Das Gitternetz

16.03.2002

Jeff Halper - Vorsitzender des Israeli Committee against House Demolition

In Ostasien gibt es ein Spiel namens "Go" oder "Weiqi". Das Ziel bei Go ist anders als beim europäischen Schachspiel, bei dem die beiden Gegner jeweils versuchen den anderen zu besiegen indem sie die gegnerischen Figuren schlagen: Bei Go gewinnt man nicht dadurch, dass man die gegnerischen Steine vom Spielbrett nimmt, sondern dadurch, dass man den Gegner bewegungsunfähig macht indem man strategische Punkte am Spielfeld kontrolliert.
Und das ist es, was Israel mit den Palästinensern im Westjordanland, im Gasastreifen und in Ostjerusalem macht. Seit 1967 hat es einen Raster angelegt – ähnlich dem Gitternetz auf einem Go-Spielbrett –, der die palästinensische Bevölkerung praktisch bewegungsunfähig gemacht hat. Dieser Raster besteht auf mehreren Ebenen.
Der Raster
Die erste Ebene ist die physische Kontrolle über alle wichtigen Punkte, von denen das Gitternetz gespannt wird: Siedlungen und ihre großzügigen "Flächenwidmungspläne"; ein dichtes Netz aus Autobahnen und Umfahrungsstraßen (flankiert von breiten "Sicherheitsstreifen"); Militärstützpunkte und Industriezonen an Schlüsselstellen; militärische Sperrgebiete; "Naturschutzgebiete"; Kontrolle über die Wasserversorgung und andere natürliche Ressourcen; Straßensperren innerhalb der besetzten Gebiete und Kontrolle aller Grenzen zu Israel; Einteilung in Zonen (A, B, C, D, H-1, H-2); israelische Kontrolle über heilige Stätten an Schlüsselstellen, und so fort. Das sind die Punkte und Linien, welche die Palästinenser in kleine Enklaven verbannen und diese von einander trennen. Das sind die Maßnahmen, die Israel die Kontrolle über das Land ermöglichen.
Bürokratie
Die zweite Ebene ist ein Netzwerk aus Bürokratie und "Recht" – die Projekte, Pläne, Verordnungen und Genehmigungen, welche die palästinensische Bevölkerung in ein engmaschiges Netz einspinnen. Dazu zählen Flächenwidmungspläne, die Land "für landwirtschaftliche Nutzung" definieren um die natürliche Entwicklung von Dörfern und Städten zu verhindern; ein politisch motiviertes System der Vergabe von Baugenehmigungen – das mittels Zerstörung von Häusern durchgesetzt wird – um die Bevölkerung in den engen Enklaven gefangen zu halten; Enteignungen von Land für (rein israelische) "öffentliche Vorhaben"; Einschränkungen und großflächige Zerstörungen der palästinensischen Landwirtschaft; Lizenzen und Kontrollen über palästinensische Unternehmen; Belagerungen; Einschränkung der Bewegungs- und Reisefreiheiten und so fort. Obwohl Israel sehr darauf bedacht ist, diese Maßnahmen als "legal" darzustellen, sind sie es tatsächlich nicht. Israel enthält den Palästinensern grundlegende Menschenrechte gemäß der Genfer Konventionen und anderer internationaler Abkommen – die Israel unterzeichnet hat – vor, und das ist ganz klar ungesetzlich. Die israelischen Gerichte, die grundsätzlich immer gegen die Palästinenser urteilen, um die lokale Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, sind eine Travestie von Recht und Gerechtigkeit. All dies dient dazu die Palästinenser auf isolierte, kleinste Gebiete zu beschränken, ihre Mobilität zu kontrollieren und die israelische Hegemonie aufrecht zu erhalten.
Militär
Die dritte Ebene des Rasters ist der Einsatz von Gewalt um die Kontrolle aufrecht zu erhalten: die militärische Besatzung an sich, mit allem was dazu gehört – volle Gefängnisse und systematische Folter; ein ausgedehntes Netz von Kollaborateuren um die lokale Bevölkerung zu beherrschen; Druck auf Familien damit sie Land verkaufen; die undemokratische und willkürliche Gewaltherrschaft des Militärkommandanten des Westjordanlands und des Gasastreifens sowie die israelische Zivilverwaltung. Was davon der israelischen Bevölkerung bekannt ist, wird unter dem Titel "Sicherheit" gerechtfertigt.
"Frieden"
Der durchschnittliche Israeli hat keine Vorstellung von diesem Netzwerk, und daher bedeutet "Frieden" für die meisten Israelis, das Minimum an Territorium aufzugeben, das die Palästinenser "zufrieden stellt" und Schuss macht mit dem "Terrorismus". Die Palästinenser haben sich in hohem Maß an dieses Netzwerk angepasst und sind sich seiner bewusst, da sie bei jeder Bewegung an die Grenzen stoßen, das es ihnen auferlegt. Um es zu überwinden, müssen sie es als umfassendes System der Kontrolle und Herrschaft verstehen. Netanjahu hat sein "feilschen" um jedes Prozent des Territoriums oft damit gerechtfertigt, dass nur ein Prozent der Fläche des Westjordanlandes der Größe von Tel-Aviv entspricht. Die Palästinenser müssen verstehen, dass sie vielleicht 99 Prozent der besetzten Gebiete von Israel überlassen bekommen und es dennoch nicht gelingt, das Netzwerk der Herrschaft und Kontrolle zu zerstören. Selbst eine Fläche in der Größe von Tel-Aviv, aufgeteilt auf zehn oder zwanzig Kontrollpunkte, würde den palästinensischen Staat seiner Lebensfähigkeit berauben. Nicht allein die Fläche ist entscheidend – obwohl ein zusammenhängendes Gebiet die Grundvoraussetzung für einen lebensfähigen Staat ist -, sondern die Beseitigung der Punkte, an denen das Netzwerk der Kontrolle aufgespannt ist, ist ebenso unerlässlich.
Siedlungen
Die Struktur und die Funktionsweise des Netzwerks ist äußerst subtil, und man muss eine genaue Analyse durchführen um es zu beseitigen. Einige Kontrollpunkte sind ganz offensichtlich. Die Siedlung Ma´aleh Adumim spielt eine wichtige Rolle um ein "Großjerusalem" zu schaffen und den territorialen Zusammenhang zu unterbinden. Die Zone E-1 umfasst dreizehn Quadratkilometer, die Israel nach den Wahlen annektiert hat um Ma´aleh Adumim an Jerusalem anzuschließen. Unter den verschiedenen Projekten, mit denen Israel die "Lücke" schließen will, sind u. a. zehn Hotels, Tourismus-Einrichtungen, ein Unterhaltungs- und Sportzentrum, Bürogebäude, eine Erweiterung der Hebräischen Universität, Industrieparks, ein Parkhaus für das Busunternehmen Eged, eine Müllverbrennungsanlage, ein Friedhof und 1.500 Wohnungen für Israelis, mit guten Verbindungen nach Jerusalem, Modi´in und Tel-Aviv über voll ausgebaute Autobahnen. "Großjerusalem", das von Modi´in und Giv´at Se´ev im Westen im Westen bis fast an den Jordan im Osten reichen soll, zerschneidet das Westjordanland in zwei Teile. Darüber hinaus laufen die israelischen Straßen, die im Westjordanland gebaut wurden, in Ma´aleh Adumim zusammen. Israel muss Ma´aleh Adumim nur zum "militärischen Sperrgebiet" erklären, wie es in der Vergangenheit bereits mehrmals geschehen ist, und kann so den Verkehr im Westjordanland und Ostjerusalem zum Erliegen bringen. Selbst wenn die Palästinenser die Kontrolle über das Gebiet rundherum erhalten, kann das Netzwerk der Kontrolle mit dieser einen Siedlung aufrecht erhalten werden.
Als Kontrollpunkte sind die Siedlungen tatsächlich von entscheidender Bedeutung nicht nur wegen der Fläche, die sie tatsächlich einnehmen, sondern auf Grund der Herrschaftsmechanismen, die sie umgeben. Die Siedlungen machen nur 1,5 Prozent des Westjordanlandes aus, aber die Flächenwidmungspläne weisen ihnen über sechs Prozent zu – wenn man Großjerusalem dazurechnet, sind es 15 bis 20 Prozent. Jede Siedlung bringt eine Infrastruktur aus Straßen, Industriegebieten, militärischen Einrichtungen, "Sicherheitsmaßnahmen" wie Straßensperren usw. mit sich. Ob Siedlungen "in Blöcken zusammengefasst" oder winzig-isoliert – aber an strategischer Stelle gelegen – sind, ist dabei nicht so wichtig: Es geht darum, jedes territoriale Zugeständnis an die Palästinenser zu neutralisieren.
Straßen
Andere Kontrollpunkte sind allerdings weniger offensichtlich. Der schmale Streifen aus Zone C (d. h. unter ziviler und militärischer Kontrolle Israels) zwischen Ramallah und Birseit, gerade breit genug für einen israelischen Militärjeep, ist ausreichend um den Verkehr in dem Gebiet zu kontrollieren. Ein schmaler Streifen unter israelischer Kontrolle zwischen Bethlehem und Beit Sahur und andere solche Zonen im ganzen Westjordanland haben eine ähnliche Funktion. Selbst die Zufahrtsstraßen sind von Bedeutung. Die israelische Straße, die um Anata gebaut wird, wird das Wachstum dieser Gemeinde unterbinden, wenn keine Zufahrt gebaut wird. Falls eine Zufahrtsstraße gebaut wird, dann kann Anata sich nach Osten und nach Süden erweitern und könnte theoretisch die Einkreisung von Jerusalem durch Pisgat Se´ev und Ma´aleh Adumim im Südosten durchbrechen, und damit die Abschottung von Ostjerusalem vom Westjordanland.
Der einzige Weg das Netzwerk der Kontrolle zu durchbrechen ist es völlig zu beseitigen (obwohl die beiden Seiten einem Stufenplan zustimmen könnten). Letztendlich bedeutet dass alle Siedlungen, Umfahrungsstraßen, Straßensperren, und andere Hindernisse, die den territorialen Zusammenhang unterbrechen und die Bewegungsfreiheit einschränken, von den palästinensischen Gebieten zu entfernen. Das bedeutet vollständige Kontrolle über die Grenzübergänge zu den arabischen Staaten, die Aufhebung der israelischen Belagerung und normale, d. h. minimale Grenzkontrollmechanismen, denen beide Seiten zustimmen. Falls irgendeine israelische Präsenz gestattet wird, muss sichergestellt sein, dass sie nicht die Fortsetzung des Netzwerks darstellt. Das Netzwerk und seine Funktion zu verstehen ist notwendig, um zu verhindern, dass der Palästinensische Staat aus Bantustans besteht. Die Palästinenser müssen eine aktive Rolle in den Verhandlungen einnehmen, ihre eigenen Forderungen stellen, ihre eigenen Karten vorlegen, ihre eigenen Verhandlungspunkte darstellen, ihre eigenen Vorstellungen – und den Hintergrund dafür muss eine genaue Analyse des hier kurz dargestellten Netzwerks sein und ein Plan, es zu beseitigen. Nur das wird den gerechten Frieden bringen, nach dem wir uns alle sehnen.

Jeff Halper ist der Vorsitzende des Israeli Committee Against House Demolition und ist verantwortlich für das Jerusalem-Projekt des Alternative Information Center