Über Kairo und Bagdad führt der Weg nach Jerusalem

20.09.2002
Wilhelm Langtahaler
Auch die Zweite Intifada wurde vom Zionismus mit der ihm eigenen Brutalität und Menschenverachtung niedergemetzelt, so wie es dem antikolonialen Widerstand schon so oft im vergangenen Jahrhundert erging. Das unsägliche Leid und Elend der Palästinenser wird fortgesetzt, denn, wie Scharon sagt, der zionistische „Befreiungskrieg“ ist noch lange nicht abgeschlossen, Eretz Israel noch nicht etabliert. Es gibt also nicht den geringsten Anlass anzunehmen, dass das Morden an den Palästinensern aufhören könnte.

Die alttestamentarische Metapher vom Kampf David gegen Goliath wird von Israel gerne in Anspruch genommen. Die Realität ist aber genau umgekehrt. Israel ist Teil des von den USA geführten imperialistischen Weltsystems, es weiß die gesamte wirtschaftliche, politische und nicht zuletzt militärische Macht des Westens in seinem Rücken. Da die Welt sich aber nicht nach biblischen Gleichnissen dreht, hat der palästinensische David mit seinen drei Millionen auf sich allein gestellt gegen den imperialistischen Goliath nicht die geringste Siegeschance. Um so mehr ist die bloße Fortsetzung des Widerstands über ein ganzes Jahrhundert ein unerhörter Erfolg, der dem biblischen David nicht nur alle Ehre macht, sondern ihn selbst in den Schatten stellt.

Die Tatsache, dass die Palästinenser sich nicht zu Sklaven machen lassen, ihren Widerstand auch unter den widrigsten Bedingungen fortsetzen, gibt ihnen ihre überproportionale Bedeutung. Sie kämpfen gegen die rassistischste, grausamste, unmenschlichste Form des modernen Imperialismus. Der zionistische Kolonialismus ist die totale Negation des Humanismus. Die Palästinenser haben mit der Intifada der "schönen, neuen Welt" Bushs den Spiegel vorgehalten. Sie ist an ihrer Friedensfratze, die nur eine Legitimation der Apartheid war, zerbrochen. Der Funke vom Harem al Scharif hat das Lügengebäude zum Einsturz gebracht, hat der Geschichte einen entscheidenden Anstoß gegeben, hat die unlösbaren Widersprüche des US-Imperiums ans Tageslicht befördert. Mit ihrer Militärmaschine versuchen die Herren in Washington präventiv die sich überall abzeichnenden Brandherde auszudämpfen, aber jeder Krieg, den sie führen, lässt die Flammen nur noch heller auflodern.

Der palästinensische Widerstand hat also in aller erster Linie eine politische Bedeutung und der militärische Aspekt ist unter politischen Kriterien zu betrachten, denn im engen militärischen Sinn ist er zum Scheitern verurteilt.

Das entscheidende politische Problem der palästinensischen Befreiungsbewegung ist die Tatsache, dass die arabischen subalternen Klassen der umliegenden Länder politisch passiv geblieben sind. Gewiss ist der Volkszorn groß. Doch die pro-imperialistischen Regime konnten in zahmen Demonstrationen von Millionen wie in Casablanca oder Amman den Dampf ablassen. Wo immer sich jedoch unabhängiger Widerstand regt, tritt der Polizeiknüppel in Aktion. Die ägyptischen Gefängnisse sind übervoll mit politischen Häftlingen. Die wirkliche politische Stütze des Zionismus ist das Mubarak-Regime in Ägypten sowie die gesamte amerikanische Machtarchitektur im Nahen Osten. Es ist politisch viel radikaler zum Sturz der US-Diktatur am Nil aufzurufen, als eine Bombe in einem Cafà© oder Bus in Haifa zu legen.

Weder die islamische Bewegung Palästinas, noch seine Linke, geschweige denn Arafat und die Fatah haben diese Radikalität aufgebracht. Es ist zugegebener Maßen auch nicht leicht, denn dann ist die ganze finanzielle und diplomatische Unterstützung der arabischen Potentaten, die das blanke physische Überleben der Palästinenser ermöglicht, weg. Der Weg nach Jerusalem ist derzeit in Kairo blockiert. Die Bewegung, deren Galionsfigur Bin Laden geworden ist, hat die Sackgasse dieses Opportunismus an der afghanischen Niederlage hautnah zu spüren bekommen, nachdem sie sich jahrelang auf das saudiarabische Königshaus gestützt hatte. Jedoch wurde auch ihr darauffolgender Aufruf zum Dschihad gegen die arabischen Machthaber nicht befolgt, denn um die Massen in Bewegung zu setzen reicht das Spektakel der Zwillingstürme nicht aus. Dazu muss man die sozialen und politischen Interessen der Unterklassen aufgreifen, so wie es der aus der ägyptischen Gamaa al Islamiyya stammende Kaderkern gerade eben nicht zu machen bereit ist. Was Not tut, ist ein demokratischer Kampf, eine Art "demokratischer Dschihad", der im Grunde nichts anderes ist als einreligiös verkleideter Klassenkampf.

Die Kehrseite, ja der Zwilling des Militarismus ist die politische Impotenz, auf die der Opportunismus auf den Fuß folgt. Als Arafat und seine Fatah in den 70er Jahren sich noch im vollen bewaffneten Kampf befanden, führte er bereits Geheimverhandlungen mit Israel über die Bedingungen einer Zweistaatenlösung. Denn Arafat hatte anhand zahlreicher militärischer Niederlagen, angefangen von 1967 im 6-Tage-Krieg, über den Schwarzen September 1970 in Jordanien bis zur Vernichtung seiner PLO im Libanon 1982, sehr wohl begriffen, dass Israel mit militärischen Mitteln nicht beizukommen ist. Die Linke versuchte ihn gar durch spektakuläre Flugzeugentführungen zu überbieten. Politisch kündigten sie der sich auf Oslo zubewegenden PLO aber nie die Gefolgschaft auf und gingen de facto unter. In diese Lücke sprangen die Islamisten, die angesichts des kläglichen Scheitern des Arafat´schen Phantomstaates die Führung der Massen übernehmen konnten. Doch auch sie konnten das Grauen von Dschenin und das Ende der Intifada nicht verhindern, so viele Märtyrer sie auch immer hinter die grüne Linie schicken mögen. Es darf bezweifelt werden, dass sie ein adäquates politischen Mittel gegen ein Oslo II parat haben.

Man muss die historische Bedeutung Oslos richtig verstehen. Der illusionäre Frieden mit Israel war die schlimmste Niederlage, die der palästinensische Widerstand je einstecken musste. Konnte er zwar dem militärischen Druck widerstehen, so hielt man die Nationalcharta, die das einzige zu einer Lösung des Konflikts führende Ziel, nämlich einen demokratischen Staat in ganz Palästina festschreibt, aufrecht und hielt die Tradition des Widerstands und damit die Tür für eine zukünftige Befreiungsbewegung unter günstigeren Kräfteverhältnissen aufrecht. Doch mit Oslo akzeptierte die historische Führung den zionistischen Kolonialismus im vermeintlichen Austausch für einen zerstückelten und lebensunfähigen Separatstaat auf 22% des Landes. Israel wollte allerdings nicht einmal das, es akzeptiert nur Bantustans und nicht einmal da kann man sich sicher sein. Die Intifada hat den Vertrag von Oslo zerrissen und den hundertjährigen antizionistischen Befreiungskampf rehabilitiert.

Doch Israel und vielmehr noch die USA streben die Legitimierung von Bantustans durch eine "reformierte" palästinensische Führung an. Trotz der furchtbaren Kapitulationen Arafats hat er in die geforderte bedingungslose Kapitulation nicht eingewilligt. Das ist allerdings kein Grund ihn über alle Maßen zu loben, wie es Michel Warschawski, die Galionsfigur der radikalen israelischen Linken tut. (Die sogenannte Friedensbewegung kann nicht als radikal bezeichnet werden, denn sie hält die israelische Kolonialbevölkerung für den Demiurgen des Friedens. Als wirklich links können nur diejenigen bezeichnet werden, die sich auf die kolonisierte Bevölkerung als politisch-soziales Subjekt beziehen, und das haben nur eine handvoll besonders Mutiger geschafft, die dafür auch jahrelang hinter Gitter wanderten.) Ein Oslo II, egal ob es nun von Arafat oder von einer von Israel nach dem südafrikanischen Modell der Homeland-Chiefs eingesetzten Reformführung ausgehandelt wird, ist die größte politische Gefahr. Es bedarf einer politischen Front gegen diese drohende Kapitulation. Frieden ist nur auf der Basis eines demokratischen Staates möglich! Diese Botschaft in alle Welt zu schreien ist, die wichtigste Aufgabe der Solidaritätsbewegung.

Derzeit sind allerdings die Augen der Welt auf das Zweistromland gerichtet. Dort spielt sich die nächste Partie auch des palästinensischen Befreiungskampfes ab. Die arabischen Massen und insbesondere auch das palästinensische Volk verstehen sehr wohl, dass es sich um einen Krieg zur Verewigung der amerikanisch-israelischen Vorherrschaft im Nahen Osten handelt. Auch hier wieder dasselbe Problem. Gegen die amerikanische Militärmaschine ist der Irak chancenlos. Das Problem des Imperialismus ist politisch, dass nämlich ein Krieg nicht nur im Irak für die USA abermals potentiell unkontrollierbare Kräfte an die Macht bringen (wie die Nordallianz in Afghanistan), sondern das ganze imperialistische Gebäude in Nahost in sich zusammenkrachen lassen könnte. Stürzt der moderne Pharao Mubarak von Gnaden Washingtons unter der Wucht eines politischen Wutausbruchs der nach Millionen zählenden Slums von Kairo und Alexandria (der allerdings ohne politische Führung schwer zu bewerkstelligen ist), dann haben sich die USA ein Eigentor geschossen

Ein kleiner Schritt auf dem verschlungenen und dornigen Weg nach Jerusalem, um den es nun zu kämpfen gilt.