Auch ein toter Russ‘ ist kein guter Russ‘

22.03.2022
Von T. Kojic
Aufgrund der Aggression gegen die Ukraine hat der Westen über Russland sehr harte Sanktionen verhängt, die Präsident Wladimir Putin zurecht mit einer Kriegserklärung vergleicht. Die Strafmaßnahmen mögen den Kreml zum Einlenken zwingen, aber vor allem schüren sie die Russophobie. Der Westen kritisierte Putin scharf, als er sagte, dass wenn das so weitergehe, der Ukraine der Verlust ihrer Staatlichkeit drohe und tappte in die gleiche gefährliche nihilistische Falle, die versucht, die russische Kultur und denjenigen Teil davon, der der ganzen Welt gehört – das Erbe der russischen Kunst und Kultur, mit einem Stempel zu versehen. Auch sie ist nun offenbar Werkzeug des Krieges geworden.

Die Universität Mailand-Bicocca hat Vorlesungen über den berühmten russischen Schriftsteller und Philosophen Fjodor Michailowitsch Dostojewski abgesagt, „weil der Kurs Kontroversen hervorrufen könnte“. Professor Paolo Nori, der den Kurs leiten sollte, war empört: "Heute ist es in Italien nicht nur ein Fehler, ein lebender Russe zu sein, sondern auch ein toter Russe."
 
Kultur und Kunst sind das Erbe aller. Die Aussetzung des Literaturkurses über den großen russischen Schriftsteller Dostojewski ist ein ungerechtfertigter Akt der Provokation. Es ist, als hätten wir Luigi Pirandello verboten, weil er ein Faschist war oder in Österreich Heimito von Doderer. Dürfen wir Platon nicht mehr lesen, weil er sich in seiner Politeia negativ zur Demokratie äußerte?
 
Verschiedene kulturelle Institutionen des „Wertewestens“ forderten, dass sich russische Künstler klar von „Putins Krieg“ distanzieren. Manche wollten das nicht (Waleri Abissalowitsch Gergijew), andere wandten sich in ihrem Instagram-Profil gegen den Krieg, aber nicht dezidiert gegen Putin (Anna Jurjewna Netrebko).
 
Es ist ihre persönliche Entscheidung, wie sie sich positionieren. Aber worin besteht der Zusammenhang zwischen der Unterstützung Putins und der Sanktionierung von Pjotr Iljitsch Tschaikowski? Und genau das geschah in der „Vatroslav Lisinski“-Konzerthalle in Zagreb. Seine drei geplanten Kompositionen wurden durch eine Streicheradaption eines amerikanischen Komponisten und durch das Allegretto aus Beethovens 7. Symphonie ersetzt. Die Polnische Nationaloper hat auf die Aufführung der Oper „Boris Godunow“ des großen russischen Komponisten Modest Petrowitsch Mussorgski „aus Solidarität mit den Menschen in der Ukraine“ verzichtet. Der russische Dirigent Tugan Sohiev, Chefdirigent am Moskauer Bolschoi-Theater und Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole in Toulouse, verließ das Orchester in Toulouse, nachdem die Franzosen ihn gebeten hatten, „eine kulturelle Tradition zu wählen“ und Putins Aggression zu verurteilen. Eine kulturelle Tradition? Welche? Die westliche etwa? Anschließend trat er als künstlerischer Leiter des Bolschoi-Theaters zurück: "Bald werde ich aufgefordert, zwischen Tschaikowski, Strawinski, Schostakowitsch und Beethoven, Brahms, Debussy zu wählen. Dies geschieht bereits in Polen, einem europäischen Land, in dem russische Musik verboten ist“, so Sokhiev.
 
Vielleicht träumt Putin davon, das Land von Peter dem Großen wieder aufzubauen, und es ist möglich, dass er die Unterstützung der Mehrheit der russischen Bevölkerung hat. Seine Aggression kann man verurteilen und auch Sanktionen einführen, aber Dostojewski und Tschaikowski in den Krieg zwischen Russland und der Ukraine einzubeziehen, ist absurd. Auch das Verbot, russischen Wodka in den USA einzuführen, der jedoch in Litauen hergestellt worden war, ist absurd. Und auch westliche Katzenzüchter dürfen aufatmen: Die russischen Katzen dürfen aufgrund des Beschlusses der International Federation of Cat Breeders (Fife) bei internationalen Wettbewerben nicht mehr teilnehmen, sofern sie in Russland gezüchtet wurden.
 
Diese Handlungsakte kann man getrost als offener Russophobie bezeichnen. Damit verzeichnete der Krieg in der Ukraine ein weiteres völlig unerwartetes Opfer: die künstlerische Freiheit und Internationalität.
 
Was für eine Banalität! Dies sind Beispiele, und es gibt noch weitere, die darauf hindeuten, dass es für den Westen höchste Zeit ist, zur Besinnung zu kommen und seine hitzigen Köpfe abzukühlen. Im Westen herrscht wohl eine Bewusstseinstrübung, die, wenn Menschen solchen „Maßnahmen“ stillschweigend zustimmen, leicht zu manipulieren und zu kontrollieren ist. Befinden wir uns auf dem Weg zur totalitären Demokratie, dem Prozess, den George W. Bush dadurch einläutete, dass er durch die Abschaffung essentieller Menschenrechte den „Krieg gegen den Terror“ begann?
 
Man fühlt sich in die dunklen Zeiten des Mittelalters zurückgebeamt, als auch die Katzen verfolgt wurden. Erst 1817 wurden im flämischen Ypern die letzten Katzen vom Turm auf das Pflaster geworfen, diese Tradition hielt 1.000 Jahre lang.
 
Aber dieser Krieg wird hoffentlich bald enden. Wahrscheinlich wird es für die Ukraine ein ungünstiges Friedensabkommen geben. Kiew muss akzeptieren, dass Putin seine beiden östlichen Enklaven kontrolliert, der Status quo um die Krim wird aufrechterhalten werden und die Ukraine muss sich entschieden verpflichten, der NATO nicht beizutreten. Dann werden die russischen Truppen abziehen, die westlichen Sanktionen gegen Russland werden langsam aufgehoben und russische Rassekatzen dürfen ihren Stammbaum wieder mit westlichen Rassekatzen erweitern.
 
Tatjana Kojic, Übersetzerin, Wien