Ausbruch nach Ägypten

02.05.2008

Gazas Bevölkerung verlässt ihr Gefängnis, aus Intifada Nr. 25

Der Ausbruch von tausenden Bewohnerinnen und Bewohnern des Gazastreifens Ende Januar 2008 hat die dortige Situation kurzfristig in die Schlagzeilen der westlichen Medien gebracht. Wenige Wochen später
scheint die Sache schon wieder vergessen zu sein. Die Bevölkerung im Gazastreifen ist weiterhin eingeschlossen und ihre Lebenssituation hat sich nicht gebessert. Dennoch hat der Ausbruch für die Eingeschlossenen hohen symbolischen Wert. Die Frage ist, ob sich dadurch das politische Kräfteverhältnis verschoben hat.

Der Gazastreifen ist seit den innerpalästinensischen Kämpfen im Juni 2007 abgeriegelt. Zwar war schon in
den Jahren zuvor die Bewegungsfreiheit von Personen und Gütern in den Gazastreifen hinein und aus diesem heraus eingeschränkt und periodisch immer wieder vollkommen unterbunden worden. Nach dem Wahlsieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 wurde die Abriegelung verstärkt. Israel, die USA und die EU verhängten ein Embargo gegen Gaza. Nach den Auseinandersetzungen im Juni 2007 kam die völlige Abriegelung. Zweck dieser Blockadepolitik ist es, die Legitimität der aus den Wahlen 2006 hervorgegangen Hamas-Regierung infrage zu stellen und deren Verankerung in der Bevölkerung zu untergraben. Es begann eine beispiellose Politik der kollektiven Bestrafung von rund eineinhalb Millionen Menschen. Eine Politik der Bestrafung, die sich gegen die demokratische Willensäußerung richtet, die - nicht zu Unrecht - als Wille zur Fortführung der Intifada, des Aufstands gegen die israelische Besatzung, interpretiert wurde. Das Einfrieren der Hilfszahlungen bzw. deren spätere Auszahlung an Fatah-nahe NGOs und Lokalverwaltungen band der Hamas-Regierung die Hände und schürte den Konflikt zwischen den beiden großen Parteien, der Fatah und der Hamas. Die Versuche zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit im Frühjahr 2007 scheiterten letztendlich an den beständigen Provokationen im Gazastreifen
von Seiten bewaffneter Fatah- Einheiten unter Mohammed Dahlan, der in der Bevölkerung den Ruf eines
Kollaborateurs genießt. Das, was im Westen als putschartige Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen bezeichnet wurde, war tatsächlich nichts anderes als ein Akt der Selbstverteidigung, umso mehr als die Hamas die einzige durch demokratische Wahlen legitimierte Regierung darstellte. In diesem Sinne ist vielmehr die Ausrufung einer konkurrierenden Regierung durch Präsident Abbas als illegitim zu bezeichnen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese von Israel und dem Westen sofort anerkannt wurde.
Im Gegenteil, die Politik der Einmischung des Westens in innerpalästinensische Angelegenheiten hat
den Bürgerkrieg gefördert und damit die nationale Einheit der palästinensischen Bewegung endgültig zerstört.

Die Spitzen der Fatah um Mahmoud Abbas, die heute die Regierung in Ramallah stellen, haben das Streben
nach nationaler Selbstbestimmung hinter sich gelassen und sich praktisch in den Dienst ihrer westlichen
Verbündeten gestellt. US-amerikanische Ausbildner und Berater gewinnen im Westjordanland zusehends an
Einfluss. Angehörige anderer Organisationen als der Fatah, vor allem jener des politischen Islam, sind sowohl in ihrer Bewegungs- als auch politischen Freiheit stark eingeschränkt. Verhaftungen von Aktivistinnen und Aktivisten durch die palästinensische Polizei gehören zum Alltag. Ihr Verständnis von Demokratie stellte die Abbas-Regierung eindrucksvoll während der Nahostkonferenz im amerikanischen Annapolis unter Beweis, als Demonstrationen und Proteste im Westjordanland verboten waren. Als sie trotzdem stattfanden, wurde ein Demonstrant von der palästinensischen Polizei erschossen. Für Beobachter der palästinensischen Politik zeigen diese Entwicklungen, dass die Führungsspitze der Fatah nicht mehr als Ausdruck der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung bezeichnet werden kann, während dies durch die Symbolfigur Yassir Arafat noch gegeben war. Eine nationale Befreiungsbewegung, die alle politischen Strömungen umfasst, ist damit Geschichte, wenn auch die Basis der Fatah den Positionswechsel ihrer Führung nicht unbedingt mitträgt, sondern durchaus am Widerstand festhält. Doch auch diese keineswegs durchgängige und klare horizontale Spaltung der säkularen Kräfte in Führungsgruppe und Basis ändert nichts daran, dass der palästinensische Befreiungskampf heute
seinen Ausdruck im politischen Islam findet.

Am Rand einer humanitären Katastrophe
Im Gazastreifen hat sich seit der vollkommenen Abriegelung die humanitäre Situation rapide verschlechtert.
Die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, sauberem Wasser und Strom ist unzureichend. Der
Großteil der Bevölkerung ist von den Lebensmittellieferungen der UN-Organisationen abhängig. Bereits
einige Male wurden Schiffslieferungen der UNO von der israelischen Armee daran gehindert, den
Gazastreifen zu erreichen. Die Energieengpässe führen zu Wasserknappheit, weil für die Wasserpumpen nicht genügend Strom vorhanden ist. Da auch die Abwasserpumpen in ihrer Funktion gestört sind, verschlechtern sich die hygienischen Verhältnisse. Der Strommangel hat darüber hinaus zu einer gefährlichen Prekarisierung der Gesundheitsversorgung geführt. Viele Krankenhäuser können den Betrieb nur mithilfe von Notstromaggregaten aufrechterhalten, die jedoch nicht für den permanenten Betrieb geeignet sind und bei einer derartigen Nutzung rasch kaputt gehen. Ersatzteile müssen aus Israel bezogen werden. Falls diese dem Embargo unterliegen, besteht die Gefahr eines weitgehenden Zusammenbruchs der
medizinischen Versorgung. In direkter Folge der Abriegelung sind bisher fast hundert Menschen gestorben,
darunter einige Kinder, denen von der israelischen Armee am Grenzübergang Eretz die Überstellung
in ein israelisches Krankenhaus verweigert wurde. Die Behandlung von chronischen und therapieintensiven
Krankheiten wie Krebs kann im Gazastreifen aufgrund des Mangels an Medikamenten und Geräten nicht
mehr sichergestellt werden. Hinzu kommen die andauernden militärischen Aktionen der israelischen
Armee. Bombardierungen und gezielte Tötungen finden mit unterschiedlicher Intensität statt. Opfer
ist in hohem Maße die Zivilbevölkerung.

Der Ausbruch und seine Vorgeschichte
Zum Ausbruch der hungernden Bevölkerung aus dem Gazastreifen kam es Ende Januar, nachdem Israel die
Treibstofflieferungen in den Gazastreifen kurzfristig vollkommen unterbunden hatte. Die Stromversorgung
war dadurch praktisch zum Erliegen gekommen. Israel rechtfertigte dies mit dem Raketenbeschuss
grenznaher israelischer Städte vom Gazastreifen aus. Diesem waren jedoch massive israelische Militäroperationen im Gazastreifen voraus gegangen, denen in nur einer Woche Dutzende von Menschen zum Opfer gefallen waren. Im Zuge dieser Operationen wurden unter anderem auch das Innenministerium und die umliegenden Gebäude im Zentrum von Gaza-Stadt bombardiert. Der UN-Menschenrechtsrat verurteilte
die Blockade des Gazastreifens Ende Januar als eine dem Völkerrecht nach unzulässige Kollektivstrafe und
forderte deren Aufhebung. Als die Versorgungslage unerträglich geworden war, riss die Bevölkerung kurzerhand die Befestigungen des Grenzübergangs nach Ägypten in Rafah nieder. Innerhalb weniger Tage strömten hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser nach Ägypten, um sich dort mit dem Nötigsten zu versorgen.

Der Ausbruch und seine Folgen
Nicht zuletzt dem Druck der ägyptischen Proteste, welche die Abriegelungspolitik der eigenen Regierung
massiv verurteilten, war es zu verdanken, dass Ägypten die Bevölkerung des Gazastreifens gewähren ließ. Zwar wurde die Zufahrt zur Sinai-Halbinsel für einige Tage gesperrt, sodass es schließlich auch im ägyptischen, grenznahen Gebiet zu Versorgungsengpässen kam. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass die Masse der palästinensischen Bevölkerung nach den Einkäufen in den Gazastreifen zurückkehrte. Zweifellos kann dies dahingehend interpretiert werden, dass der Wille zur Fortführung des Widerstands weiter besteht.
Der Grenzübergang in Rafah wurde zwar wenige Tage später wieder geschlossen, dennoch war der Ausbruch in jedem Fall ein Zeichen politischer Stärke der Hamas. Sie zeigte damit nicht nur Israel und dem Westen, sondern auch innerpalästinensisch, dass ihre Verankerung in der Bevölkerung des Gazastreifens intakt ist und sie die dortigen Geschehnisse kontrolliert. Zudem gelang der Hamas damit, ihre Isolation zumindest kurzfristig zu durchbrechen. Dies kommt insbesondere in der arabischen Welt zum Tragen. Die ägyptische Regierung ist eine der wichtigsten Verbündeten des Westens im Nahen Osten. Ohne ihren
Gehorsam gegenüber den Wünschen Israels und des Westens wäre es unmöglich, den israelischen Plan,
die Hamas durch Aushungerung der Bevölkerung im Gazastreifen zu erdrosseln, durchzuführen. Durch den Druck der Ereignisse war Ägypten gezwungen, Vertreter der Hamas zu Verhandlungen zu empfangen. Dies
ist nicht nur insofern bedeutsam, als dadurch die diplomatische Isolation der Hamas aufgebrochen wurde und diese, auch gegen den eigentlichen Willen der ägyptischen Regierung, als regierende Kraft im Gazastreifen anerkannt werden musste. Darüber hinaus war es das erste Mal seit langem, dass
der politische Druck der Bevölkerung in einem arabischen Land dessen Regierung dazu zwang, pan-arabische Solidarität, und sei sie nur kurzfristig und symbolischer Natur, höher zu stellen als die Interessen der westlichen Bündnispartner. Damit ist jedoch nicht die Isolation der Hamas gegenüber dem Westen gebrochen. Dieser erkennt weiterhin einzig die im Juni 2007 in Ramallah ausgerufene Fatah-Regierung als legitim an. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund die Plenardebatte, die am 21. Februar 2008 im Europäischen Parlament stattgefunden hat. Laut Pressebericht (1) bezeichnet das Europaparlament die Politik der Isolierung des Gazastreifens als gescheitert und fordert die Aufhebung der
Blockade. Dass diese Linie im Machtgefüge weder der EU noch der westlichen Gemeinschaft Einfluss hat, ist, nebenbei bemerkt, ein trauriger Beweis für die Machtlosigkeit des einzigen demokratisch legitimierten Gremiums der EU.

Gaza und der Nahe Osten
Neben den politischen Entwicklungen in Palästina selbst hat die Lage im Gazastreifen auch für den gesamten Nahen Osten Bedeutung. Fieberhafte Bemühungen der Abbas-Regierung, der USA und ihrer Verbündeten im Nahen Osten, eine Lösung zu finden, die der palästinensischen Bevölkerung und jener der arabischen Länder als gangbarer Weg zu einem "Palästinenserstaat" glaubhaft gemacht werden kann, deuten auf den Zeitdruck hin, unter dem diese Mächte stehen. Tatsächlich scheint die Angst vor dem Erstarken einer "Konstellation des Widerstands" im Nahen Osten unter der Führung des Iran und mit starken antiwestlichen Kräften, neben Syrien, im Libanon und in Gaza nicht nur für die USA und Israel ein Schreckgespenst zu sein, sondern auch für pro-westliche arabische Regimes wie Jordanien und Saudi-Arabien. Wie kürzlich der jordanische König Abdallah vor einer Delegation von Europaparlamentariern feststellte, gehe die Tragweite der Palästina- Frage weit über dessen Grenzen hinaus und betreffe den Libanon, Syrien und den Iran. Der Konflikt spiele sich zwischen moderaten und extremistischen Kräften ab. Ein Scheitern wäre schrecklich. (2)

Margarethe Berger
(1) Europäisches Parlament: Pressebericht zur Abstimmung - Plenarsitzung vom 21. Februar 2008 in
Strassburg, http://www.europarl. de/presse/pressemitteilungen/quartal2008_ 1/PM_080221_1c
(2) Le Monde, 21. Februar 2008