Türkei nach den Wahlen

15.06.2015
von Mustafa Ilhan
Am Sonntag haben die Parlamentswahlen in der Türkei stattgefunden. Kandidiert haben 4 Parteien. AKP (islamisch-konservativ), CHP (Kemalisten), MHP (Nationalisten) und die kurdisch-türkische Linkspartei HDP. Die Ergebnisse der Wahlen waren sehr überraschend. Der Gewinner der Wahlen sind die Kurden bzw. die HDP und der Verlierer ist die AKP. Die Endergebnisse sehen wie folgt aus: AKP 40,9%, CHP 25,0%, MHP 16,3%, HDP 13,1%.
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Im Vergleich zu den Wahlen in 2011 hat die AKP 9% Verluste zu verzeichnen. Die CHP hat 0,9% verloren, die MHP 3% hinzugewonnen und die HDP 6,52% zugelegt.

 

Die Faktoren die der kurdischen Partei ins Parlament verholfen haben.

Die Kurden sind zum ersten Mal als eine Partei in Wahlen angetreten. Bis jetzt waren  kurdische Kandidaten zu den Wahlen immer als Einzelkandidaten angetreten. Das Parteiprogramm der HDP war ausgezeichnet bereit und sehr umfangreich. Es hat sämtliche Minderheiten  repräsentiert und war zu jenen offen und solidarisch. Die Strategie der HDP war nicht wie üblich nur prokurdisch, sondern war von Anfang an umfangreich multireligiös und multikulturell aufgestellt. Die außerparlamentarische linke Opposition hatte sich ein neuen Platz ausgesucht und ihn nun auch gefunden. Das Wahlergebnis bedeutet aber nun nicht, dass es eine Linksverschiebung der Gesellschaft gegeben hätte, wie vielen behaupten. Der Großteil der Stimmen für die HDP kam von Kurden aus Kurdistan, aus dem Südosten der Türkei.

 

Die Linkskemalisten

Bis zu den Wahlen waren es die Kemalisten, die die Linke in der Türkei im Parlament repräsentiert haben, aber zur kurdischen Frage hatten sie immer ihre nationalistische Position beibehalten. Aufgrund jener antikurdischen Position der linkskemalistischen CHP war es ihnen nicht gelungen an die Macht zu kommen bzw. eine eigne Mehrheit  zu erreichen. Und so wie es aussieht werden sie auch in Zukunft außer in Koalitionen niemals an die Macht kommen, bzw. eine eigene Mehrheit erreichen.

 

Die nationalistische MHP

MHP hat gute 3% zu gewonnen. Grundsätzlich hat sich nicht viel bei der MHP geändert.

 

AKP  - Eine  Niederlage oder nur momentaner Stillstand?

Wie schon erwähnt ist der Hauptverlierer dieser Wahl die Partei AKP. Es gibt viele Gründe warum die AKP gute 9%prozent innerhalb der 4 Jahren verloren hat.

Der Reaktion in der türkischen Gesellschaft auf den enormen  Zuwachs von Flüchtlingen aus Syrien und Irak war sehr negativ. Die türkische regionale und internationale Politik hat vielen  Menschen in der Türkei Angst bereitet. Mit regionaler Politik ist die Politik in Bezug auf Syrien, Irak, Ägypten, Israel und auch Iran gemeint. Die vor allem auf konfessionellen Grundregeln bzw. Zielsetzungen ausgerichtete Regionalpolitik mit Blick auf den Mittleren Osten, damit ist die Politik der AKP gegenüber Assad, der libanesischen Hisbollah und dem schiitischen Iran gemeint, hat Teile die türkischen Gesellschaft tief beunruhigt. Diese Regionalpolitik der AKP - Regierung hat die Opposition noch aggressiver gemacht. Die Opposition hat die Gefahr des Überspringens des syrischen Bürgerkriegs auf das Staatsgebiet der Türkei als so akut dargestellt, dass die Sorgen der Menschen in der Türkei davor massiv anstiegen. 

Die Verluste der AKP sind  nicht nur im Westen des Landes entstanden. Die Hauptgruppe, die für die Niederlage der AKP gesorgt hat, sind die Wählerinnen und Wähler in Kurdistan, und nicht die Linke. Man hat gesagt dass die HDP mit ihrem Wahlprogram der CHP in Westen viele Stimmen abnehmen wird. Das aber war nicht der Fall. Es gab um die 0,6% der Wähler, welche von den Kemalisten zur HDP gewandert sind. Also die guten 6% Gewinnanteil der HDP kamen von ehemaligen kurdischen AKP - Wählern. Nirgendwo konnte in kurdischen Metropolen die AKP gewinnen. Und die AKP muss zugeben,  dass die kurdischen Wählerinnen und Wähler gute Gründe haben, warum sie die AKP aus Kurdistan weggefegt haben. Die Kurden wollten konkrete Schritte sehen.  Was auch immer und wieso auch immer diese von AKP verschoben worden sind.

Immerhin bleibt die AKP stärkste Partei. In Großstädten wie in Ankara, Istanbul, Adana und der strategisch wichtigen Stadt Gaziantep ist die AKP stärkste Partei. Es ist nicht so, wie in vielen westlichen Medien behauptet wird, dass die AKP auf eine tiefgreifende Niederlage erlebt hätte. 

 

Zusammenarbeit von CHP, MHP, HDP und der Gülen - Bewegung vor den Wahlen

Alle drei Parteien hatten sich in ihrer Wahl Propaganda auf das Präsidialsystem Erdogan´s eingeschossen und hatten vor die AKP - Regierung zu stürzen. Für die MHP ging es darum die nationalen Stimmen von AKP zu gewinnen und eine aktive Teilnahme der Kurden in der türkischen Politik zu verhindern. Vor allem ging es ihnen darum die Kurden zu bekämpfen und den bestehenden Dialog der Kurden mit der AKP zu stoppen.

Für Die CHP gilt nur eins und zwar wie sie die AKP aus der Regierung vertreibt. Wie das letztlich passiert das ist egal. Hauptsache die AKP verschwindet aus der Regierung. Da die CHP zweitstärkste Partei ist, sehen sie sich als die Alternative für eine neue Regierung.

Die zentrale Position der HDP bestand darin  ins Parlament einzuziehen. Neben den zentralen kurdischen Interessen, sollte sich die Politik an der gesamten Türkei orientieren. Mit einem Zuwachs von 1 bis 1,5% im Westen und Zentralanatolien fällt dieser Wunsch leider gering aus. Die HDP wird nach wie vor nicht als eine gesamttürkische Partei angesehen. Vielleicht ist dies in 10 Jahren möglich, aber momentan bleibt die Theorie von der `Demokratischen Nation´ doch eher Wunschtraum. Die Wahlen jedenfalls haben bewiesen, dass es noch nicht so weit ist. Obwohl sehr viele das Gegenteil behaupten.

 

Mögliche Koalitionsregierungen

Nun ist Staatspräsident Erdogan aufgerufen einen Abgeordneten der Mehrheitspartei - in diesem Falle AKP - zu beauftragen eine neue Regierung zu bilden. 

Entscheidend in dieser historischen Situation wäre, dass es zu einer Koalition aus HDP und AKP kommt. Nun ist dies aber leider weder von AKP noch von HDP gewünscht.

Die AKP - Basis ist teilweise sehr nationalistisch eingestellt. Es gibt innerhalb der AKP einen starken Widerstand gegen eine Koalition mit der HDP. Das Verhalten der Rechten innerhalb der AKP war und ist immer noch ein großes Problem für die beiden Seiten.

Von der Seiten der HDP sehe ich das auch nicht als Möglichkeit an. Im Wahlkampf hat sie den Wählern gegenüber betont, dass die keine gemeinsame Regierung mit der AKP bilden wird. Durch diesen Wahlkampf hat sie im Westen des Landes über 1,5% Prozent linke und kemalistische Stimmen gewonnen. 

Ohne die kurdischen Stimmen aus dem Südosten hätte die HDP nicht über 10% Hürde  überspringen können. Wären also nur die ca. 1,5% linken und kemalistischen Stimmen zu den üblichen Ergebnissen hinzugekommen, wäre die HDP bei einem Ergebnis von 7- 8% gelandet. Man sollte nicht alles nur einseitig sehen, aber momentan erscheint eine gemeinsame Koalition aus HDP und AKP nicht möglich zu sein und insbesondere weder von den einen noch von anderen gewollt zu sein. Das Haupthindernis scheint aber bei der AKP zu liegen.

 

CHP & AKP

Ein AKP-CHP Regierung ist aus dem ideologischen Gründen nicht möglich. Obwohl eine solche Koalition von Obamas USA absolut favorisiert ist.

 

AKP & MHP

Eine gemeinsame Regierung von AKP und MHP kann in Frage kommen. Aber auch hier wird die MHP Bedingungen stellen. Dabei steht die zur kurdischen Frage an erster Stelle. Und dies würde ein Ende des Friedensprozesses bedeuten. Darüber wird die AKP richtig nachdenken müssen. Eine Koalition mit der MHP würde nicht nur ein Ende des Friedensprozesses bedeuten, sondern auch der hegemonialen Macht der AKP im gesamten Kurdistan eine Ende setzen. Obwohl sie die Mehrheit in Kurdistan schon jetzt verloren hat.

 

Abgeordnetenwahlen Türkei 2011

AKP                            49,95% Vergleich zu Wahlen 2015 Minus % 9,05

CHP                            25,94     Vergleich zu Wahlen 2015 Minus %0,94

MHP                           12,98     Vergleich zu Wahlen 2015 Plus % 3,32

Unabhängige/HDP   6,56       Vergleich zu Wahlen 2015 Plus 6,54

 

Abgeordnetenwahlen Türkei 2015

AKP                           %40,9

CHP                            %25,0

MHP                          %16,3

HDP                            %13,1    

 

Mögliche Koalitionen aus der bisherigen Opposition:

Eine Koalitionsregierung aus HDP, CHP und MHP könnte in Frage kommen. Für die Kurden und Kemalisten wäre es möglich, aber für die MHP nicht. Die MHP kann nicht Teil einer Koalition sein, zu der auch Kurden gehören. Da alle drei Parteien nicht bereit sind mit der AKP eine Regierung zu bilden und auch nicht alternativ in der Lage sind gemeinsam eine Regierung zu bilden besteht nur noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Eine Minderheitsregierung die aus zwei Parteien besteht, aber von einer dritten Partei toleriert wird. In diesem Falle könnte die CHP mit der MHP eine solche bilden und die HDP eine solche tolerieren.

Die MHP wird keine Minderheitsregierung unterstützen, in der auch Kurden sitzen.  Wenn es so oder so keine Koalition geben wird, dann wird es zwangsläufig zu Neuwahlen kommen. Die Gewinner durch Neuwahlen werden meiner Meinung nach die AKP und HDP werden.

Wenige Abgeordnete der MHP könnten die Rettung der AKP werden. Damit die AKP ganz allein eine Regierung bilden kann muss die Zahl der AKP - Abgeordneten aber mindestens 276 betragen. Sie haben momentan 258 Abgeordnete im Parlament. Wenn die AKP einige MHP - Abgeordnete abwerben könnte, würde sie wieder allein regieren können. Ob so viele Abgeordnete aber zur AKP wechseln, ist eher unwahrscheinlich.

 

Der Beitrag der Kemalisten und Gülen - Bewegung zum Wahlsieg der HDP

Vor den Wahlen gab es eine deutliche Zusammenarbeit zwischen Gülen - Bewegung, CHP und HDP. Die Gründe der Gülen - Bewegung und der Kemalisten für die oben genannte Kooperation waren der Wunsch eine gemeinsame Front gegen die AKP zu bilden. Man hat diese Kooperationsbereithaft von allen deutlich gesehen und bemerkt. Das Ziel der  Kemalisten, MHP und Gülen -  Bewegung wurde erfüllt: Die HDP hat 10% Hürde übersprungen und die AKP hat die alleinige Macht verloren. Nun die Frage die man sich jetzt stellt ist, wer hat tatsächlich langfristig gewonnen?

Meiner Meinung nach ist die HDP der Gewinner der Wahlen. Dies wird aber nicht von Dauer sein. Die Theorie von Öcalan (demokratische Nation) ist zwar in der türkischen Gesellschaft  angekommen, aber nicht verstanden worden und hat auch bisher keine breite Unterstützung bekommen. Die 1,5% der Stimmen aus dem Westen der Türkei für die HDP waren zumeist alevitische Stimmen. 

Die kurdischen HDP Wählerinnen und Wähler haben der HDP eine Chance  gegeben. Die kurdischen Wähler haben die HDP beauftragt die Verantwortung für die Lösung des Konfliktes zu übernehmen und im Parlament zu erfüllen.  Wenn eine gemeinsame Regierung von AKP mit HDP in Frage kommt, dann muss die HDP mit dieser Verantwortung an der Regierung teilnehmen und die Erwartungen des kurdischen Volkes erfüllen. 

Sollten sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, wird sie in Kurdistan eine große Niederlage erleben müssen.  

 

 

15.06.2015