Realistischer Frieden?

22.01.2013
Kolumbien verhandelt unter neuer lateinamerikanischer Geopolitik
Von Gernot Bodner
Mit den Friedensgesprächen zwischen der kolumbianischen Regierung Santos und der FARC-Guerilla läuft ein neuer Versuch, einen der weltweit längsten bewaffneten Konflikte zu beenden. Die wichtigste Neuheit bei diesem Versuch einer Verhandlungslösung: die veränderte lateinamerikanische Geopolitik.

Unerwartete Verhandlungsinitiative

Nach dem Scheitern des Friedensprozesses von 1998 bis 2002 unter dem konservativen Präsidenten Andrés Pastrana folgte ein bleiernes Jahrzehnt. Die kolumbianische Armee wurde bereits während der Verhandlungen in der entmilitarisierten Zone von Caguán mit US-amerikanischer Technologie und Know-How hochgerüstet. Ihre Mannschaftsstärke stieg von 168.000 zum Jahrtausendwechsel auf 235.000 aktives Personal im Jahr 2009. Spezialisierte Ausrüstung wie Hubschrauber mit Nachtsichtgeräten, Satellitenaufklärung und zuletzt auch der Einsatz von Drohnen machten das einst undurchdringliche Rückzugsgebiet der Guerillas im wenig besiedelten Dschungel des kolumianischen Südens und Ostens für die Armee durchsichtig. Aber nicht nur die gesteigerte militärische Schlagkraft war Ausdruck des Jahrzehnts einer ausschließlich militärischen Strategie des Staates. Vor allem die politischen Kräfteverhältnisse verschoben sich nach dem Scheitern der Verhandlungen unter Pastrana zu den militaristischen Teilen der Oligarchie. Alvaro Uríbe Vélez war der Präsident dieser militärischen und paramilitärischen Option, Vertreter der Interessen des ländlichen Großgrundbesitzes und auch ein würdiger Repräsentant des 2001 ausgerufenen Vernichtungskriegs gegen den Terror als vorherrschende US-Geopolitik unter US-Präsident Bush. Das Jahrzehnt des Krieges stützte sich jedoch nicht nur auf die Verschiebung in der Elite hin zu den Kriegstreibern. Auch die Stimmung in der meinungsbildenden städtischen Zivilgesellschaft schwenkte nach der gescheiterten Friedensinitiative wieder auf die militärische Lösung ein, bestärkt durch eine Reihe militärischer Erfolge gegen die FARC-Guerillas.

Umso überraschender kam die Ankündigung des vormaligen Verteidigungsministers von Uribe und seit 2010 Präsident Kolumbiens Juán Manuel Santos Ende August 2012, mit der FARC neuerlich in Friedensverhandlungen zu treten.

Wechsel von der ländlichen Oligarchie zur städtischen Elite

Alvaro Uríbe wurde immer wieder mit Silvio Berlusconi verglichen. Er trat als hemdsärmeliger Präsident auf, der sich von dem Machtklüngel der traditionellen Oberschichtfamilien absetzte. Er repräsentierte die Mafiabourgeoisie, die mit dem Kokaingeschäft seit den 1990 aufstieg. Das Drogengeschäft wird auf etwa 6 % des kolumbianischen BIP geschätzt. Es ist damit zwar nicht der dominierende Wirtschaftsfaktor. Dennoch konnte die Drogenbourgeoisie über Investitionen in Immobilien, Land und Dienstleistungen sich eine Position in der herrschenden Klasse des Landes aufbauen. Mit Uríbe war dieser neue Sektor der Oligarchie erstmals an der Macht. Die militärische Eskalation gegen die Guerillas unter Uribe erklärt sich nicht zuletzt aus den unmittelbaren Sicherheitsinteressen seines Großgrundbesitzer-Klientels. Kolumbien weist immer noch eine extrem ungleiche Landverteilung auf, mit 80 % des fruchtbaren Bodens in den Händen von 5 % der Bevölkerung, während 64 % der Landbevölkerung in Armut leben. Die unter Uríbe eskalierte Auseinandersetzung auf dem Land mit extremen Ausmaßen paramilitärischer Gewalt verstärkte die Landkonzentration weiter.

Santos dagegen kommt aus einer traditionellen Familie der kolumbianischen Oberschicht mit tiefen politischen Wurzeln in der Liberalen Parteitradition, einem Teil des jahrzehntelangen Bipartitismus des Landes. Seine Familie ist Inhaberin des Medienimperiums, das Kolumbiens größte Tageszeitung El Tiempo herausgibt. Mit Santos verlagerten sich die Kräfteverhältnisse in Kolumbiens Elite wieder zum städtischen Unternehmertum, das eine andere Interessenslage als der ländliche Großgrundbesitz vertritt. Ein Ende des bewaffneten Konflikts bedeutet die Normalisierung des Investitionsklimas, verbesserte Chancen für Kooperationen mit dem internationalen Kapital und auch die Sicherung der Integration in den lateinamerikanischen Binnenmarkt. Wie in anderen Ländern Lateinamerikas erlebt auch in Kolumbien seit 2008 der Bergbau(Kupfer, Eisenerz, Gold) einen Boom. Eine Befriedung des Landes ist Voraussetzung, dass das kolumbianische Kapital in vollem Umfang von dieser Weltmarktnachfrage profitiert.

Neues lateinamerikanisches Umfeld für eine Friedenslösung

Ein wesentlicher Hintergrund für die Neuausrichtung der kolumbianischen Politik ist die Veränderung des lateinamerikanischen Kontexts. Uribes intransigente Kriegspolitik passte zwar gut in den US-amerikanischen Antiterrorkrieg, geriet aber am Kontinent in immer stärkere Isolation. Uribe lag in einem permanenten Streit mit Venezuela, der zwar aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung nie zu einem gänzlichen Abbruch der Beziehung führte, jedoch mehrfach zum gegenseitigen Abzug der Botschafter. Zu einem Eklat mit seinem Nachbarn Ekuador führe eine Grenzverletzung, die sich Uribe 2008 während der Bombardierung eines FARC-Camps erlaubte bei der der internationale Sprecher der Guerilla, Raul Reyes, umkam. Seit damals herrschte diplomatische Eiszeit zwischen beiden Ländern.
Die bolivarianische Welle, die Lateinamerika von Venezuela ausgehend erfasst hat, führte zwar zu keiner revolutionären Wende, jedoch unterfüttert sie ideologisch ein neues Selbstbewusstsein des Kontinents, das auf ein dynamisches exportgestütztes Wirtschaftswachstum baut. Das Scheitern des imperialen Hegemoniestrebens der USA unter Bush spiegelt sich in der Integration Lateinamerikas in der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) wieder. Neben eigenständiger politischer Positionierung (etwa gegen den Putsch in Honduras 2009 und in Paraguay 2012) hat dies auch den innerkontinentalen Wirtschaftsverkehr angeregt. Uribe hatte Kolumbien von diesem Prozess gänzlich isoliert, Santos versucht eine pragmatische Wiederannäherung im Interesse jener Teile der Eilte, die nicht den Zug in eine neue Etappe kontinentaler Geopolitik versäumen wollen.

Die FARC – geschwächt aber nicht geschlagen

Die FARC mussten in der Ära Uribe empfindliche Schläge hinnehmen. Ihre wichtigsten Führer wurden in israelischem Stil gezielt getötet. Der Gründer der Guerilla, Manuel Marulanda, eine historische Persönlichkeit des revolutionären Kampfes, starb 2008 eines natürlichen Todes. Es häuften sich Anzeichen massiver Infiltration, von Verrat und Desertion.
Die Friedensverhandlungen 1998 waren das Produkt der militärischen Stärke der FARC, die damals in offener Feldschlacht mit Guerillaeinheiten bis zu Bataillonsstärke Militärstützpunkte eingenommen hatten. Das bleierne Jahrzehnt unter Uribe, mit der Potenzierung der Schlagkraft der kolumbianischen Armee, hat der Guerilla eine realistische Chance auf eine militärische Veränderung der Machtverhältnisse genommen. Eine Zerschlagung der Guerilla ist zwar nicht in Sicht. Zu tief sind ihre Wurzeln im ländlichen Kolumbien, wo das Elend ihr auch weiterhin ein breites Reservoir an Kämpfern bietet. Aber den verbliebenen Führern und Strategen der FARC ist zweifellos bewusst, dass die militärische Form des Kampfes immer weniger Aussichten auf Erfolg bietet.

Tatsächlich hat die bolivarianische Wende den Kontinent nicht destabilisiert. Im Gegenteil haben die Aufwertung der Rolle eines umverteilenden Staates und die Abkehr vom ungezügelten Neoliberalismus in vielen Gesellschaften wieder einen minimalen sozialen Zusammenhalt geschaffen, der auch den Unterklassen Identifikationsmöglichkeiten mit dem Status quo gibt. Die linke Wende am Kontinent hat daher nicht den umstürzlerischen, sondern den reformerischen und staatsorientierten Kräften den Rücken gestärkt. Auch von dieser Seite bekommen die FARC also den Druck der Verhandlungen und Konfliktbeendigung zu spüren.

Gibt es eine realistische Chance auf Frieden

Trotz des objektiv günstigen Kontextes ist ein Erfolg des Friedensprozesses keineswegs sicher. Das Motto von Präsident Santos ist ein „ernsthafter, würdiger, realistischer und effizienter Verhandlungsprozess“. Die kolumbianische Oligarchie erwartet sich eine rasche Entwaffnung der Guerilla. Über ihre Medien macht sie Druck, um den Friedenswillen in der Zivilgesellschaft auf diese Entwaffnungslinie, bar jeder Reform, zu bringen. Die Guerilla wiederum erwartet sich eine minimale Landreform und Strukturveränderungen des Staates. Eine Landreform auf Kosten des Großgrundbesitzes wäre zwar aus der Interessenslage der städtischen, unternehmerischen Elite denkbar. Aber was passiert mit den Kämpfern der FARC, wie kann die Eingliederung in das politische Leben gesichert werden, wie wird mit den paramilitärischen Verbrechen des Staates umgegangen?

Der Schock der Auslöschung der „Unión Patriotica“, jenes Versuchs der legalen politischen Beteiligung der FARC im Zuge des Friedensprozesses der 1980er Jahre, steckt der Linken noch tief in den Knochen. Eine schlichte Entwaffnung wird es mit der FARC nicht geben. Ein „Friede mit sozialer Gerechtigkeit“, wie es das Motto der Gespräche von 1998 bis 2002 war, ist mit Kolumbiens Oligarchie aber weiterhin schwer denkbar. Die neue Verhandlungsinitiative hat einflussreiche Gegner, und wenn es um substantielle Reformen geht können sie wohl immer noch mit eine Mehrheit des Establishments rechnen.
Zwar könnte ein „würdiger Frieden“ beiden Seiten Chancen bieten: dem kolumbianischen Kapital die Nutzung neuer Partnerschaften und Märkte, der FARC den Aufbau einer starken bolivarianischen Kraft mit realen Chancen im politischen Leben Kolumbiens. Dennoch, die kolumbianische Geschichte mahnt zur Skepsis.