Demokratie und Souveränität statt neoliberaler Integration und dem gescheiterten Euro-System

01.07.2016
Dieser Aufruf wurde vor dem Brexit-Referendum von Personen aus dem Lexit Netzwerk erarbeitet und beschlossen. Es wurde damit nicht die Absicht verfolgt, das Referendum in die eine oder die andere Richtung zu beeinflussen.

Mit der Einführung des Gemeinsamen Binnenmarktes und des Maastricht-Vertrags wurde die Europäische Integration langfristig auf einen neoliberalen Kurs festgelegt. Vor allem der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Binnenmarktfreiheiten und die Regeln der Währungsunion haben den Abbau von Arbeitnehmerrechten, den Rückbau der sozialen Sicherungssysteme sowie die Privatisierungspolitik in den EU-Mitgliedsstaaten angeheizt.

Anders als häufig behauptet ist die EU kein neutrales Spielfeld. Vor allem die Ereignisse seit der Großen Rezession (2007-2009) haben gezeigt, dass das gegenwärtige Integrationsprojekt durch die rückschrittliche Natur seiner Verträge und eine beispiellose Radikalisierung seines neoliberalen Charakters definiert ist. Ungleiche und hierarchische Kräfteverhältnisse (Zentrum – Peripherie) sind seit längerem Teil der Europäischen Integration. In den letzten Jahren gipfelte diese Ungleichheit in einer deutschen Dominanz über die EU-Wirtschaftspolitik. Die Regeln, die mit der Euroeinführung geschaffen wurden, und die strengen und kaum legitimierten Maßnahmen, mit denen auf die Eurokrise reagiert wurde (EuroPlus-Pakt, Fiskalpakt etc.) haben den autoritären, neoliberalen Charakter der EU-Integration weiter verschärft. So wurde das gegenwärtige Integrationsprojekt zu einem Hindernis für Demokratie und Souveränität.

Der Euro – Eine Krisenwährung

Die Eurokrise ist Produkt des verkannten Konzeptes und der Architektur der Europäischen Währungsunion (EWU). Die EWU war von Anfang an auf Austerität und Preisstabilität ausgerichtet. Statt zu sozialer und ökonomischer Konvergenz zwischen den Euroländern beizutragen, hat sie dazu geführt, dass sich Löhne, Produktivität etc. noch weiter auseinander entwickeln. Letztlich hat die EWU riesige makroökonomische Ungleichgewichte verursacht (wachsende Leistungsbilanzdefizite nicht nur in der südlichen EU-Peripherie, sondern auch in Frankreich und Italien; große Überschüsse in Deutschland etc.) und in der ersten Phase zu Kapitalflüssen vom Zentrum in die Peripherie geführt. Die Flut billigen Geldes hat die Entstehung spekulativer Blasen angetrieben und ein sehr hohes Niveau privater und öffentlicher Verschuldung verursacht.

Ein wichtiger Faktor hinter diesen Ungleichgewichten war die Senkung der Lohnstückkosten in Deutschland durch die Re-Organisierung von Wertschöpfungsketten für die deutsche Exportindustrie durch billigere Arbeitskräfte aus Osteuropa, Lohndumping sowie Steuersenkungen und Sozialabbau.

Eine Konsequenz davon ist ein immenser Druck auf schwächere Volkswirtschaften, die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie- und Dienstleistungssektoren zu stärken. Da dies im EWU-Rahmen nicht geldpolitisch durch Währungsabwertung gemacht werden kann, wurde verstärkt auf innere Abwertung gesetzt. Praktisch bedeutet das einen Rückbau sozialer Sicherungssysteme, exzessive Privatisierungspolitik, Lohn- und Sozialdumping, Steuerwettbewerb, Attacken gegen kollektive Tarifverhandlungen und gewerkschaftliche Organisierung sowie eine Verteufelung öffentlicher Beschäftigung und Massenentlassungen im öffentlichen Sektor.

Der Euro – Ein Werkzeug zugunsten des internationalen Kapitals

Es ist wichtige festzuhalten, dass nichts davon wegen irgendwelcher unvorhersehbarer Konstruktionsfehler der Währungsunion geschah: Der Euro funktioniert im Sinne seiner neoliberalen Macher sehr gut. Er funktioniert nicht im Sinne irgendeines ökonomischen Gleichgewichts zwischen den Mitgliedsstaaten oder zur Förderung von Wachstum und Vollbeschäftigung. Er funktioniert im Sinne des Abbaus von Arbeitnehmerrechten, sozialen Sicherungssystemen, öffentlichen Sektoren und Unternehmenssteuern, sowie zur Durchsetzung öffentlich finanzierter Bankenrettungen.

Politisch zwingt der Euro seine Mitglieder in einen verschärften Wettbewerb, in dem jedes Land seine wirtschaftliche Position nur durch politische Maßnahmen gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit und zugunsten des internationalen Kapitals verbessern kann. So schafft er eine Abwärtsspirale, die Löhne, Renten, Sozialleistungen, öffentliche Beschäftigung, öffentliche Investitionen etc. nach unten drückt.

Wie die Ereignisse in Griechenland im Sommer 2015 deutlich gezeigt haben, ist die Governance-Struktur der Eurozone nicht offen für politische Maßnahmen, die dem ausdrücklichen Mehrheitswillen der Menschen folgen, sofern dieser der neoliberalen Agenda zuwider läuft. Als die Syriza-Regierung, gestärkt durch das OXI-Referendum, versuchte ihr Programm umzusetzen, hat die EZB ihre finanziellen Waffen genutzt um die Regierung zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines weiteren Memorandums zu zwingen.
Der Euro – Eine schlechte Idee, die nicht in eine gute verwandelt werden kann

Wie zahlreiche Autoren schlüssig gezeigt haben, erfüllt die Eurozone nicht die Voraussetzungen einer funktionierenden Währungsunion. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich dies in Zukunft ändert. Neben anderen Aspekten bräuchte eine Währungsunion wie die Eurozone, mit sehr unterschiedlichen Produktivitätsniveaus und Wirtschaftsstrukturen, massive Finanztransfers zum Ausgleich der Ungleichgewichte. Zuverlässige Analysen zeigen, dass eine Umverteilung im Umfang von rund 10% der Eurozonen-Wirtschaftsleistung von den stärkeren zu den schwächeren Mitgliedsländern erforderlich wäre. Das ist nicht nur politisch unrealistisch, sondern auch nicht wünschenswert: Alle Erfahrungen in der Eurozone haben gezeigt, dass die Geberländer ihre Position nutzen würden, um undemokratisch die nationale Politik der Nehmerländer zu beeinflussen. In den letzten Jahren konnten wir beobachten, wie schnell ein solches System die Souveränität unterminiert, die Menschen in Europa spaltet und Fremdenhass schürt.

Letztlich reflektiert die Idee eines demokratischen, föderalen europäischen Bundesstaates auch nicht die ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen den Mitgliedern. Gerade vor diesem Hintergrund wäre eine starke europäische Zivilgesellschaft erforderlich. Aber die gibt es nicht. Und sie kann auch nicht mal eben von oben eingesetzt werden.

Lexit – Den Neoliberalismus effektiv bekämpfen und die Demokratie verteidigen

Vor dem Hintergrund des alarmierenden Demokratieabbaus, der Zerstörung sozialer Rechte und der Privatisierung öffentlichen Eigentums müssen emanzipatorische Kräfte in Europa auf der Basis von Selbstbestimmung realistische und glaubwürdige Alternativen zum autoritären, neoliberalen Integrationsmodell vorlegen. Deswegen braucht es einen Lexit (left exit) aus dem Euro-System als Werkzeug zur Verteidigung und Wiederherstellung der Demokratie.

Der besorgniserregende Aufschwung rechtsextremer Kräfte in fast allen Euroländern resultiert unter anderem aus deren Anti-EU und Anti-Euro-Position. Doch ihre politischen Forderungen sind irreführend: Rechte Anti-Euro-Akteure kämpfen für eine strenge Begrenzung der Bewegungsfreiheit von Menschen, erheben jedoch keinerlei Anspruch auf eine Begrenzung der Bewegungsfreiheit des Kapitals aus den und in die Euroländer. Das daraus resultierende Lohndumping stört sie nicht. Sie wären zufrieden, wenn die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt und neue, nationale Währungen dem freien Markt und den Spekulanten überlassen würden. Wir nennen diesen Ansatz xenophoben Neoliberalismus.

Wenn wir dieses Szenario vermeiden wollen, brauchen wir einen Lexit: Eine internationalistische Alternative, die auf Selbstbestimmung, Brüderlichkeit, sozialen Rechten sowie der Verteidigung anständiger Arbeitsbedingungen und öffentlichen Eigentums beruht.

Dass die europäische Währungsunion nicht nachhaltig ist, ist eine Tatsache. Daraus ergibt sich früher oder später die Notwendigkeit, zwischen alternativen Exit-Szenarien zu wählen, rechts oder links, jeweils mit sehr unterschiedlichen Folgen für die sozialen Klassen in den beteiligten Ländern. Wir stellen ausdrücklich fest, dass das Ziel des Lexit darin besteht, emanzipatorische, linke Strategien für einen Euro-Exit und eine Überwindung der neoliberalen Integration zu entwickeln. Die Diskussion hat bereits begonnen und verschiedene Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Wir laden alle, die die Einschätzung teilen, dass ein Lexit notwendig ist, ein, sich an unseren
Diskussionen und Kampagnen zu beteiligen.

Erstunterzeichner:

Tariq Ali, author and filmmaker, UK
Jorge Amar, Asociación por el pleno empleo y la estabilidad de precios, Spain
Prof. em. Yangos Andreadis, Pantheion University, Greece
Cristina Asensi, Democracia Real Ya and Money Sovereignty Commission, Spain
Prof. Einar Braathen, Oslo and Akershus University College, Norway
Prof. Lucio Baccaro, Université de Genève, Switzerland
Gina Barstad, No to the EU and Socialist Left Party, Norway
Luís Bernardo, Researcher, Portugal
Simon Brezan, 4th Group of United Left, Slovenia
Prof. Sergio Cesaratto, University of Siena, Italy
Prof. Massimo D’Antoni, University of Siena, Italy
Alfredo D’Attorre, MP Sinistra Italiana, Italy
Fabio De Masi, MEP GUE/NGL, Germany
Klaus Dräger, former staff of the GUE/NGL group in the EP, Germany
Stefano Fassina, former Vice-Minister of Finance, MP Sinistra Italiana, Italy
Prof. Scott Ferguson, University of South Florida, United States
Prof. Heiner Flassbeck, Hamburg University and Makroskop, Germany
Kenneth Haar, Corporate Europe Observatory, Denmark
Idar Helle, De Facto, Norway
Inge Höger, MP Die Linke, Germany
Prof. Martin Höpner, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany
Dr. Raoul Marc Jennar, Political scientist and author, France
Dr. Lydia Krüger, Scientific Council of Attac, Germany
Kris Kunst, Economy for the people, Germany
Wilhelm Langthaler, Euroexit, Austria
Prof. Costas Lapavitsas, SOAS University of London, UK
Frédéric Lordon, CNRS, France
Stuart Medina, Asociación por el pleno empleo y la estabilidad de precios, Spain
Prof. William Mitchell, Director of Centre of Full Employment and Equity, University of Newcastle, Australia
Joakim Møllersen, Attac and Radikal Portal, Norway
Pedro Montes, Socialismo 21, Spain
Prof. Andreas Nölke, Goethe University, Germany
Albert F. Reiterer, Euroexit, Austria
Dr. Paul Steinhardt, Makroskop, Germany
Steffen Stierle, Attac and Eurexit, Germany
Jose Sánchez, APEEP, Anti-TTIP Campaign, Attac, Spain
Gunnar Skuli Armannsson, Attac, Iceland
Petter Slaatrem Titland, Attac, Norway
Dr. Andy Storey, University College Dublin, Ireland
Prof. Wolfgang Streeck, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany
Diosdano Toledano, Plataforma por la salida del euro, Spain
Christophe Ventura, Memoire des luttes, France
Peter Wahl, Weed e.V., Scientific Council of Attac, Germany
Erik Wesselius, Corporate Europe Observatory, Netherlands
Prof. Gennaro Zezza, Università di Cassino e del Lazio Meridionale, Italy