Die Eurokrise und ihre Verlierer

14.12.2012
Die Mittelschicht und die neuen Unterschichten
Von A.F.Reiterer
Die Mittelschicht, so schreiben auch Linke, sei die Verliererin in der Euro-Krise der letzten Jahre. Stimmt dies wirklich?

Man muss sorgfältig hinschauen. Die Mittelschicht ist ganz und gar keine Einheit mehr und wird durch die Eurokrise und die Verschuldung noch stärker auseinander dividiert, als sie es ohnehin schon ist. Das gilt auch dann, wenn wir in einer halbwegs sorgfältigen Art nicht etwa die fast 80 % der Menschen, die sich selbst der „Mittelschicht“ –in Anführungszeichen, weil es klassen- und schichtanalytisch wenig Sinn macht – zurechnen. Diesen Unsinn erzählt uns sogar die Arbeiterkammer und spricht zynisch von einem „breiten Mittelschicht-Begriff“. Sie hat ihre Gründe für diese Verschleierung. Nur rund die Hälfte davon kann man sozialwissenschaftlich sinnvoll hier zurechnen: auf Grund des Einkommens, des Bildungswegs, der gesicherten und nichtprekären Stellung am Arbeitsmarkt und schließlich auch des Lebensstils.

Gefährdet ist tatsächlich die Untere Mittelschicht. Das sind jene etwa 20 % der Menschen, welche im Einkommen zwischen den oberen 60 % und der 80 %-Grenze anzusiedeln sind. Und gefährdet sind vor allem die mittlere und die obere Unterschicht, vielleicht 30 % der Menschen in Österreich, die sich selbst zu gern als Mittelschicht sehen möchten. Beide Schichtverbände zusammen machen etwa die Hälfte der Bevölkerung aus. Die Untere Unterschicht zählt schon seit den 1970ern zu den Verlierern. Damals sprach man von der „Eindrittel-Gesellschaft“. Die Obere Mittelschicht, die 20 % darüber aber zählt zu den Gewinnern der derzeitigen Entwicklung. Die eigentliche Oberschicht als Hauptgewinnerin fällt zahlenmäßig mit ihren 1 % – 3 % nicht ins Gewicht.

Der obere Teil der Unterschichten und die untere Mittelschicht haben in der Nachkriegszeit, bis etwa zur Jahrtausendwende, einen bescheidenen Aufstieg durch gemacht. Über Jahrzehnte stieg der Lebensstandard langsam, aber ziemlich stetig. Das ließ die Hoffnung aufkommen, man habe die vergangenen Gespenster, die Furcht vor dem Abrutschen ins Elend oder in die Armut, endgültig überwunden. Diese breite Schicht war überall in Europa die eigentliche Stütze des politischen Systems. Selbst die Unterschichten lebten recht eigentlich aus der Hoffnung, den Aufstieg in diesen Bereich zu schaffen.

Dieser breite Schichtverband ist nun bedroht. Das lässt sich besonders an den Einkommen der Unselbständig Beschäftigten nachweisen. Die Einkommen der Selbständigen sind bekanntlich eine unsichere Angelegenheit. Das sind z. B. die „neuen Selbständigen“ enthalten, die z. T. einfach keine Arbeit bekommen. Und dann gibt es die „Gestaltungsmöglichkeit“ bei der Steuererklärung… Aber die, wie es so zynisch heißt, „Einkommensspreitzung“ ist auch bei den Unselbständigen sichtbar genug. Sehen wir uns nur das letzte Jahrzehnt an! Bis zum 7. Dezil, oder weniger technisch: für die unteren 70 %, gibt es Realeinkommensverluste. Je tiefer man geht, umso stärker sind sie. Umgekehrt ist es oben. Dabei sind die wirklich happigen Einkommen gar nicht erfassbar: Die beginnen erst irgendwo bei den obersten 3 –5 Prozent.

Die aktuellste Form der Existenzbedrohung für die Unterschichten und die unteren Mittelschichten ist die Altersarmut und die Furcht davor. In der BRD ist es quasi-offizielle Doktrin: Die Pensionen müssen bis 2020 auf 40 % der Aktiveinkommen sinken, und bis 2030 noch ein wenig weiter. In Österreich traut man sich dies nicht öffentlich zu sagen. Doch das politische Ziel ist dasselbe. Was dies bei einem Median-Einkommen von 1.707 € netto (2010, Männer: 1.977; Frauen: 1.365 – 1/12, d. h. inklusive 13. +14. Gehalt) bedeutet, kann sogar ein rechenschwacher Grundschüler eruieren.

Aber ihr müsst eben privat Vorsorge treffen! So rufen die Zyniker des Oberen Mittelstands ihren Landsleuten zu. Bei stagnierenden oder sinkend Masseneinkommen? Wo es sich im Alltag ohnehin kaum mehr ausgehen?

Da gibt es aber noch eine Seite. Jeder Gedanke an eine gesellschaftliche Solidarität über die Schichten und über die Zeit hinweg soll erstickt und begraben werden. Jede Altersversorgung ist realwirtschaftlich ein „Umlagensystem“. Immer produzieren die Aktiven das, was die Alten und die Kinder konsumieren. Wie sollte es auch anders sein? Ich „spare“ ja schließlich nicht ein Packerl Milch heute und trinke es dann in 5 Jahren. Es kommt nur darauf an, wie ich meinen Anspruch für 5 Jahre später erwerbe: durch Pensionszahlung in die Sozialversicherung oder durch ein Sparbuch.

Und da wollen die radikalen Neoliberalen, die Konservativen, die ideologische Auflösung jenes Bandes, das Alte und Junge, oder auch weniger und ein bisschen besser Gestellte zusammen hält. „Kapital-Deckung“ und Ansparen: Damit soll die Illusion geweckt werden, als ob jeder Einzelne das bereit legte, was er Jahre später verbraucht. Es soll auf eine radikale Vereinzelung hinaus laufen. Jede Idee einer gemeinsamen Verantwortung soll verschwinden – in einer Gesellschaft, deren hohe Produktivität ausschließlich auf der dichten Vernetzung Aller beruht.

Das Hauptziel bilden die Unterschichten. Aber der Charakter und die Ausdehnung der Unterschichten werden langsam erweitert. Die bisherige untere Mittelschicht wird einbezogen. Somit sind wir also wieder bei der Mittelschicht. Ihr unterer Teil wird tendenziell ein Teil des nun sehr breiten Unterschichtverbands. Sein wichtigstes Kennzeichen war stets ein fühlbares Ausmaß an Prekarietät, an Unsicherheit. Das schien in der Nachkriegszeit für einige Jahrzehnte fast vorbei. Daher rührt ja auch die Mittelschicht-Illusion: fast die ganze Bevölkerung – außer denen ganz oben – zählte sich zur Mittelschicht. Nun aber kommt das Gefühl der Unsicherheit mit Macht wieder, und nicht zuletzt in den unteren Mittelschichten. Nicht wenige machen am Anfang ihres Berufslebens die Erfahrung des Prekariats und der Unsicherheit. Das prägt für ein ganzes Leben.

Die übernationale Bürokratie scheint sich ganz gut damit abzufinden. Die Unterschicht ist für sie verloren. Die kann man aber in Zaum halten; heutzutage organisieren sie sich ohnehin nicht. Die unten halten noch immer die Sozialdemokratie für Linke. Für sie ist daher Alles, was sich links nennt, wenig attraktiv. Alles wenden sie sich um Hilfe nach rechts – an die Straches etc. Und denen gegenüber hat ein Elitenmensch sowieso keine Skrupel; die und mit ihnen die plebeischen Protestler kann man ausgrenzen oder, wenn man sie braucht, für eine Koalition etwa, auch benutzen.

Aber wenn die Mittelschicht unzufrieden wird, dann wird es kritisch.
Die Bürokratie soll einerseits das reparieren, was sie sozio-ökonomisch für ihre Oberschicht-Kundschaft verbockt. Sie betreibt daher „Armutspolitik“ und „Politik gegen soziale Ausgrenzung“ – wohlgemerkt: nicht mehr Sozialpolitik. Gleichzeitig kann und darf sie aber nicht gegen die Disziplinierung durch die Krise arbeiten. Sie sitzt daher in der Zwickmühle eines Realwiderspruchs.
Und darin liegt die Bedeutung der neueren politischen Entwicklung. Die Euro-Krise hat für alle, welche die Augen nicht absichtlich schließen, klar gestellt: Unter diesem EU-System ist jede Idee eines halbwegs gesicherten dezenten Lebens für die große Mehrheit ein Lotto-Spiel. Es kann gelingen, aber es kann genauso gut auch daneben gehen. Da hat man als Mensch der Mittelklasse zwei Möglichkeiten: Man kann sein Glück in der Tretmühle versuchen. Im Zentrum versuchen dies auch die meisten, vor allem die Jüngeren. Oder aber man macht Opposition und Widerstand.
Mittelschichten haben stetes dazu tendiert, sich auf die Seite der Mächtigen zu schlagen. Wohin werden sie diesmal gehen – in Griechenland, in Spanien und Portugal, in Österreich?

12. Dezember 2012