Weißer Kemalismus, schwarzer Kemalismus und die Reaktion des Westens auf einen Militärputsch

25.07.2016
Von Albert F. Reiterer
Die unüberwindliche Liebe der USA und der EU zum Pinochetismus

Der Putsch von Mitte Juli in der Türkei war die Zuspitzung eines politischen Konflikts, der in der letzten Zeit immer stärker akut wurde. Es ist nicht völlig eindeutig, welche sozialen Kräfte und Gegensätze dahinter zu finden sind. Der Hauptwiderspruch zeichnet sich aber doch ab: Der Kemalismus verkörpert eine vom Westen abhängige Entwicklung. Dem stellt sich ein gewisser Ansatz zu einer selbstbestimmten Orientierung auf der Grundlage traditional islamischer Mentalität gegenüber.

Es ist das Interesse dieser Überlegungen, zum Einen die türkischen Konflikte aufzugreifen, zugegeben auf der Basis viel zu knapper Informationen. Das zweite Anliegen ist aber eine Reflexion der westlichen Reaktionen auf die Geschehnisse. Denn wenn am Gesagten was richtig ist, dann war der Putschversuch eine globale Angelegenheit. Das Problem der Abhängigkeit ist zu thematisieren. Die westliche Reaktion ist somit Teil der Ereignisse.
Der Kemalismus, seine heutige Form und seine Verkümmerung, ist also die eine Seite des Konflikts. Hier ist die Analyse vergleichsweise einfach. Mitte des 19. Jahrhunderts realisierten Teile der zentralen Elite: Eine Modernisierung des osmanischen Staats und seiner Gesellschaft war unumgänglich, wollte man überhaupt überleben. Wenige Jahrzehnte zuvor hatte der Sultan auf seine Weise mit dem Janitscharen-Massaker, nach dem Vorbild des Zaren Peter (Strelitzen-Massaker) und Mehmet Alis (1811: Mamelucken-Massaker) mit den alten Streitkräften aufgeräumt. Nun sollte es endlich auch einen Aufbau geben. Die Tanzimat, die zaghaften Reformen, scheiterten an ihrem transformistischen Widerspruch. Anfang des 20. Jahrhunderts machten die Jungtürken nach einem Staatsstreich einige weitere Versuche in dieselbe Richtung. Sie erlitten das Schicksal ihrer Vorgänger, und das Reich brach im Ersten Weltkrieg zusammen. Vorher hatten sie noch Zeit und Gelegenheit, den ersten groß angelegten Völkermord des 20. Jahrhunderts durchzuführen.
Der deutsche Völkermord an Hereros etc. in Südwestafrika, noch vor jenem an den Armeniern, betraf naturge-mäß viel weniger Menschen. Aber bemerkenswert ist er schon. Ein damaliger Völkerkundler, Siegfried Passarge, hat in einem Büchlein über die Buschleute 1907 und die völkermordähnliche Praxis ihnen gegenüber wörtlich erklärt: Schuld sind sie selbst! Sie sind eben zu schwach zum überleben.

Nach 1920 konnte sich Mustafa Kemal nicht zuletzt dank der griechischen Aggression durchsetzen. Mit seiner Militärdiktatur startete er als Nachfahre der Jungtürken resolut und ohne Rücksicht auf Widerstände eine Revolution von Oben. Es ist aufschlussreich, wie ihn die Akteure einer anderen Revolution von Oben beurteilten. Obwohl Kemals Politik hart antikommunistisch war, sahen ihn Lenin und die Bolschewiki mit einem gewissen Wohlwollen. Das Militär und Kemal handelten damals an Stelle des kaum vorhandenen Bürgertums, um eine bürgerliche Revolution, nach Auffassung der Bolschewiki, durchzuführen.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem zweiten Militärputsch von 1970 und noch stärker nach dem dritten von 1980, begannen die Militärs für das städtische Bürgertum zu arbeiten, allerdings weiter in eigener Machtvollkommenheit. Die Wirtschaftspolitik des Ministerpräsidenten Turgut Özal (1983 bis 1989) war nichts Anderes als Reaganismus oder Thatcherismus in einem Land der Dritten Welt. Das städtische Bürgertum und die Militärs richteten sich auf die USA und auf Westeuropa aus.

Und die belohnten die türkischen Eliten sowie ihre Hilfs-Klassen. Die NATO gewährte der Türkei die Rolle als Vormacht des Nahen Ostens, neben Israel. Die EG versprach ihr einen Beitritt. Und, um Kleinigkeiten nicht zu vergessen: Österreich finanzierte dem Istanbuler Bürgertum ein Gymnasium, wo die Söhnchen und Töchter der gehobenen Mittelschichten sich auf ihre künftige Rollen vorbereiten können. Das sind zwar nicht die ausgesprochenen Eliten. Die besuchen Schulen und Universitäten anderswo. Aber immerhin: Auch St. Georg ist ein Sprungbrett. Es liegt auch nur eine Viertelstunde Fußweg vom Taksim entfernt, im früheren Slumviertel Pera, das heute ein residenzielles Quartier gehobener Wohnmöglich-keiten bildet. Da können die Jugendlichen nach der Schule gleich zur Demonstration gegen die AKP marschieren.

Dieser eine Pol des Geschehens, der Kemalismus, liegt ziemlich klar. Was aber ist mit dem anderen Pol, den „Schwarzen Türken“ und ihrer Vertretung, der AKP?
Istanbul besteht nicht nur aus wohlhabenden Mittelschichten. Am Rande der Stadt dehnen sich die gecekondus, die Slums. Erdoğan hat den wichtigsten Schritt seines politischen Aufstiegs als Bürgermeister von Istanbul getan. Diese städtische Unterschicht verbündete sich nun mit einem großen Teil der anatolischen Bevölkerung, den Schwarzen Türken. Die ist allerdings nicht mehr so leicht in Klassen zu kategorisieren wie die Kemalisten. Hier beginnt auch unser Problem.

1997 hatte es den letzten Militärputsch gegeben. Aber schon damals war es etwas anders als gewohnt. Dieser postmoderne Putsch fand materiell nicht mehr statt, als Aufmarsch von Truppen, etc. Das Militär erinnerte den Ministerpräsidenten Erbakan bei einer Sitzung des Verteidigungsausschusses, dass sie Menderes vier Jahrzehnte zuvor aufgehängt hatten, weil dieser halsstarrig war. Erbakan verstand und ging „freiwillig“. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die USA und Westeuropa sahen es nunmehr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ungern, wenn das Militär putschte. Das störte zu sehr den schönen Schein. So gelang es Erdogan bereits wenige Jahre später, nach einem Wahlsieg auf Basis des türkischen Wahlrechts (die AKP hatte auf Volksebene nie eine absolute Mehrheit, 34, 3 % waren es 2002, es reichte für die absolute Mehrheit der Mandate), die Regierung zu bilden. Mit erstaunlichem Geschick, mit einer Zähigkeit ohnegleichen zähmte er in der Folge das Militär. Da dieses auf Grund seiner Abhängigkeit von Außen nicht putschen wollte oder durfte, versuchte es der Justizapparat mehrmals, letztlich aber mit geringem Erfolg. Man kann sagen: Erdogan nützte das „window of opportunity“, welches ihm die heuchlerische Haltung des Westens bot. Das hinderte die US-Neokonservativen offenbar nicht, in letzter Zeit Teile der Streitkräfte zum Putsch zu animieren.

Seit Jahren macht man Erdoğan nun von westlicher Seite seinen Autoritarismus zum Vorwurf. Dieser Vorwurf ist inhaltlich schon richtig. Aber trotzdem ist er von Seiten des Westens die pure Heuchelei. Es kommt immer darauf an, wer was sagt.
Man macht einem Dritte Welt-Land den Vorwurf, dass dort die Demokratie nicht so funktioniert, wie es nach den Lehr- und Traumbüchern der westlichen Akademien sollte, und wie es auch kaum wo im Westen funktioniert. Der „Spiegel“ z. B., ein besonders widerliches Produkt der bundesrepublikanischen Medien-Landschaft, titelt gerade: „Es war einmal eine Demokratie. – Diktator Erdoğan.“ Dass die türkische Demokratie, soweit sie existiert, ausschließlich der AKP-Regierung zu verdanken war, dass die Kemalisten in Wahlen nie eine Mehrheit errangen, fällt unter den Tisch. Das erinnert mich an ein Seminar vor einigen Jahren über Minderheiten und Selbstbestimmung. Da saßen einige höhere Töchter aus alewitischen Familien drinnen. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Unterstützung für die frühere kemalistische Diktatur und den Hass auf die AKP irgendwie zu rechtfertigen.
Man spricht davon, dass die Säuberung der Bürokratie vorbereitet gewesen sein muss. No na. Da diese Regierung seit mehr als einem Jahrzehnt unter der Drohung eines Putsches seitens des Militärs sowie der Justizbürokratie zu arbeiten hatte, war es wohl angebracht, dass sie Gegenmaßnahmen vorbereitete.

Man hebt lehrhaft den Finger und jammert über den Ausnahmezustand. Erdoğan packte zu Recht die Gelegenheit und machte darauf aufmerksam, dass es anderswo in Europa aus wesentlich geringerem Anlass als aus einem Putsch den Ausnahmezustand auch gebe, Und auch die angeblich fortschrittlichen Medien machen da mit. Auch im „Neuen Deutschland“ und sogar in der „Jungen Welt“ lesen wir Schlagzeilen, Redewendungen und Kommentare, die direkt aus der „Welt“ – die FAZ ist schon ein wenig differenzierter – übernommen sein könnten. Die Türkei hat die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) suspendiert? Das wagen jene Regierungen zu monieren, die es hinnahmen, dass die EG / EU sich Jahrzehnte lang weigerte, der EMRK beizutreten; die es hinnehmen, dass vor eineinhalb Jahren der EuGH, ein Gremium nicht gewählter Bürokraten, dem Rat, der angeblich die Grundsatzentscheidungen trifft, verbot, der EMRK beizutreten, als dieser dies endlich wollte.
Aber das allein sind nicht die wichtigsten Züge, die wir noch zu besprechen hätten. Ist doch die Entwicklung der AKP und Erdoğans wenig Anderes, als ein Neuaufbau eines Kemalismus, diesmal eines Schwarzen Kemalismus.

Der wesentliche Punkt ist: Da stellt sich auf globaler Ebene ein Problem, das wir im nationalen Rahmen, in Österreich, Europa und den USA auch haben. Es scheint so, als ob die AKP und die Gefolgschaft von Erdoğan zu einem erheblichen Teil aus plebeischen Elementen bestünde. Diese Elemente, die auch gewichtige Teile des Lumpen-Proletariats umfassen, sind nicht gerade die Menschen, mit denen wir uns theoretisch über die Voraussetzungen, Einschränkungen und Notwendigkeiten einer auf Menschenrechten aufgebauten parlamentarischen Demokratie unterhalten können. Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Wir wollen die Klassen aufheben, nicht etwa eine bestimmte Klasse aus der Unterschicht in den Himmel heben, die auf Grund ihrer Situation gar nicht anders kann, als depraviert zu sein.
Aber müssen wir uns deswegen auf die Seite der Eliten stellen?

Wir sind hier in Mitteleuropa weder genötigt, für die Militärs noch für die AKP-Regierung Partei zu nehmen. Als Linke haben wir einige wenige grundlegende Werte. Wir treten für Gleichheit ein, für ein möglichst hohes Maß an materieller Gleichheit als Voraussetzung für ein menschliches Leben für alle. Wir treten auch für das Prinzip der Selbstbestimmung ein, das Prinzip der Demokratie.

Uns Linken braucht niemand zu sagen, dass der Mehrheitsgrundsatz allein nicht die Demokratie ausmacht. Doch Selbstbestimmung ist jedenfalls noch immer eher von der türkischen Regierung gewährleistet, als von einem von Außen, von der USA und der EU gesteuerten Militär.

Was aber die Gleichheit betrifft, so haben wir keinen Grund, für die AKP-Regierung zu schwärmen, aber erst recht nicht für den Kemalismus. Ungleichheitsdaten sind notorisch unzuverlässig. Sie geben bestenfalls das Niveau an. Mit 0,40 für den Gini 2014 (Österreich: 0,28) hat die Türkei das Niveau eines typischen Entwicklungslandes; aber er liegt geringfügig unter dem Wert von 2004 (0,42). Es scheint jedenfalls, dass sich die Ungleichheit nicht vergrößert, entgegen dem globalen Trend, möglicherweise sogar etwas verringert hat.

Materielles Niveau der Türkei, im Vergleich
BIP pc., US-$, 2015 9.130, In KKP (kaufkraftbereinigt) 19.618
Vergleich Österreich 43.439 47.824,-
Vergleich Polen 12.494 26.135,-

Auffällig ist eine Parallele: Der Ton und der Stil, in welcher der türkische Putsch und die Folgeereignisse in den deutschen und österreichischen Medien abgehandelt werden, erinnert akut an den Ton und den Stil der Berichte und Kommentare zum Brexit. Zufall ist dies nicht. Beide Ereignisse stellen eine wuchtige Niederlage für den Westen dar, für die Bürokratie in Brüssel und ihre Auftraggeber. Die obszöne Arroganz, mit welcher diese in Anspruch nehmen, allen zu sagen oder sagen zu wollen, wo’s lang geht, hat beide Male eine harsche Antwort erhalten. Diese imperiale Haltung ging daneben. Das erzeugt ungezügelte Wut, die umso mehr Ausdruck findet, als sie sich fürs Erste zur Ohnmacht verwiesen sieht.
Der Putschversuch in der Türkei mit seinen westlichen Hinter-Männern war gewissermaßen ein Verzweiflungsakt angesichts einer Situation, die in eine andere Richtung verläuft. Seine wirkliche Bedeutung liegt nicht in seinen konkreten Ergebnissen. Seine wirkliche Bedeutung liegt darin, dass er zeigt: Die Supermacht und die Möchtegern-Supermacht hat nicht mehr die Potenz, die Möchtegern-Supermacht hatte sie vielleicht auch gar nie, der Welt ihren Willen aufzudrücken. Das ist immerhin ein Anfang und eine positive Nachricht.
24. Juli 2014