"Zentralmatura“: Bürokratie und Selektion

12.07.2016
Von Albert F. Reiterer
Bildungspolitik – das Siegel des globalen Systems heute

Ende der 1960er schrieben acht Halbwüchsige aus der Toskana eine Streitschrift, die schlagartig bekannt wurde und einige Auswirkungen hatte. Man übersetzte Scuola di Barbiana – eigentlich heißt das Büchlein „Lettera a una Professoressa“ – auch ins Deutsche (s.u.). Die acht Buben forderten das Recht auf eine menschliche Schule ein, auch für die von Unten. Sie forderten eine Chance für ihr Leben.

Etwa gleichzeitig begann eine andere Debatte. In Großbritannien und den USA hatte man festgestellt (Bernstein, Övermann): Kinder aus Unterschichten haben allein durch ihre mangelnde Sprachkompetenz in der Schule, dann in der größeren Gesellschaft und schließlich in ihrem ganzen Leben ganz gewaltige Nachteile zu erwarten. Sie verfügen, so hieß es, nur über einen „restringierten Code“. Der aber wird von denen, die wirklich verfügen, und die auch einen „elaborierten Code“ sprechen können, gar nicht geschätzt: die Lehrer, die Personalchefs, usf. Allein durch diesen Code würden sie auch in ihrer Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit behindert. Sie müssten also kompensatorischen, wenig später hieß es: emanzipatorischen Unterricht erhalten.

Lassen wir die etwas naive Zugangsweise und die versimpelte Annäherung einmal außer Acht. Doch die Sprachsoziologie hat seit Langem, schon seit wesentlich früher (Sapir, Whorf) festgestellt: Die Sprachkompetenz bestimmt in nicht geringem Ausmaß das Weltbild und die Fähigkeit, sich in der Welt zurecht zu finden.

All das ist heute vergessen. Man spricht allenfalls noch über die mangelnden Deutschkenntnisse der Einwanderer und nutzt diese Feststellung zu bösartig repressiver Politik in diese Richtung.

EU und OECD haben vor einiger Zeit beschlossen: Bildung ist eine technokratische Angelegenheit. Die planen und überwachen wir am besten zentral. Aber können nicht vielleicht die Lehrer vor Ort besser entscheiden? Tschapperl! Wer nicht pariert, wird selektiert.

Die Ergebnisse konnten wir z. T. heuer beobachten. Gerade in Mathematik, wo der technokratische Aspekt am ehesten noch zutreffen sollte, flog ein gutes Fünftel.
Der neue Messias der SPÖ und der mainstream-Medien, der Bundeskanzler Kern, hat sich dafür auch eine neue Ministerin geholt. Wäre sie männlich, könnte man sie ohne weiteres unter die inzwischen in Politik und Wirtschaft so häufige Kategorie „g’spritzter Schnösel“ ablegen. Wie reagierte sie auf die Katastrophe für einen nicht geringen Teil der Kinder? „So what?“ Erwürgt’s Euch!

Mit den Unterrichts-Ministerinnen der SPÖ ist es seit Jahren so eine Sache. Da gab es eine gescheiterte Spekulantin. Nachdem sie hunderte Millionen einer staatlichen Bank in den Sand gesetzt hatte, wurde sie Ministerin, offenbar wegen des großen Erfolgs. Da trat sie dann vor das geschätzte Publikum und richtete den Lehrern und vor allem Lehrerinnen aus: „In einer Krise müssen wir alle unseren Beitrag leisten.“ Also sollte die Lehrer gefälligst eine längere Arbeitszeit akzeptieren, für weniger Geld, wie es sich mit der Zeit heraus stellte. Den Medien war die Frau Schmied Liebkind. Das hing einerseits mit der von ihr angestrebten Arbeitszeit-Verlängerung zusammen, die ja das Kapital seit vielen Jahren möchte. Andererseits hatte sie ein in Wien bei den Zeitungen besonders beliebtes Spiel gespielt: Sie hatte bei einer Theater-Direktors-Besetzung den Bundeskanzler der eigenen Partei, damals Gusenbauer, ausrutschen lassen. Wenn das kein Verdienst war!
Dann kam Heinisch-Hosek. Bisher Frauenministerin, hatte sie sich dadurch ausgezeichnet, dass sie Frau Schmied beigesprungen war, als diese vor allem für Frauen die Arbeit verlängern wollte. Auch sie muss man einordnen. Sie gehört in jene Kategorie von Parteisol-dat/inn/en, welche wirklich Alles tun, wie die Partei es befiehlt. Mit solchen Typen hat seinerzeit Stalin die alte Generation der Bolschewiken ausgerottet. Ansonsten war sie, allgemein anerkannt, die Unfähigkeit in Person. Aber jahrelang blieb sie auf dieser strategischen Stelle. Denn immer noch war sie auch Frauenministerin und Frauenvorsitzende der SPÖ. Als solche war sie tabu. Denn das ist das Klima jener Art von Frauenpolitik, die zwar den Frauen keine Gleichstellung oder relle Verbesserung bringt; die sich aber sehr darum sorgt, dass ein paar der parasitären Futtertröge der Elite auch für Frauen bereit gestellt werden. Diese Art von gender mainstreaming hat zwar mit dem alten Feminismus gar nichts zu tun. Aber es ist die Politik der EU.

Und jetzt haben wir die Frau Hammerschmid.
Die Pseudo-Meritokratie ist Grundlage unserer gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur. Sie funktioniert über den Bildungs-Abschluss – allerdings nur für die Mittelschichten und deren Aspiranten. Für die Eliten ist dieser Bildungsgrad ziemlich gleichgültig (vgl. Hartmann). Bei Bedarf wissen sie ihn sich schon zu besorgen, wenn nötig, in einem Schweizer Internat oder aber auf der Webster-University in Wien In Wien kennt man noch das Wort von der Erzherzogsprüfung („Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?“).
Aber in den Mittelschichten kann der Kampf um den Bildungsgrad mörderisch werden. Wir alle kennen den Fall, wo der Sprössling eines Ministerialrats oder eines Facharztes im Gymnasium zweimal wiederholen muss und dann 25 Semester Medizin studiert. Er oder sie will zwar gar nicht. Aber die Eltern knüppeln ihn oder sie hin.

Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Denn üblicher Weise bekommen Mittelschichtkinder in der Familie das mit, worum es in der Schule und im Leben wirklich geht: den Habitus des kultivierten Bürgers (vgl. Bourdieu). Den Unterschicht-Kindern muss dies mühsam antrainiert werden, und viele von ihnen glauben noch naiv an die Leistung und vernachlässigen das eigentlich Wichtige: das Netzwerken und die Pose. Damit haben die Mittelschicht-Söhne und -Töchter einen Startvorteil, den die anderen selten wirklich aufholen können. Und holen sie ihn auf, dann entwickeln sich aus ihnen nicht selten die Janitscharen des Systems: Margaret Thatcher war ein solcher Fall, und Ronald Reagan auch.
Aber wieso erzwingt dann die übernationale Bürokratie und ihr nationaler Zweig diese Änderungen? Das begreifen auch viele der alten Bildungsbürger nicht und werden wütend. Aber so schwierig zu begreifen ist es auch wieder nicht- Ein erheblicher Teil der Bürokratie folgt einfach der eigenen Ideologie. Da ist uns ja vor allem von den Absolventen der Ökonomie bestens vertraut. Es ist auch Teil ihres Legitimierungsprozesses, und so, in einer zweiten Sicht, auch funktional.

Dann ist es ein prächtiges Mittel von Disziplinierung und Selektion. Selektion ist notwendig in einer Zeit, wovor allem in den Städten aus guten Gründen die Hälfte und mehr der Eltern ihre Kinder in Höhere Schulen schicken. Die Vereinheitlichung und Disziplinierung auf ein Fetisch-Ziel hin darf auch nicht vergessen werden. Es gilt, den Heranwachsenden klar zu machen: Die Inhalte sind völlig gleichgültig. Die können nur schaden. Es gibt nur ein Ziel: Du musst die Matura erreichen, koste es was es wolle. Dieser Fetisch ist es, welcher entscheidet. Alles Andere zählt nicht, schon gar nicht eigenes Denken. Diese Tendenzen gab es auch bisher schon massiv. Nun erreichen sie nochmals eine neue Qualität.
Damit sollen Intello-Roboter für die mittleren Funktionen heran gezüchtet werden. Nur nicht nachfragen! Sinn oder Unsinn einer Entscheidung steht nicht zur Debatte. Das Ganze ist eingebunden in die globale Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu einem System der gesteigerten Ungleichheit.

Die Bürokratie ist gewaltig verunsichert. Die blinde Wut ihrer Sprecher in den Medien nach der Brexit-Entscheidung war schon wieder auffällig. Dabei müssten sie sich nicht unbedingt Sorgen machen. Die britische Regierung wird alles tun, um dieser Volksabstimmung nicht wirklich nachkommen zu müssen. Aber sie hat doch gezeigt: Die Eliten können sich nicht mehr sicher sein.

Die nationale politische Klasse aber muss irgendwie reagieren, wenn sie ihre Futtertröge nicht verlieren will. Damit wird es interessant, wie sie in einem so scheinbar technischen Detail wie der Zentralmatura reagieren wird. Gibt sie nach? Dann kommt sie von außen unter Druck, und das fürchtet sie sehr. Also Durchtauchen? Oder transformieren („Alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist“)?

Aber es gibt auch noch eine Dritte Alternative, und über die müssen wir sprechen. Die Zentralmatura ist dabei nur ein Detail. Es geht um die Struktur, es geht um die Ungleichheit.

Literatur
Bernstein, Basil (1970a), Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten. Aufsätze 1958 - 1970. Amsterdam: de Munter.
Bernstein, Basil (1970b), et al., Lernen und soziale Struktur. Aufsätze 1965 - 1970. Amsterdam: de Munter, 1970.
Bourdieu, P. (1988), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hartig, Matthias / Kurz Ursula (1971),, Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hartmann, Michael (2007), Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt / Main: Campus.
Oevermann, Ulrich (1972), Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag zur Analyse schichtspezifischer Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Scuola di Barbiana (1974), Lettera a una Professoressa. Firenze: Libreria editrice fiorentina. Deutsch: Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin. Aus dem Italienischen von Alexander Langer und Marianne Andre. Mit einem Vorwort von Peter Bichsel. Berlin: Wagenbach, 1972.