziell sehr gut aufgestellt ist: Listen in allen Wahlkreisen, sehr professionelle Wahlveranstaltungen, die medial wirksam dargestellt sind, Präsenz auf allen Ebenen.

Dann kommt „Nida Tounes“, die Parti um Essebsi, Ex-Minister Bourguibas und eine gewisse Zeit Premier nach dem Absturz Ben Ali.

Die Linke ist am stärksten in der „Front Populaire“ (Volksfront) vertreten und betreibt dieses Mal einen intelligenteren Wahlkampf als 2011. Weg vom direkten Konflikt mit den Islamisten und mehr Raum den Kernthemen des Aufstands widmen. Teile der pan-arabischen Bewegung sind in die „Mouvement de Peuple“ (Bewegung des Volkes) eingetreten.

Andere Teile der Linke rufen zum Boykott dieser Wahl auf und sehen sie nur als Mittel, um den Putsch gegen den revolutionären Prozess zu vervollständigen. Die Ergebnisse seien sowohl durch ausländische als auch tunesische Machtzentren bereits vorbestimmt.

Wird die Wahl vom Volk angenommen?

Vieles deutet auf eine ähnliche Wahlbeteiligung wie 2011 hin: um oder weniger als 50%. Fest steht aber, dass ein grosses Misstrauen bei den jungen Menschen, bei den Arbeitslosen und Hoffnungslosen, vorherrscht. Sie hatten sich viel von den Veränderungen erwartet. Bekommen haben sie gar nichts.
Fest steht auch, dass durch die lasche Politik der Troika-Regierung (aus Ennahda, CPR und Takatul) gegenüber dem alten System (Ennahda insbesondere), eine starke Rückkehr dieser alten Elite auf die politische Bühne passieren wird. Sie sind überall in den neu entstandenen demokratischen Institutionen involviert.
Wir registrieren unter dem Titel der „Nationalen Einheit“ auch eine Bereitschaft von vielen Seiten, aber vor allem von den Islamisten, mit den Parteien des alten Regimes zu kooperieren: Von führenden Persönlichkeiten von Ennahda und selbst sogar von Rached Gannouchi gibt es dazu klare Aussagen.

Wo bleiben die Ziele der „Revolution“?

Die Kräfte, die an den revolutionären Prozess glauben, stellen fest, dass fast vier Jahre nach dem Aufstand als Auftakt für eine grosse Bewegung in der ganzen arabischen Welt „nur“ die Meinungsfreiheit erreicht wurde. Vieles andere wurde wieder gestohlen: Es ist noch immer nicht klar, wer die Märtyrer des Aufstands erschossen hat und niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Es ist noch immer nicht klar, wer die zwei führenden linken Aktivisten Chokri Belaid und Mohammed Brahmi ermordet hat. Die Wirtschaftspolitik ist die gleiche wie unter Ben Ali. Die Schulden will keine von den grossen Parteien als Thema behandeln. Niemand will die Verantwortung dafür übernehmen, dass Tunesien als Waffenroute für Libyen gegolten hat. Und dafür, dass die tunesischen „Jihadisten“ die größte ausländische Gruppe im syrischen Bürgerkrieg stellen.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Es werden Kräfte an die Macht kommen, die keine progressive Veränderung anstreben, die keine Vision für andere wirtschafliche und soziale Optionen haben, denn die Kräfte die für solche Visonen stehen sind nicht gut genug organisiert und haben keine regionalen oder internationalen Unterstützer.

Es bleiben aber die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die zum Aufstand geführt haben, und es bleibt der Widerstand unter veränderten und verbesserten Bedingungen.