Häuserkampf in Hebron

16.03.2002

Streiflichter aus einem Gebiet, in dem die Menschenrechte für jüdische Siedler reserviert sind

Auf die Frage des israelischen Soldaten, was die Reisegruppe aus Österreichern, Deutschen und Italienern in Hebron zu suchen hätte, antwortete der palästinensische Reiseführer mit der Gegenfrage: "Was suchen Sie hier?" Er schütze sein Land, sagte der Soldat. "Ihr Land – hier in Hebron?" Ja, auch hier, das sei ein Auftrag, der sich aus der Geschichte ergebe. "Welcher Geschichte, Ihrer Geschichte?" Pathos kann historische Tatsachen nicht ersetzen. Der Soldat ahnte, dass er seinem Gegenüber nicht gewachsen sein würde, wenn er die Geschichtsdebatte weiter vertiefte. "Warum riskieren Sie Ihr Leben für diese verrückten Leute", wollte der Palästinenser wissen. "Die sind nicht verrückt." Punktum. Der Israeli beendete das Gespräch und verlangte die Ausweise.
In Hebron leben unter 130.000 Palästinensern 350 jüdische Siedler. Ausnahmsweise nicht in exklusiven Siedlungen, sondern mitten in der Stadt. Haus an Haus mit den Palästinensern. Sie kamen nicht mit dem Olivenzweig und ohne den geringsten Respekt vor den Menschen, die seit der Antike in dieser Gegend leben. Was sie hier suchen, lässt sich aus den Losungen ablesen, die sie auf ausnahmslos alle Geschäftsportale gesprayt haben: "Araber raus". Oder: "Tod den Arabern". Darunter der Davidstern. Wer die Pogromforderungen abwäscht, wird von den Besatzerbehörden wegen Beleidigung religiöser Symbole belangt.
Ihren besonderen Status, im Hebron-Abkommen fixiert, erhielt die Stadt wegen ihrer religiösen Bedeutung. Abraham, Isaak und Jakob, sowie Sara, Rebekka und Lea sollen hier begraben liegen. Doch ist Abraham nicht nur den Juden heilig, sondern den Gläubigen aller drei im Nahost-Raum entstandenen Weltreligionen. Nach ihm – Ibrahim – ist die größte Moschee in Hebron benannt. Sie wurde 1994 zum Schauplatz eines grässlichen Massakers. Der zionistische Extremist Goldstein mähte mit einer Maschinenpistole mehr als 30 Muslime nieder, die sich zum Freitagsgebet versammelt hatten. Die Flüchtenden gerieten in den Kugelhagel der israelischen Armee. Goldstein wurde nach dem Massenmord gelyncht. Siedler errichteten ihm ein Denkmal. Und der Staat Israel sicherte den Siedlern ein Bleiberecht in einer Stadt, deren arabische Bevölkerung sie vertreiben wollen. Haus um Haus soll Hebron erobert werden.
Der ganz alltägliche Terror
Eine weitere Konsequenz, die die israelischen Behörden aus dem Massenmord zogen, war die Umwidmung der Hälfte der Moschee in eine Synagoge. An einen interkonfessionellen Dialog war dabei nicht gedacht. Allahs Allmacht stößt auf eine Mauer, hinter der das Reich Jehovas beginnt. Der Weg zur Synagoge erfolgt über einen weiträumigen Platz, der Zugang zur Moschee über enge, zum Teil von Siedlern bewohnte Gassen. Als hätte jemand die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, dass kein Moscheegänger dem nächsten Massaker entkommt. Die Palästinenser meinen zu wissen, dass das von Goldstein angerichtete Blutbad nicht die Tat eines psychopathischen Einzelgängers gewesen sei, sondern ein präzis geplantes Mordkomplott. In ihrem Buch "Der Hass ist grenzenlos" geht die israelische Rechtsanwältin Felicia Langer ausführlich auf Verlaufsform und Hintergrund dieses Verbrechens ein.
Auf der Straße gegenüber der Gebetsstätte mit geteiltem Himmel sahen wir palästinensische Jungs Fußball spielen. Ein Besatzungssoldat mimte den Trainer, was bei den Straßenkindern eine Mischung aus Verlegenheit und Stolz auslöste. Magie des Fußballs. Doch nicht immer erfüllt der Straßenkick eine völkerverbindende Funktion. Einen Monat zuvor war in Hebron einem Zehnjährigen in den Fuß geschossen worden, nachdem er der Forderung eines Soldaten, ihm den Ball zuzuspielen, nicht nachgekommen war.
Die Atmosphäre in Hebron war gespenstisch, die latente Provokation auf Schritt und Tritt spürbar. Arafats Polizei, falls vorhanden, hatte sich unsichtbar gemacht. Oder sie ließ sich von der israelischen Armee vertreten. Obwohl nicht den Zonen B und C – Gebiete unter israelischer Militärhoheit – zugeteilt, ist über Hebron de facto eine israelische Militärdiktatur verhängt worden. Und doch hat der Staat Israel einen Teil des Gewaltmonopols abgegeben – an die Siedler. Deren männlicher Nachwuchs flaniert ungeniert mit kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen durch die Straßen. Das sind Kinder der Postmoderne, die in nichts an den Typus des Thoraschülers erinnern. Ein Großteil der Hebron-Siedler stammt aus den USA. So treten sie auch auf. Echt cool. Im fetzigen Look und mit der Sensibilität von Cowboys im Indianerland. Ohne das geringste Gespür für den kulturellen Kontext dieser Region. Es der autochthonen Bevölkerung niemals verzeihend, dass sie sich nach der Ankunft der Kinder Israels nicht in Luft aufgelöst hatte. Verglichen damit ist Rambo ein Gentleman.
Die Mehrheit der Israelis mag die Siedler nicht, vor allem nicht die ideologisch Besessenen, die sich aus Lust an der Provokation in Hebron niedergelassen haben. Wer weiß, ob der israelische Soldat wirklich seiner persönlichen Meinung Ausdruck verlieh, als er behauptete, die seien nicht verrückt? Jedenfalls weiß man in Israel, dass der Oslo-Prozess, der von einer Mehrheit befürwortet worden war, in erster Linie an der Siedlerexpansion gescheitert ist.
Das Hebron-Abkommen ist ein Ergebnis der Bemühungen Netanjahus, Oslo umzudrehen, das heißt, den Palästinensern alle Wege zur Selbstbestimmung zu verbauen. Denn erst dieses Abkommen legitimierte das Siedlerunwesen. Der Likud-Politiker musste gewusst haben, dass er in Hebron einen Koffer mit Dynamit hat stehen lassen. Hebron ist die einzige große Stadt in den besetzten Gebieten, in der die militärische Präsenz Israels fortbesteht. Aus einem für die angestammte Bevölkerung nicht einsehbaren Grund. Das über die Stadt verhängte Regime entspricht dem Bedürfnis einer winzigen Minderheit. So wird den Palästinensern vorgeführt, um wie viel höher die jüdische Existenz in Palästina bewertet wird als ihre eigene.
Die ständige Erniedrigung der arabischen Bevölkerung Hebrons ist nicht bloß Mittel, sondern Zweck der israelischen Politik. Den Palästinensern soll in Permanenz das Bewusstsein einer Minderwertigkeit vermittelt werden. Israels offizielle Besiedlungspolitik entspricht exakt der rassistischen Siedlerideologie. Zwar versuchen die israelischen Eliten, vor allem die Arbeitspartei, den Eindruck zu erwecken, als wären sie Geiseln der Siedler, die sie nur deshalb gewähren ließen um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. In Wahrheit aber ist es nicht die Regierung, die den Wünschen der Siedler nachkommt. Es sind die Siedler, die die Regierungspolitik exekutieren.
Das Opfer ist immer der Täter
Nur eine Minderheit unter ihnen kommt dieser Aufgabe mit Enthusiasmus nach. Die große Mehrheit ist dem Ruf des Landes Israel (Erez Jisrael) nur deshalb gefolgt, weil ihnen die Regierung für die Ansiedlung in den besetzten Gebieten beträchtliche materielle Privilegien garantiert. Nach Hebron aber kamen die Getreuesten des Blocks der Getreuen (Gusch Emunim).
Die Siedlerhäuser zeugen weniger von Wohnkultur als von Wehrhaftigkeit. Obwohl die jüdischen Zuwanderer selten in die Lage kommen, sich wehren zu müssen. Meistens schießen sie unbedroht in der Gegend herum. Jedes dieser Häuser ist ein kleiner Militärstützpunkt. Auf den Dächern sind Gefechtsstände eingerichtet: Eine MP-Stellung, mit Tarnnetzen verhangen und von Sandsäcken umgeben. Natürlich sind diese Festungen in einer strategisch günstigen Lage postiert. Meistens auf Anhöhen, von denen aus es sich leichter zielen lässt.
Zum Beispiel auf das Haus des palästinensischen Arztes Dr. Taisir Sahdeh. Die Einschussstelle am Fenster ist noch zu sehen. Der Mediziner saß neben dem Fenster am Computer. Die Nachbarn ließen grüßen. Es war ein gezielter Mordanschlag. Den Doktor haben sie ganz besonders im Visier. Denn er hat die Stellung gehalten und sich nicht vertreiben lassen, als die Siedler den Häuserkampf eröffneten. Er ist auch geblieben, als die Armee das Dach seines Hauses zum Gefechtsstand machte. Seit damals gehen die israelischen Soldaten in seinem Haus ein und aus, die Treppen hinauf und hinunter. Auf dem Dach haben sie sich so heimisch eingerichtet, dass sie dort auch ihre Notdurft verrichten. Und wenn die Jungs gut drauf sind, richten sie den Urinstrahl auf die vor dem Haus spielenden Kinder.
Das führte zu einer Anzeige – gegen den Arzt. Dem sechsfachen Familienvater wird fahrlässiger Umgang bei der Ausübung seiner Aufsichtspflicht vorgeworfen. Indem er sich weigere auszuziehen, habe er seine Kinder einer lebensgefährlichen Situation ausgesetzt. Denn neben dem sportlichen Wettkampf zur Ermittlung des weitesten Strahls lassen die Soldaten gerne auch Sandsäcke zu Boden plumpsen. Gegen den Vater vorgebracht wurde ferner der Umstand, dass der Kinderliebe der Siedler ethnische Grenzen gesetzt sind oder anders ausgedrückt: dass deren Araberhass keine Altersunterschiede kennt.
Doktor Sahdeh hat die private Geburtenklinik, die er im oberen Stockwerk betrieb, schließen müssen. Kaum eine seiner Patientinnen wagte sich noch in diese Gegend. Auch waren nach der Militärinvasion die hygienischen Voraussetzungen für den Klinikbetrieb nicht mehr gegeben. Nachdem sie seine berufliche Existenz zerstört hatten, leiteten die Besatzungsbehörden auch noch ein Verfahren gegen den Gynäkologen ein, in dem ihm vorgeworfen wurde Injektionsnadeln aus dem städtischen Krankenhaus entwendet zu haben.
Sahdehs ungebetene Dauergäste zapfen seinen Strom an. Die Wasserleitung haben sie ihm schon das zweite Mal kaputtgemacht. Er muss das Wasser in Flaschen nach Hause bringen. Mit dem Auto transportieren darf er es nicht. Ungefähr einen Kilometer beträgt die Entfernung zu der am nächsten gelegenen Parkmöglichkeit. Denn die Straße, in der Doktor Zahdeh mit seiner Familie lebt, darf nur von Juden befahren werden.
Der palästinensische Arzt erzählt seine Geschichte über schießwütige Nachbarn und Vandalen in Uniform nicht halb so aufgeregt, wie das die Teilnehmer eines vom deutschen Reality-TV über Monate lustvoll dokumentierten sächsischen Nachbarschaftsstreits um den Maschendrahtzaun getan hatten. Für die Zeit nach der Okkupation, sagte Sahdeh, arbeite er an einer Dokumentation seines Menschenrechtsfalls, um die internationale Öffentlichkeit mit der Realität eines besetzten Landes zu konfrontieren.

Werner Pirker (Journalist in Wien)