"Kalter Krieg" als Ideologie

15.07.2015
Von A.F.Reiterer
Die Ideologisierung eines Machtkampfs und unsere Wahrnehmung

In der Ukraine sehen wir einen imperialistischen Eingriff, wie er geradezu lehrbuchhaft dasteht. Und das wird seit etwa einem Jahr und ein bisschen mehr von westlichen Politikern und Zeitungen als ein neuer „Kalter Krieg“ beschrieben, ein „Systemkonflikt“.

Das lässt im Nachhinein noch einmal fragen: Was stand wirklich hinter dem Kalten Krieg? Denn auch nicht wenige Linke sind damals auf den Slogan vom Systemkonflikt eingestiegen. Wenn nun dieser Ukraine-Konflikt in solchen Termini beschrieben wird, dann wird im Nachhinein noch einmal über jeden Zweifel klar:

Der so genannte Systemkonflikt war einfach ein Machtkampf, ein Widerstand eines Teils der Welt gegen den Anspruch des Westens, damals hauptsächlich der USA, dem Rest der Welt die eigene Herrschaft überzustülpen. Ob man sich dem unter dem Slogan des Sozialismus oder aber der Dritten Welt, des „Winds von Bandung“ oder sonst eines Deckblatts entgegen setzte, ist nicht so wichtig. Wir müssen also im Nachhinein den seinerzeitigen Konflikt noch einmal entideologisieren. Es war ein imperialistischer Versuch der Weltherrschaft und der Widerstand dagegen, ein Grundkonflikt um die Weltherrschaft.

Die Auseinandersetzung zwischen den USA / der NATO auf der einen Seite und der UdSSR / dem Sowjetsystem in Osteuropa auf der anderen Seite hatte ohne Zweifel einen weltanschau­lichen Aspekt. Das machte seine Umdeutung in einen Kampf zweier Lebensformen ja so ein­gängig und hat uns das Hirn vernebelt. Denn die strukturellen Machtverhältnisse dominierten so sehr über diesen Aspekt, dass wir ihn fürs erste einmal fast vernachlässigen können. Viel­mehr: Wir müssen klarstellen, welche "Weltanschauung" sich hinter den westlichen Machtan­sprüchen verbarg und jetzt wieder verbirgt oder zu verbergen sucht.

Dann stellt sich nämlich die These vom System-Konflikt als wenig mehr als ein taktisches Beiwerk zum Machtanspruch heraus.

Es ging im Wesentlichen um den Weltherrschafts-Anspruch seitens der USA und ihrer Hilfs­kräfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die USA als fast einzige Macht strukturell halb­wegs unbeschädigt aus der mörderischen Auseinandersetzung aus. Damit waren sie im neuen weltpolitischen Kontext allen anderen Beteiligten weit überlegen. Dies traf auch auf die Sowjetunion zu. Aber trotz der unglaublichen Verluste und Schäden war der Stalin'sche Staat gewillt, seine eigenen Ansprüche zu verfolgen. Er tat dies konsequent und mit erheblichem Geschick. So war er schließlich schnell als einzige Macht in der Lage, den Ambitionen und Ansprüchen der USA entgegen zu halten.

Nur nebenbei: Das Urteil Stalins über die weltpolitischen Machtverhältnisse war nicht sonder­lich gut und realistisch. Noch zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als er Griechen­land und die griechischen Kommunisten gegen Bulgarien verhandelt – Italien war schon vorher verhökert worden, und Togliatti hatte zugestimmt –, hielt er Großbritannien für die maßgebliche Macht in Europa...

Diese Ansprüche der USA waren ebenso einfach wie weitreichend: Weltherrschaft. Sie waren entschlossen, die Welt nach ihren Vorstellungen und Interessen zu gestalten. Dabei kamen ihnen nun als Haupthindernis die UdSSR und einige von ihr unterstützte Unabhängig­keits-Kämpfe in den Weg: China, Nord-Korea, Vietnam; Jugoslawien; eben auch Griechenland und einige kleinere Konfliktherde.

Die Dekolonialisierung hingegen war für die USA weniger ein Hindernis als eine Chance. Zwar waren die neu unabhängigen Staaten eifersüchtig auf ihre formelle Unabhängigkeit bedacht. Aber zum einen lösten sie das alte Weltsystem des klassischen Kolonialismus auf und ab, und mit ihm schwächten sie die potenziellen Rivalen Großbritannien und Frankreich noch mehr, als sie der Weltkrieg ohnehin schon geschwächt hatte. Zum anderen suchten sie durchaus Unterstützung in anderen als den bisherigen Kolonialmächten. Und da boten sich die USA politisch und in bescheidenem Maß auch wirtschaftlich als eine, vorerst die Haupt-Alternative, an.

Die Blockfreien-Bewegung war in mancher Hinsicht störender. Wenn sie auch machtpolitisch wenig bedeutete – dazu war sie viel zu heterogen –, so stellte sie doch ideologisch den An­spruch auf, selbst eine neue Alternative zu bilden. Der Anspruch der USA und des Westens, das einzig gültige politische Modell zu sein, war damit bestritten. Das stand den Wünschen der USA diametral entgegen. Denn sie wollte Alles nach ihrem Bild und Gleichnis.

Aber den großen Feind bildete der Sowjet-Sozialismus. Der bestritt nicht nur den Allein-Anspruch der USA als Entwicklungs-Modell. Er arbeitete auch effektiv, und je länger, umso effektiver, gegen die Gleichschaltung der Welt durch die USA. Mehr noch: Die Sowjetunion hatte selbst einen ähnlichen Anspruch wie die USA, wollte Modell für die Entwicklungs­länder und darüber hinaus sein.

Als älterer und vielleicht auch altmodischer Mensch ist man stets versucht, mit historischen Exempeln zu agieren. Da gibt es mehrere Referenzen. Im Jahr 1941 schrieb ein ehemaliger Trotzkist ein Buch, das mitten im Krieg und unmittelbar darauf ein gewisses Aufsehen er­regte. James Burnham rief die "Revolution der Manager" aus. Mit diesem Buch werden wir uns gelegentlich gesondert auseinandersetzen, denn es bietet eine Reihe nützlicher Denkan­stöße, gerade auch in der Kritik daran. Doch dieses Buch enthält auch ein Kapitel XII: Die Weltpolitik der Manager. Da diagnostiziert und prognostiziert der nun nicht mehr Linke, sondern schon zur harten US-Rechten gewechselte Autor Einiges, was sich schon nach 8 Jahren im Detail als ziemlich daneben erwies: Aber in vielen Grundtendenzen traf doch Einiges zu. "Eine souveräne kapitalistische Nation nach der anderen wird entweder völlig ausgelöscht, oder der Attribute der Souveränität entkleidet" (166). Aber es wird auf absehbare Zeit keinen "Weltstaat" gebe, sondern "Kriege ... um das Monopol der Weltherrschaft" (168). "Die vergleichsweise große Zahl souveräner Nationen ... wird durch eine vergleichsweise kleine Zahl großer Nationen oder Superstaa­ten abgelöst werden" (169).

Man kann es noch ein bisschen altmodischer machen. Im "Peloponnesischen Krieg" be­schreibt Thukydides die Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta auch als einen System-Konflikt. Es sei der Konflikt zwischen zwei Lebensformen gewesen, der zivilisierten der Athener und der archaischen, rauen, traditionalistischen und implizit: kulturlosen der Lakedämonier. Ganz falsch lag er damit ja nicht. Aber die eigentliche Struktur hat er damit auch nicht erwischt. Seit damals beten Altphilologen und -historiker diese Interpretation nach. Es war aber vor allem ein zugespitzter Machtkampf zweier Regionalmächte um die Dominanz in dieser Region. Gleichzeitig war es auch ein Kampf zwischen zwei Entwicklungslinien, einer, die versuchte, die kleinteilige politische Struktur unter der Herrschaft der lokalen Eliten und Aristokraten aufrecht zu erhalten; und einer, welche den Weg zu einer größeren Organisationsform suchte. Beide Perspektiven sind aus heutiger Sicht nicht sonderlich sympathisch, auch der athenische Imperialismus nicht.

Heute scheint Russland das einzige Land zu sein, welches den neuen Alleinanspruch der USA und ihres Subzentrums, der EU, wieder bestreitet und nicht gewillt ist, diese Politik ohne jeden Widerstand hinzunehmen. Was liegt also näher, als die alten ideologischen Schemata und Floskel wiederzubeleben? Ein neuer "Kalter Krieg" wird ausgerufen. Und tatsächlich ist die Grund-Konstellation für die USA / die EU offenbar vergleichbar: Ihr Alleinherrschafts-Anspruch wird bestritten. In diesem Sinn hat also der Westen tatsächlich einen neuen Kalten Krieg begonnen: einen neuen Krieg um die Weltherrschaft. Den ersten hat er aus seiner Sicht ja gewonnen. Dass womöglich der neue Islamismus eine Form des Widerstands dagegen darstellen könnte, darauf kommen die neuen Herren (und Damen) nicht. Aber auch wir als Laizisten – falls man diese Bezeichnung noch zu benützen wagt, nach all den Sauereien, die damit heute verknüpft sind – sollten uns daran erinnern.

15. Juli 2015