Weckruf an die türkische und kurdische Linke

30.08.2016
von Mustafa Ilhan, antiimperialistischer Aktivist in Deutschland
Eine Positionsbestimmung

Als Prolog: Ein kleiner Augenzeugenbericht vom 15. Juli 2016 aus der Stadt Gaziantep aus dem Südosten der Türkei

Tausende Menschen sind auf die Straßen, ein Teil sogar bewaffnet. Kinder, die vielleicht zwischen 8 und 14 Jahre alt sind, schwingen grüne Flaggen auf den Straßen und blockieren den Verkehr. Autos, Busse, LKWs usw. voll mit organisierten jüngeren Männer aus irgendwelchen islamischen Milieus, die Tage lang „Tekbir Allahu Akbar“ riefen. Sogar Autos, die mit IS Flaggen und IS Symbolen geschmückt sind, fahren durch die Straßen.
Es war kein Polizist und kein Soldat in den Straßen von Gaziantep zu sehen. Die Polizisten verstecken sich in den Polizeiwachen und das Militär in den Kasernen. Die Straßen gehören den Putschgegnern. Die Passivität und Sorge der Regierungsgegner war zu spüren.
Keiner wusste, was am nächsten Tag passieren würde. Diesmal waren die Putschgegner die Nationalisten und Menschen aus den verschiedenen islamischen Milieus. Keine Linken sind auf der Straße zu sehen. Als am nächsten Tag die Putschisten niedergeschlagen werden, verbreiten sich innerhalb der der Regierungsgegner Stellungnahmen wie: „Ein Putsch ist keine Lösung, wir sind auch gegen die Putschisten, aber...“ Aber genau diese Position hat die Linken von der Straße fern gehalten.

Bewertung des Putschversuchs

Der Umsturzversuch in der Türkei hat für Chaos und Gewalt in mehreren Städten des Landes gesorgt. Den Putschisten gelang es aber nicht, die Macht an sich zu reißen. Es war vorhersehbar, dass die Bevölkerung diese nicht wünscht und er auch nicht entsprechend ankommt. So ist es auch passiert. Innerhalb von wenigen Stunden gingen landesweit zehntausende Menschen auf die Straße. Ein blutiger Konflikt zwischen zwei Seiten hatte begonnen. Nun, was wäre es passiert, wenn tatsächlich dieser Putschversuch gelungen wäre?
Es wäre ein noch gefährlicheres Chaos als der 90er Jahren entstanden. Ein Konflikt, der Massen von Menschen das Leben gekostet hätte. Ein Konflikt, der das Land und die gesamte Region an den Grenzen zu Syrien und Irak destabilisieren hätte können. Man hätte den Alptraum der 90er Jahre in der Türkei heute wieder erleben müssen.

Doppelzüngiger Westen

Das Verhalten der westlichen Großmächte gegenüber dem Putschversuch ist überraschend und doppelzüngig. Besonders der Verhalten Brüssels als einer imperialistischen Supermacht ist kurzsichtig. Wäre der Putschversuch erfolgreich gewesen, dann hätten wir von einem Chaos ausgehen müssen, welches zu einem Bürgerkrieg hätte führen können. Und dieser Bürgerkrieg hätte die Brüsseler Interessen im negativen Sinne beeinflusst. Durch diesen Krieg wären die 877 km lange Grenze zwischen der Türkei und Syrien und die 331 km lange türkisch-irakische Grenze unkontrollierbar geworden. Dieser Krieg wäre dann ein grenzüberschreitender Krieg geworden. Spätestens an diesem Punkt hätte die EU die Grenzen noch dichter machen müssen. Diesmal nicht wegen der vermeintlichen Flüchtlingskrise, sondern wegen der „Jihadismus“- Gefahr. Weder Griechenland noch Spanien wären in der Lage gewesen, die Brüsseler Forderungen so einfach zu erfüllen. Weder die deutschen noch die französische Geheimdienste hätten die Kontrolle an die Grenzen behalten können. Die Europäer werden die Gefahr des Jihadismus nicht bannen können.

Die linken und säkularen Kräfte

Das Verhalten der linken und säkularen Kräfte gegen den Putschversuch war inkonsistent. Es mag sein, dass sich die Linken aus ideologischen Gründen nicht als Teil in diesem Machtkampf zweier Parteien verstehen. Die Linken müssen aber endlich begreifen, dass jeder Putsch selbst wenn er sich auch gegen seine Feinde richtet, auch die Linke selbst jahrelang niederhalten wird. Und somit ein neues Spielfeld für die Großmächte sein wird. Von daher, statt dem Westen das Brot zu schmieren, sollte sie sich selbst neu organisieren und sich im Rahmen nationaler und regionaler Entwicklungen in Bewegung setzen.

Die AKP

Vor uns steht immer noch der historisch türkisch-kurdische Konflikt. Über die Lösung des Konfliktes gab es Dialoge zwischen zwei Parteien. Dieser existiert nicht mehr und die Waffen sprechen wieder. Nach diesem Putschversuch gibt es aber wieder Alternativen, welche eine Lösung möglich erscheinen lassen. Statt auf die Kurden zuzugehen hat die AKP an ihrer unnachgiebigen Linie festgehalten. Die kurdische HDP aus dem gesamten politischen Prozess heraus zu halten, war weder strategisch noch politisch klug. Wie lange wollen sie noch die Kurden bekämpfen? Die AKP ist umgeben von einer politischen und militärischen Krise. Es mag sein, dass sich die AKP gegenüber den Gülenisten im Militär in einer Offensive befindet. Im Justiz - und Staatsapparat gehen die Auseinandersetzungen aber weiter. Um weiterhin erfolgreich sein zu können, sind sie auf breite Unterstützung angewiesen, besonders von kurdischer Seite. In der aktuellen Situation ist es nicht einfach die Unterstützung der Kurden anzunehmen, aber einen großen Widerstand dagegen hätte es auch nicht gegeben. Was diese Haltung der AKP gegenüber den Kurden angeht, hat die HDP ihren Teil dazu beigetragen. Die Haltung der HDP gegenüber Erdogan spielt hierbei eine wichtige Rolle. Die Wahlpropaganda der HDP vor den Wahlen war explizit gegen Erdogan gerichtet. Diese Politik hat Erdogans Gegnern genutzt und in deren Hände gespielt. Man könnte auch sagen, dass Erdogan nun Rache nimmt. Nun, diejenigen die darunter leiden, sind diejenigen, die seit 40 Jahren leiden und das sind Kurden.

Verhältnis Türkei - Russland/b>

Als eine Reaktion gegen den Westen versucht sich die Türkei wieder mit Russland zu versöhnen, was sicherlich nicht so einfach sein wird. Der Türkei ist sich bewusst, dass der Westen – mit oder ohne Erdogan – die Türkei nicht einfach aufgeben wird. Putin ist sich dessen voll bewusst. Aus russischer Sicht ist jede „Versöhnung“ nützlich. Russland leidet unter den westlichen Sanktionen. Sie sind überwältigt von diesem Druck. Die bisherige Strategie der Russen war entschieden klüger als die türkische. Ein Vorteil für Russland ist der Preis, den die Türkei für ihre Syrienpolitik wird zahlen müssen. Wenn man sich die Bilder aus dem Stadt Gaziantep vor Augen führt, wird man sagen, dass es nicht einfach sein wird diesen Preis zu zahlen. Es gibt eine große Menge von Waffen, die außerhalb der Kontrolle der Staates sind. Besonders die organisierten islamischen Bewegungen besitzen diese Waffen. Und diese Waffen sind im Untergrund versteckt. Teile von diesem sind in der Lage diese Waffen in der Hand zu nehmen.

Flüchtlingspolitik und türkischen Truppen in Syrien

Nun war die Politik der AKP vor dem Angriff auf die syrischen Städte Manbidsch und Dscharablus gewesen, die syrischen Flüchtlinge in Südosten des Landes zu verteilen, um eine kommende kurdische Bedrohung zu stoppen.
Nun ist diese Strategie mit dem Angriff auf Manbidsch und Dscharablus fragwürdiger geworden. Es gibt zwei Methoden.
Endweder wird die Türkei nach dem Eingreifen in Syrien Sicherheitszonen aufbauen, die syrischen Flüchtlinge dorthin abschieben, womit sie auch den deutschen bzw. europäisch-türkischen Flüchtlingspakt einhalten könnten.
Oder die Armee übergibt die eroberten Gebiete an FSA, Al-Nusra, Ahrar al Sham und ähnliche Gruppierungen. Damit könnte Ankara die politischen Kosten in der Region geringer halten, als sie mit einer fortgesetzten und direkten Militärintervention entstehen würden. Damit könnte auch die kommende kurdische Bedrohung mittels dieser Gruppierungen auf syrischem Boden unter Kontrolle gehalten werden. Das natürlich in Absprache mit den USA: die YPG blieben im Osten des Euphrats, die FSA und anderen islamischen Gruppierung im Westen des Euphrats.
Zweite Variante klingt klüger.

Das Verhältnis zu Russland und zu Asad

Die russischen Forderungen sind ja auch noch auf der Tagesordnung. So wie es aussieht, opfern alle diese Kräfte die Kurden für ihre eigenen Interessen. In Bezug auf Asad wird die Türkei Selbstkritik leisten. Für die Türkei verschiebt sich ein Syrien ohne Asad weit in die Zukunft. Die viel größere Bedrohung für die Türkei als Asad ist die westliche Unterstützung für die Kurden. Die Türkei wird vorerst die territoriale Integrität Syriens auch mit Asad akzeptieren müssen. Gleichzeitig muss der IS in der Türkei und in Syrien intensiv bekämpft werden. Auch das ist nicht ganz so einfach. Denn die Putschisten im Land sind immer noch eine große Gefahr. Und wie sicher sind überhaupt die Grenzen? Wie stark ist der IS tatsächlich auf türkischem Boden organisiert? Wie groß sind die IS-Anhängerzahlen in Lande? Welche Waffen besitzen sie? All diese Fragen sind noch offen. Solange das so ist, bleibt die Türkei ein Kandidat für Chaos und Krieg. So oder so macht das Engagement in Syrien die Türkei nicht zum Gewinner, sondern Ankara geht gegenüber den USA und Russland als Verlierer hervor.

Zusammenfassung
1-Der Putschversuch in der Türkei war weder legitim noch gerecht. Genauso wenig ist das militärische Vorgehen der Regierung gegenüber den Kurden legitim noch gerecht. Wenn die Türkei ihre regionale Macht konsolidieren will, muss sie in der Lage sein mit friedlichen Methoden einen gerechten Frieden mit den Kurden zu erzielen.

2-Die Regierung muss aufhören die Kurden, Aleviten, Säkulare und die linken Kräften als eine Gefahr für das Land zu sehen. Nicht jeder Linke und oder Säkulare ist eine prowestliche Geheimorganisation. Millionen von Kurden sind keine Terroristen und deren inhaftierter Führer, welcher Gesprächspartner während des Dialogprozesses war, ist kein Terrorist.

3-Die Linken, Säkularen und die kurdische Bewegung müssen mit der klassischen traditionellen Politik brechen, egal aus welchen politischen und ideologischen Welten sie kommen. Sie müssen sich an die unteren und mittleren Klassen richten und sich den Islamophoben aus dem Westen, die Daesch als Vorwand benutzen, in den Weg stellen. Andernfalls werden sie weder gegen die Putschisten noch gegen ihre Gegner die Straßen betreten können, und wären somit weiterhin total isoliert.

4-Sich gegen den IS auf eine bestimmte militärische Seite zu schlagen und gleichzeitig gegen den Imperialismus zu sein, geht nicht. Weder in der Front der Koalitionskräfte noch unter Führung Asads ist Antiimperialismus möglich. Eine politische Lösung in Syrien zu

5-unterstützen heißt zuerst, Daesch zu bekämpfen, aber eben auch den Sunniten zuzuhören und zu versuchen deren Forderungen Geltung zu verschaffen.

6-Weder Daesch, noch Assad, noch die militärische Einmischungen der Großmächte (von den USA über Deutschland, Russland, Iran bis zur Türkei) in Syrien sind legitim. Eine Übereinkunft der oben genannten Mächte über den syrischen Bürgerkrieg kann nur begrüßt werden, wenn tatsächlich die Bombardierung gestoppt wird und es zu einer gerechten und friedlichen Lösung des Konfliktes führt.

7-Wenn der ganze Konflikt mit einem Massaker an den Kurden endet, dann müssen diejenigen die Verantwortung tragen, die in Washington, Brüssel, Moskau und Genf sitzen.