Offener Brief an die Israelitische Kultusgemeinde

11.12.2001

Wien, 5. Dezember 2001

An die
Redaktion des Organs der Israelitischen Kultusgemeinde "Die Gemeinde"
Seitenstettengasse 4
Postfach 145
1010 Wien

Betrifft: Leserbrief zur Beilage "Newsletter des Forums gegen Antisemitismus"

Wien, den 5. Dezember 2001

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Zuge der Lektüre der dem Organ der Israelitischen Kultusgemeinde beigelegten Newsletter des Forums gegen Antisemitismus (Oktoberausgabe) mussten wir leider feststellen, dass in der Aufzählung antisemitischer Akte Kurzberichte über unser Engagement für die Beendigung der militärischen Besatzung der palästinensischen Gebiete sowie von uns verwendete Symbole kommentarlos und in einem Zuge mit größtenteils rechtsextremistischen Gewaltakten gegen jüdische Menschen und Einrichtungen genannt werden. Daraus ist zu schließen, und das soll offenbar auch der Leserin/dem Leser suggeriert werden, dass besagtes Engagement von Ihrem Organ als antisemitisch betrachtet wird.

Wir nehmen diese Beurteilung Ihrerseits mit dem größten Bedauern und mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis. Tatsächlich sprechen wir uns mit Entschiedenheit gegen jedwede Diskriminierung von Menschen jüdischer Herkunft und/oder Religionszugehörigkeit – gemeinhin als Antisemitismus bezeichnet – aus und befürworten das gleichberechtigte Zusammenleben aller Menschen unabhängig von ihrer Religion oder Kultur. Das um so mehr, als sich auch Menschen jüdischer Herkunft an unseren Aktivitäten beteiligen.

Mit Bedauern mussten wir in diesem Zusammenhang ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass sich ihre Publikation einer Vorgangsweise bedient, die uns schlichtweg unverantwortlich erscheint. Durch die unrichtige Gleichsetzung des Judentums als Religions- und Kulturgemeinschaft mit dem Staat Israel soll jedwede Kritik an der Politik dieses Staates von vornherein als antisemitisch gebrandmarkt und so verhindert werden. Diese Vorgangsweise ist zumindest befremdlich, würde doch die Bezeichnung von kritischen Äußerungen an der Politik eines mehrheitlich von beispielweise Christen bewohnten Staates als antichristliche oder das Christentum als solches diskriminierende Aussagen durchaus mit Verwunderung aufgenommen werden.

Es ist zu befürchten, dass die Vorgangsweise Ihrer Publikation, anstatt Antisemitismus zu verhindern, im Gegenteil dazu beiträgt, die Herausbildung eines unbefangenen und vorurteilslosen Umgangs der österreichischen Bevölkerung mit dem Judentum und den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu erschweren, und zwar sowohl was das erstrebte gleichberechtigte und friedvolle Zusammenleben in der Gegenwart als auch was die Aufarbeitung der so schrecklichen Vergangenheit betrifft. Erst wenn es möglich sein wird, Jüdinnen und Juden unvoreingenommen als gleichwertige und gleichberechtigte – und das bedeutet durchaus nicht über jede Kritik erhabene – Mitmenschen zu begreifen, erst wenn Jüdinnen und Juden selbst die Differenzierung zwischen dem Judentum als Religions- und Kulturgemeinschaft einerseits und dem mehrheitlich von Menschen jüdischen Glaubens bewohnten Staat Israel andererseits einfordern (und damit auch in Rechnung stellen, dass seine Politik einer kritischen Betrachtung unterzogen werden kann), wird es möglich sein, ihrer Diskriminierung, dem Antisemitismus, den Boden zu entziehen. Das bedeutet letztlich, dass die uneingeschränkte Identifikation der Kultusgemeinde mit den Interessen des Staates Israel den Interessen der Menschen jüdischer Herkunft in Österreich schadet, anstatt ihnen zu nützen.

Wir bitten Sie daher eindringlich, zur Schaffung eines vorurteilsfreien Zusammenlebens Ihren Beitrag zu leisten und sich in diesem Sinne der ehrlichen und unvoreingenommenen Diskussion rund um die politische Verantwortung des Staates Israel für das Leid von Millionen von Palästinenserinnen und Palästinensern nicht mit dem Hinweis auf Antisemitismus zu entziehen. Gestatten Sie es uns als um Gerechtigkeit und Frieden bemühten Menschen öffentlich dafür einzutreten, ohne uns den unrichtigen und rufschädigenden Vorwurf des Antisemitismus zu machen, dass ein friedliches Zusammenleben aller Menschen im Nahen Osten nur durch Anerkennung und Umsetzung der Rechte des palästinensischen Volkes möglich sein wird. In gleicher Weise wird die Bekämpfung des Antisemitismus in uns immer unermüdliche und aufrichtige Mitstreiter haben.

Mit freundlichen Grüßen,

Margarethe Gal (Opfer des Faschismus und Mitglied des KZ-Verbandes)
Für die Plattform "Freiheit für Palästina" (Organisatorin der Demonstration in Wien am 28. September anlässlich des ersten Jahrestages der Intifada)

Unterstützt von:
Antiimperialistische Koordination (AIK)
Arabischer Palästinaklub
Bewegung für soziale Befreiung (BsB)
Generalunion palästinensischer Studenten (GUPS)
Internationales Palästinakomitee
Internationales Solidaritätsforum (ISF)
Linkswende
Palästinensische Gemeinde in Österreich
Susi Jerusalem
Universalismusgruppe
Wiener Friedensbewegung