Raid Sabbah: "DER TOD IST EIN GESCHENK"

12.01.2003

Die Geschichte eines Selbstmordattentäters, Droemersche Verlagsanstalt, München 2002

Wann immer sich ein palästinensischer Selbstmordattentäter irgendwo in Israel in die Luft sprengt und dabei Zivilisten tötet, schütteln bei uns viele Leute verständnislos den Kopf, weil es tatsächlich schwer zu verstehen ist, warum jemand Zivilisten tötet und dabei den eigenen Tod in Kauf nimmt. Noch viel mehr Leute schütteln gar nicht mehr den Kopf, sondern sehen nur die "Terroristen", gegen die hart vorgegangen werden muss. Wenn jedoch bei israelischen Militäroperationen gegen vermutliche Selbstmordattentäter palästinensische Zivilisten erschossen werden, nimmt man es in Kauf, geht es doch um den "Kampf gegen den Terror".
Saids Geschichte ist ein Aufschrei gegen diese Doppelmoral. Es ist die Geschichte eines jungen Menschen, der zuviel Schreckliches erlebt hat und mit dem Rücken zur Wand steht. In wenigen Nächten im März 2002 erzählt er dem Autor Raid Sabbah seine Lebensgeschichte. Raid Sabbah gibt sie als Ich-Erzählung wieder. Diese Erzählung wird immer wieder durch Texte über die jeweilige politische Situation, in der Said lebte, ergänzt. So wird die persönliche Leidensgeschichte Saids, die wie jede Lebensgeschichte manches ausblendet, anderes in den Vordergrund rückt und den Leser emotional fordert, in den Rahmen von Tatsachen und Fakten in Palästina gestellt. Als Gesamtes vermittelt das Buch Einblicke, die zum Verständnis im Sinne von Begreifen und Verstehen von "Selbstmordattentaten" oder "Märtyreroperationen", wie viele Palästinenser sie nennen, beitragen. Vertreibung, menschliche Verluste, Erniedrigung durch die israelische Besatzungsmacht und Hoffnungslosigkeit treiben junge Menschen zum Tod durch Selbstmord, der im schiitischen Islam eine lange Tradition hat und nun auch im (sunnitischen) Palästina als Waffe gesehen wird, um einem aussichtslosen Leben in Erniedrigung und Würdelosigkeit Würde zu geben.

Said war kein besonders religiöser Mensch. Trotzdem hat er sich Anfang dieses Jahres dem Islamischen Dschihad als Kandidat für ein Selbstmordattentat zur Verfügung gestellt. Seine Tat konnte Said nicht mehr ausführen. Er starb im April 2002 in Dschenin in den Kämpfen mit israelischen Truppen.
1972 wurde er in einem kleinen Dorf bei Ramallah geboren. Er war noch ein Kleinkind, als plötzlich israelische Landvermesser das Areal der neu zu bauenden Siedlung Hadasha absteckten. Der gesamte Grund und Boden der Familie wurde enteignet. Der Grund dafür wurde ihnen von einem israelischen Beamten folgendermaßen erklärt: "Dieses Land ist jüdisches Gebiet. Es gehört uns. Das ist das biblische Judäa und Samaria. Gott hat uns hierher geführt. Wir sind immer hier gewesen. ... Jetzt kehren wir zurück und machen das fruchtbar, was ihr verkommen habt lassen." (S.71)
Said, Eltern und Geschwister wurden Flüchtlinge im eigenen Land. Sie kamen bei einem Onkel im Flüchtlingslager Dschenin unter. Dort fand Saids Vater Beschäftigung im Restaurant des Bruders. Eines Tages wurde er von einer Militärpatrouille aufgegriffen und bewusstlos geschlagen zurückgebracht. Said musste wieder einmal die Willkür und Brutalität der israelischen Staatsmacht erfahren und hilflos zusehen. "Ich verfluchte das Leben, das mir einen solchen Anblick bot..." (S.99) Der ältere Said erinnert sich an Dschenin:"Es waren Bilder von Armut und Elend. Bilder, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Sie weckten ein Bewusstsein für die Trost- und Hoffnungslosigkeit unseres in Flüchtlingslagern wie diesem zusammengepferchten Volks." (S. 92)

In der ersten Intifada stellte sich Said der israelischen Militärmaschinerie mit Steinen entgegen. Eines Tages nahm nicht nur Said sondern auch sein jüngerer Bruder Farid an einem Straßenkampf teil. Die Israelis schossen mit scharfer Munition. Die Mutter Saids wurde erschossen. Said erzählt: "Man hatte sie kaltblütig erschossen. Eine Kugel mitten in die Stirn. Und das nur, weil sie aus Sorge um ihren Jüngsten ihm hinterhergerannt war, um ihn nach Hause zu holen. Sie hatte doch mit allem, was sich hier abspielte, nichts zu tun."(S.121)

Später wurde Said ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und zu vier Jahren Haft verurteilt. Der ältere Said schildert die Details und es scheint wie ein Wunder, dass er damals überlebte und nicht gebrochen wurde. Sein Freund Muhammad wurde im Gefängnis zu Tode gefoltert.

1993 kam es zum Friedensvertrag von Oslo. Die Freude in der Familie Saids, so wie bei vielen Palästinensern, war groß. Endlich bestand Hoffung auf ein normales Leben. Said suchte Arbeit und fand sie in Israel – als ehemaliger Gefängnisinsasse ohne entsprechende Erlaubnis. Eines Tages wurde Said von einer Militärpatrouille angehalten und bewusstlos geschlagen. Im Krankenhaus von Dschenin wachte er wieder auf. So sah der Friede von Oslo aus.

Dann folgte im Herbst 2000 die zweite Intifada. Saids Vater sagte zu seinem Sohn: "Sterben ist besser, als so weiterzumachen wie bisher." (S.220) Aus Said dem Jugendlichen, der Steine warf, war ein Mann geworden, der seine Entscheidung traf. "Wir haben nichts. Weder Fahrzeuge noch Panzer, geschweige denn Flugzeuge, mit denen wir einen Krieg gegen die israelische Armee und für einen souveränen Staat führen könnten. Wir haben nur unsere Körper. Sie sind unsere einzigen Waffen."(S.241) Er ging zum Islamischen Dschihad und sagte: "Ich bin bereit."
Said starb nicht als der Märtyrer, der er sein wollte. Er starb am 2. April 2002 im Kugelhagel der israelischen Armee.

Elisabeth Lindner-Riegler