Die Türkei dient dem Westen nicht ganz so wie gewünscht

27.08.2016
Interview mit Ridvan Kaya
von Mustafa Ilhan
„Man muss den Imperialismus sehr viel prinzipieller erklären als nur mittels ein paar Worthülsen. Natürlich kann man kein Anti-Imperialist sein, ohne dass man sich gegen die Regierung der USA stellt, aber nur „anti-amerikanisch“ zu sein reicht eben auch nicht. Der Imperialismus ordnet die „schwachen“ Völker und Staaten seinen Interessen unter. Als Anti-Imperialisten können wir eine solche Herrschaft aber nicht nur bei den USA finden.“
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Ridvan Kaya ist muslimischer Denker, Schriftsteller und Aktivist und gehört zu den zentralen Figuren des Politischen Islam in der Türkei. Er ist Vorsitzender des Vereins Özgür-Der und Chefredakteur der Haksöz-Magazine. Kaya sieht keine Notwendigkeit der Modernisierung des Islam und lehnt auch Parlamentarismus ab. Antiimperialismus ist indes für ihn wichtig und er suchte daher den Dialog mit anderen antiimperialistischen Kräften, um mögliche Kooperationen auszuloten. Im aktuellen Konflikt in der Türkei und in Syrien steht er, wie nicht anders zu erwarten, fest auf der sunnitisch-islamischen Seite und der AKP-Regierung, und deckt auch ihr Narrativ. Dennoch finden sich Ansätze Brücken zu schlagen beispielsweise in den vorsichtigen Andeutungen, die einen Waffenstillstand ermöglichen könnte.

Dennoch muss angemerkt wie weit die Darstellung streckenweise von unserem Verständnis entfernt ist: Der PKK wird vorgeworfen Gülen in die Hände zu spielen. Historische Realität ist indes, dass es gerade die zeitweilige Öffnung zu den Kurden und damit ein Stück weit auch der PKK war, die mit zum Bruch zwischen Erdogans AKP und Gülens Hikmet führte. Und es war schließlich Erdogan selbst der sich zum kemalistischen Grundaxiom, keinen Ausgleich mit den Kurden zuzulassen, zurückbewegte.
Die Redaktion

Am 15. Juli 2016 hat das türkische Militär versucht mittels eines Putsches die gewählte türkische Regierung zu stürzen und die Macht an sich zu reißen. Dies wurde durch eine breite Mobilisierung vieler Menschen, die sich auf den Straßen in vielen Städten der Türkei den Panzern in den Weg stellten, verhindert. Wer sind die Drahtzieher dieses Putsches gewesen bzw. wer sind die politisch-ideologischen Väter dieser Leute?

Soweit wir das heute überblicken können, besteht der strukturelle Kern der Putschisten aus Leuten, die aus dem Kreise der „Gülenisten“ stammen. Allerdings erfordert eine solche Aktion Allianzen. Wenn wir uns die klassische Struktur des Militärs betrachten, so kann man zu dem Schluss kommen, dass die Putschisten von kemalistischen Elementen unterstützt wurden, die sich letztendlich wieder zurückgezogen haben. Vieles deutet darauf hin, dass im Vorfeld des Putsches der Geheimdienst (MIT) über den bevorstehenden Umsturz informiert gewesen ist. Das hat dann auch wohl dazu geführt, dass sich die kemalistischen Kräfte aus dem Bündnis mit den Putschisten zurückgezogen haben und ihre Unterstützung im entscheidenden Moment des Putsches verweigert haben.

Wo würden wir heute stehen, wenn der Umsturz in der Türkei geglückt wäre?

Die „Gülenisten“ sind sehr stark in den staatlichen Institutionen verankert, aber ihre soziale Basis ist sehr schwach. Wenn der Umsturz geglückt wäre, hätten sie versucht über eine säkular-kemalistische Basis versucht Legitimität aufzubauen. Dies hätten sie wahrscheinlich mit einem soft-kemalistischen politischen Programm versucht zu realisieren. Hierzu hätten sie auch Teile der Linken versucht zu integrieren, indem man sich deren Kritik gegen Erdogans Autoritarismus und einer angeblichen drohenden Diktatur zu Eigen gemacht hätte. Ich denke es hätte personelle Veränderungen in der staatlichen Verwaltung gegeben. Mehr nicht. Und möglicherweise hätte man durch Repressionen gegen führende Politiker der AKP und Repräsentanten der islamischen Gemeinden versucht deren politischen Einfluss zu begrenzen. Außerdem wäre es bei einem gelungenen Putsch dazu gekommen, dass man sich außenpolitisch wieder den Vorgaben der imperialistischen Zentren unterworfen hätte und sich von einem islamischen Diskurs im Mittleren Osten verabschiedet hätte. Alles unter dem Deckmantel. „Wir wurden durch eine falsche Politik ein einsames Land.“

Die USA und andere europäische Großmächte haben gegenüber den Putschisten in der ersten Phase keine klare Position vertreten. Wie beurteilen Sie diese Haltung des Westens?

In der aktuellen Phase ist es reine Spekulation, ob und in wie weit die USA hinter diesem missglückten Umsturz in der Türkei gestanden haben. Aber natürlich ist es schwierig dies komplett auszuschließen, da wir alle wissen wie sehr die USA im Mittleren Osten auch militärisch aktiv sind. Aber ohne konkrete Beweise können wir die Rolle der USA dabei schlecht bewerten. Alles andere sind reine Behauptungen ohne Nachweise. Alledings kann man sagen die Stimmungsmache in den westlichen Medien gegen Erdogan ihn in der Türkei politisch gestärkt hat und dass dies wiederum auch dazu geführt hat, dass dieser Putsch in kürzer zeit gescheitert ist und die AKP letztlich diese Krise schnell überwinden konnte. Der Fall Ägypten ist in dieser Hinsicht lehrreich. Für die USA und die EU ist Recep Tayip Erdogan genauso beliebt wie zu seiner Zeit Mursi in Ägypten. Ägypten ist in dieser Hinsicht ein sehr lehrreiches Beispiel.

Während der Proteste gegen den Putsch haben sich auch viele Mitglieder der CHP und MHP an diesen Protesten beteiligt. Glauben Sie, dass die Unterstützung dieser Parteien für die AKP darin mündet das die AKP diesen Parteien gegenüber politische Zugeständnisse, in Bezug auf das von der AKP angestrebte Präsidialsystem machen wird?

Ich denke dieses Bündnis wird nur vorübergehend bestehen bleiben. Das kann und wird nicht dauerhaft sein. Wer wem Zugeständnisse macht kann man diskutieren. Derzeit ist die politische Macht der AKP sehr stark. Die Opposition ist gezwungen sich an der Agenda der Regierung abzuarbeiten. Das wird aber nicht von langer Dauer sein. Die Türkei ist ein tief polarisiertes Land, das ideologisch und politisch gespalten ist. Die politische Agenda der politischen Parteien wird sich deshalb schnell wieder ändern und man wird zu den ursprünglichen Positionen zurückkehren.

Präsident Erdogan hat seinen Reden nach dem gescheiterten Putsch nie das angestrebte Präsidialsystem thematisiert. Glauben Sie, dass dies mit dem Putschversuch auf Eis gelegt wurde?

Nein. De facto haben wir bereits ein solches System. Vielleicht sieht Herr Erdogan im Moment nicht die Notwendigkeit diesem auch einen formalen Ausdruck zu verschaffen. Aber das Präsidialsystem funktioniert bereits. Es gibt im Augenblick nichts was er nicht durchsetzen könnte.

Glauben Sie noch daran, dass mit der derzeitigen Koalition von AKP, CHP und MHP eine neue Verfassung zustande kommen kann?

Es wird wieder einige Versuche in diese Richtung geben. Aber ich denke das wird nach kurzen Anläufen wieder scheitern. Wenn die AKP nicht das bekommt was sie sich vorstellen werden sie schnell mit Neuwahlen drohen. Und davor hat die Opposition derzeit Angst. Am Ende wird gerade dies die Opposition dazu zwingen einige Forderungen der Regierung zu akzeptieren und zuzustimmen.

Wie bewerten sie den Ausschluss der HDP durch die AKP von den Demonstrationen und Festlichkeiten die nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei stattfanden?

Ich denke die HDP hat sich selbst aus dem gesamten politischen Prozess ausgeschlossen. Durch die Beziehungen der HDP zur PKK ist eine Annäherung für die AKP nicht zumutbar oder möglich. Während in anderen Städten die Menschen gegen den Putsch auf die Straßen gingen, hat die PKK weiter Aktionen durchgeführt. z.B in einem irrelevantan Provinzstadt wie Trabzon wurden bei Angrifen der PKK viele Polizisten getötet. Die Mehrheit der Bevölkerung begreift diese Aktionen als Teil des Putsches und die PKK als Handlanger der „Gülenbewegung“. In der aktuellen Situation ist eine politische Annäherung an die HDP politisch zu riskant.

Wäre aus Ihrer Sicht nicht gerade jetzt eine gute Gelegenheit die politische Lösung der kurdischen Frage wieder auf die Tagesordnung zu setzten?

Ich denke solche Phasen sind vorüber. Solange die PKK weiter bewaffnete Aktionen durchführt, ist die HDP kein Friedenspartner. Und in der letzten Zeit wurde der Konflikt durch wacksenden naitionalistisch-etatistischen Empfindlichkeiten zu noch einer schwierigen Lage geführt.

Denken Sie, dass wenn der Putsch in der Türkei gelungen wäre, dass wir heute eine ähnliche Situation in der Türkei hätten wie in Syrien?

Wahrscheinlich wäre die Situation nicht so schlimm, wie wir es heute in Syrien sehen. Aber nichtsdestotrotz wäre in diesem Falle der Start für einen langfristigen und blutigen Konflikt Türken/Kurden und/oder Sunniten/Aleviten im Bereich des Möglichen gewesen.

Glauben Sie, dass es Interessen in den USA oder in der EU gibt, die sich eine ähnliche Entwicklung in der Türkei wünschen wie wir es heute in Syrien beobachten können?

Das glaube ich nicht. Ich denke sowohl in den USA als auch in der EU ist es von Interesse, dass in der Türkei sowohl politisch als auch ökonomisch Stabilität herrscht. Dabei ist es aber auch wichtig, dass die Türkei den außenpolitischen Interessen der USA und der EU folgt. Ich möchte das nochmal ausdrücklich betonen. Der Westen ist an einer Türkei interessiert, die sich den westlichen Interessen unterordnet.

Gauben Sie das eine durch die AKP regierte Türkei dieser Linie folgt? Und das etwas ähnliches wie in Syrien in der Türkei passieren kann?

Im Moment dient die Türkei dem Westen nicht ganz so wie gewünscht. Aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass eine Entwicklung wie in Syrien im Interesse des Westens sei. Jedenfalls im Moment nicht. Aber das eigentlich Schlimme und Gefährliche ist, dass eine solche Entwicklung in der Türkei innerhalb des Möglichen selbst ist.

Sie haben sich in Ihrem letzten Artikel mit dem Thema Antiimperialismus beschäftigt. Eine ihrer Kernthesen ist dabei, dass es mehr als „Anti-Amerikanismus“ braucht für einen Anti-Imperialismus. Was genau wollten sie damit zum Ausdruck bringen?

Ich finde man muss den Imperialismus sehr viel prinzipieller erklären als nur mittels ein paar Worthülsen. Natürlich kann man kein Anti-Imperialist sein, ohne dass man sich gegen die Regierung der USA stellt, aber nur „anti-amerikanisch“ zu sein reicht eben auch nicht. Der Imperialismus ordnet die „schwachen“ Völker und Staaten seinen Interessen unter. Als Anti-Imperialisten können wir eine solche Herrschaft aber nicht nur bei den USA finden. Zum Beispiel in Syrien wird der Ruf nach Freiheit seit 5 Jahren von einer russischen und iranischen Besatzung unterdrückt. Nur leider sympathisieren bis heute einige Linke und islamische Kräfte mit Russland und dem Iran. Ich habe deshalb versucht mit meinem Artikel diese doppelten Standards und die damit verbundene Heuchelei vieler sog. Anti-Imperialisten zu verdeutlichen.

Nach dem Putsch scheint es eine neue Annäherung zwischen der Türkei und Russland zu geben. Wie beurteilen sie diese Entwicklung?

Diese Entwicklung hat bereits vor dem Putschversuch begonnen. Aber der Umsturzversuch hat diese Annäherung beschleunigt. Die Türkei wurde vom Westen sehr kompromittiert und von daher kam die Annäherung an Russland zum richtigen Zeitpunkt um etwas Atempause zu bekommen. Für Russland gilt übrigens das Gleiche. Letztendlich ist dies nur ein obligatorischer Schulterschluss. Solange es aber in Syrien weiter zu unterschiedlichen Einschätzungen der Lage kommt, wird es auch zu keinen langfristigen Allianzen zwischen diesen beiden Ländern kommen.

Ist nach dem Putsch zu erwarten, dass es zu einer Annäherung zwischen Herrn Erdogan und Herrn Assad kommt? Ist ihrer Meinung nach Herr Assad überhaupt noch ein Ansprechpartner für die islamische Opposition?

In Bezug auf den türkischen Staat ist eine solche Annäherung durchaus im Rahmen des Möglichen. Für die islamische Opposition ist eine solche Annäherung unmöglich. Ein Leben mit Assad wird es in Syrien nicht geben. Es ist unmöglich. Es ist nicht möglich die islamische Opposition in Syrien davon zu überzeugen. Möglich wäre ein Waffenstillstand. Man könnte bestimmte Zonen festlegen. Aktuell besteht ein militärisches Patt. Weder kann Assad die Opposition zum Schweigen bringen, noch kann die Opposition Assad stürzen. In so einer Situation steht der Frieden nicht auf der Tagesordnung; ein Waffenstillstand hingegen könnte möglich werden.