Die Angst des Westens vor dem Kopftuch

14.03.2004

Anfang Februar beschloss die französische Nationalversammlung das Verbot des Tragens "auffälliger religiöser Symbole" in der Schule. Wichtigstes Zielobjekt ist das islamische Kopftuch, auch wenn das Gesetz christliche Kreuze, die eine gewisse Größe überschreiten, sowie die jüdische Kippa ebenso betrifft. Im Herbst vergangenen Jahres klagte eine deutsche Lehrerin afghanischer Herkunft vor dem Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe, weil ihr das Ausüben ihres Berufes mit Kopftuch untersagt worden war. Dies sind die medial diskutierten Spitzen einer Kampagne, die in ganz Europa in unterschiedlicher Stärke gegen das islamische Kopftuch geführt wird.
Dabei sind die Allianzen bemerkenswert. Die Front der Kopftuchgegner verläuft von Feministinnen bis hin zu konservativen christlichen Kräften, von Laizisten bis zu moderaten, um Integration bemühten muslimischen Organisationen. Insbesondere in Frankreich schließt sie fast die gesamte traditionelle Linke ein. Als Grundlage dieser oft seltsamen Allianzen wird im deutschsprachigen Raum ein demokratisch-christlicher Kulturkonsens bemüht. In Frankreich ist hingegen von den republikanisch-laizistischen Grundlagen des Staates die Rede. Der Unterschied liegt in Nuancen. Was die Kopftuchgegner vereint, ist die Angst vor diesem Stück Stoff und die Bekenntnis zur Verteidigung der abendländischen Gesellschaft, deren Grundfesten durch das exotische Kleidungsstück bedroht sein würden. Den Kopftuchjägern und meist auch jenen, die ein Verbot zugunsten milderer Formen der Integration ablehnen, geht es im Grunde um die Verteidigung der politischen Systeme des Westens. Das ist der tatsächliche Konsens, der jenseits unterschiedlicher politischer und kultureller Traditionen, jenseits von wohlwollend bis chic-radikalen Formen der Gesellschaftskritik, jenseits von mehr oder weniger seriösen Analysen des Phänomens die Streiter vereint.
Zur Herstellung dieses Konsenses wird in den Medien eine Gegenüberstellung von Werten produziert, die auf der einen Seite Laizismus, Frauengleichberechtigung und Demokratie, auf der anderen religiösen Fanatismus, Frauenunterdrückung und islamisch-fundamentalistische Diktatur wähnt. Westliche Aufklärung gegen islamische Barbarei. Dieses Paradigma ist kein unbekanntes. Es ist jenes, das seit einigen Jahren zu Legitimationszwecken des westlichen Feldzugs gegen den Islam, zur Konsensbildung für die Kriege gegen Afghanistan und gegen den Irak herhalten muss. Die Kampagne gegen das Kopftuch ist Teil des Kulturkampfes des Westens gegen den Rest der Welt, da dieser aufgrund der historischen Niederlage der Linken in den letzten Jahren verstärkt im Islam ein Instrument seines Widerstands gegen die westliche politisch-militärische Vorherrschaft und ökonomische Ausblutung gefunden hat. Vom Westen in Legitimationsinstrumente seiner Aggression und Unterdrückung verwandelt, konnten die bislang als einzig fortschrittlich wahrgenommenen westlich-aufklärerischen Muster den neuen Widerstandsformen nicht als Grundlage dienen.
Die Tatsache, dass in islamisch-religiöse Formen kanalisierte anti-westliche Ressentiments durch die massive muslimische Immigration ihre Spuren auch in Europa fühlbar werden lassen könnten, hat die Hysterie der Staatshüter auf den Plan gerufen. Gegen wen wird zuerst hingeschlagen? Gegen das im Alltagsleben und Straßenbild auffälligste Symbol der muslimischen Andersartigkeit – das Kopftuch, das sich dem westlichen Mythos des freien und aufgeklärten Individuums so beharrlich verweigern zu wollen scheint. Doch sind die Individuen nicht willig, sich dem liberalen Konsens zu unterwerfen, so hat dieser im Interesse des Machterhalts das Recht Gewalt zu gebrauchen. Im Ernstfall muss er dafür auch seine eigenen demokratischen Grundlagen außer Kraft setzen. Das Prinzip der Religionsfreiheit, der Schutz kultureller Identität, die Verteidigung diskriminierter Minderheiten und die Förderung von benachteiligten Frauen und Mädchen – alles Aspekte des herrschenden demokratischen Konsenses – sind zweitrangig vor dem Schutz der politisch-kulturellen Hegemonie.
Feministische Vorkämpferinnen für westliche Werte
Paradox mag es anmuten, dass in diesem Feldzug, der sich letztendlich gegen Frauen aus den diskriminiertesten Schichten richtet, ausgerechnet die Feministinnen der klassischen Schule zu den erbittersten Vorkämpferinnen zählen. Doch es ist nicht paradox, denn längst hat dieser Feminismus jeden Anspruch auf Systemgegnerschaft aufgegeben. Die Debatte um Kopftuch und politischen Islam räumt dann auch jeden Zweifel, falls ein solcher noch existiert haben sollte, über die Zugehörigkeitsgefühle des westlichen Feminismus aus. Alice Schwarzer, Herausgeberin der bekanntesten deutschen Frauenzeitschrift Emma, könnte deutlicher nicht Seite beziehen, wenn sie die Islamisten als die "Faschisten des 21. Jahrhunderts" bezeichnet, vor deren Streben nach einer "islamistischen Weltherrschaft …… die aufgeklärte Welt"1 gerettet werden muss. Gegen linke Befreiungsbewegungen wie die kurdische "PKK und revolutionsschwärmerische deutsche Linke"2 bietet sie im westlichen medialen Diskurs ebenso gerne ihre analytisch-weltanschaulichen Dienste an, wie wenn es darum geht, der westlichen Welt nach dem Schrecken des 11. September endlich die Augen ob der islamischen Gefahr zu öffnen. Deutlicher hätte die bekannteste deutsche Frauenrechtlerin nicht ausdrücken können, dass der von ihr vertretene Feminismus zu einer Teilströmung der Denksysteme westlicher Apologetik im Dienste gesellschaftlicher Legitimation und Systemerhaltung geworden ist.
Das Kopftuch und die Stellung der Frau
So ist aus einer radikalen Bewegung für die Rechte der Frauen eine Quelle systemfunktionaler Ideologieproduktion geworden. Längst schon zählt "gender mainstreaming" zum Systeminventar des westlichen akademischen und medialen Diskurses. Es ist also kein Wunder, dass sich der Konflikt an der Frage weiblicher Bekleidungssitten entzündet. Das Kopftuch als vermeintliches Symbol der Frauenunterdrückung stört die aufgeklärte Harmonie empfindlich.
Wie aussagekräftig ist dieses Kleidungsstück nun tatsächlich bezüglich der gesellschaftlichen Stellung seiner Trägerinnen? Nehmen wir als Ausgangspunkt die Feststellung moderater muslimischer Organisationen, das Kopftuch sei zuallererst Teil der islamischen Glaubenspraxis, die als Bekleidungsvorschrift für Frauen im Koran verankert sei. Allein daraus lassen sich noch nicht zwingend Erkenntnisse bezüglich der Stellung der Frau in modernen islamischen Ländern gewinnen, sondern viel eher Hinweise auf die Stellung der Frau in der arabischen Gesellschaft des entstehenden Islam. Diese war, so wie ihre Geschlechtsgenossinnen in fast allen Gesellschaften dieser Zeit, insbesondere jedoch in den christlichen, dem Mann untergeordnet. Das Kopftuch war ein Schutz vor dem beliebigen sexuellen Zugriff der Männer, galt doch offen getragenes Haar als starkes sexuelles Symbol. Dementsprechend war das Kopftuch ein Privileg der freien Frauen. Sklavinnen durften es nicht tragen.
Das Bedecken des Kopfes und des Haares ist ein sittliches Gesetz, das in dieser oder abgeschwächter Form vielerorts und bis heute existiert. Die europäische Literatur des Mittelalters bis in die Neuzeit erzählt von jungen Frauen, die das Haus ihrer Eltern nicht verließen, außer um – vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen bis zur Unkenntlichkeit verhüllt – zur Kirche zu gehen. Die deutsche Lyrikerin Annette von Droste-Hülshoff hat die sinnlich-emanzipatorische Bedeutung offenen Haares ebenso besungen, wie ihr Leid ob des Verbots, dieses so zu tragen. Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war es für Frauen in Europa weitgehend unüblich, ohne Kopfbedeckung auf die Straße zu gehen und bis in die 50er Jahre wurde es als ungebührlich betrachtet, langes Haar nicht aufzustecken oder in Zöpfen zu tragen. In ländlichen Gegenden Südeuropas findet sich das schwarze Tuch bis heute auf den Köpfen zumindest der alten Frauen. Eine strukturelle Benachteiligung will darin niemand sehen. Es ist eine Bekleidungsgewohnheit, die als solche respektiert wird.
Und doch sagen natürlich die Bekleidungssitten einer Gesellschaft einiges über die Stellung der jeweiligen Trägerinnen und Träger aus. Die Notwendigkeit aus sittlichen Gründen weite Teile des Körpers zu verhüllen drückt den Status der Frauen in einer Gesellschaft aus, die ihre Reproduktionsfunktion kontrollieren will. Das war die vorherrschende Stellung der Frau in fast allen Gesellschaften und Kulturen bis in die Gegenwart. Die westliche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts hat diese traditionelle Rollenzuweisung der Frau sukzessive zurückgedrängt, der Frau weitgehend die Kontrolle über ihren Körper und ihre Reproduktionsfunktion in die Hand gegeben. Doch das bedeutet keineswegs, dass dadurch die Frau von ihrer fremdbestimmten Position befreit wäre. Die Unterdrückung hat andere Formen angenommen, im Wesentlichen die der Verwandlung der Frau in eine Ware. Es geht nicht mehr darum, die Reproduktionsfunktion der Frau zu kontrollieren, sondern vielmehr diese zu vermarkten. Insofern symbolisiert ein Kopftuch zweifellos die gesellschaftlich untergeordnete Stellung der Frau, allerdings nicht mehr und nicht weniger als dies Stöckelschuhe und Schönheitsoperationen tun.
Wenn auch die Verschiebung der spezifischen Stellung der Frau im Westen dieser zweifellos einiges an Rechten eingebracht hat, so hat das herrschende Modell einer emanzipierten Frau, die von der politisch engagierten Emanze längst zur stromlinienförmigen Karrierefrau mutiert ist, keinerlei Relevanz für die übergroße Mehrheit der Frauen weltweit. So wie alle Tellerwäscher nur theoretisch zu Millionären werden können, so ist auch 99% der Frauen eine Zukunft als erfolgreiche Managerin versagt. Die Form westlicher Frauenbefreiung ist folglich als anzustrebendes Modell für die Masse der Frauen, insbesondere die der Slums und Armenviertel der halbkolonialen Länder, wertlos, weil unerreichbar.
Indes ist ein Vergleich der Stellung der Frauen in den islamischen und christlichen Ländern sehr viel komplexer, als dies gemeinhin angenommen wird. Viele islamische Staaten haben eine bemerkenswert hohe Akademikerinnenrate und oftmals sind Frauen in naturwissenschaftlichen und technischen Positionen stärker vertreten als in westlichen Ländern. Ein Beispiel dafür ist der Iran, der im Westen als Paradefall für die frauenfeindliche Haltung des Islam herangezogen wird, die Ausbildung und Erwerbstätigkeit von Frauen jedoch fördert. In den konservativ-fundamentalistischen Golfstaaten, allesamt treue Verbündete des Westens, ist genau das Gegenteil der Fall. Frauen sind im Allgemeinen rechtlich benachteiligt und gesellschaftlich an den Rand gedrängt.
Auch aus historischer Sicht hält das Bild der geknechteten islamischen Frau bei genauerem Hinsehen nicht uneingeschränkt stand. Während die christliche Literatur und Philosophie bis weit in die Neuzeit hinein Frauen beschreibt, die von jeglicher gesellschaftlichen Partizipation und geistig-künstlerischen Betätigung kategorisch ausgeschlossen waren, kennt die arabisch-islamische zahlreiche gegenteilige Beispiele. Scheherazade, die Heldin aus Tausendundeiner Nacht, ist nur eine der literarischen Frauenfiguren, die sich dank ihrer umfassenden Bildung und Geistesgegenwart gegenüber ihrem männlichen Widerpart durchsetzt.
Das Kopftuch als politisch-kulturelles Symbol
Wenn Alice Schwarzer das Kopftuch als Politikum entlarvt, das nur vermeintlicherweise Privatsache oder religiöse Sitte sei,2 so hat sie damit zumindest was den politischen Symbolgehalt betrifft Recht. Das Kopftuch war in der Geschichte des öfteren Symbol für den politischen Kampf antikolonialer oder anti-neo…­kolonialer Ausrichtung. Im algerischen Unabhängigkeitskrieg trugen es die Kämpferinnen, von denen sich die meisten zur Linken zählten, um ihrer Ablehnung des christlich-abendländischen Kolonisators Ausdruck zu geben. Im Iran trugen es die Frauen, die an der revolutionären Bewegung gegen den Schah teilnahmen, um die Unterwerfung des iranischen Regimes unter die Politik der USA anzuprangern. Wenn heute immer mehr Musliminnen auch in den europäischen Ländern zum Kopftuch greifen, so kann daraus zumindest das Bedürfnis nach Abgrenzung von den kulturellen Modellen des Westens herausgelesen werden.
Die in den letzten Jahren verstärkte Rückbesinnung auf den Islam hängt dabei einerseits mit dem Scheitern linker und arabisch-nationalistischer Bewegungen zusammen, die vormals die soziale und politische Unzufriedenheit der arabischen und islamischen Massen kanalisierten. Andererseits hat die Religion in den arabischen und islamischen Gesellschaften allgemein einen anderen Stellenwert als in den westlichen. Die in Europa mit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen erfolgte gründliche Säkularisierung der Gesellschaft fehlt in den islamischen Ländern und war zu deren Entwicklung auch nicht in dem Maße notwendig wie im von der Kirche als Staatsmacht und Repressionsinstrument geknechteten Europa. Insofern die Trennung staatlicher und religiöser Angelegenheiten in den islamischen Ländern weitaus selbstverständlicher war als in Europa, ist die islamische Religion als essentielles Element kultureller Identität ungleich stärker verankert. Auf dieser Grundlage hat der politische Islam das von der Linken hinterlassene Vakuum ausgefüllt und ist oft gegen seinen ursprünglichen Willen von den Massen der Bevölkerung in eine antiwestliche Richtung getrieben worden.
Doch geht die Rückbesinnung auf den Islam weit über die Kreise des tatsächlichen politischen Islam hinaus. Gerade den marginalisiertesten und benachteiligsten Schichten der Bevölkerung im Westen, den Immigrantinnen und Immigranten, eröffnet sie eine Quelle kollektiver Identität und kulturellen Selbstbewusstseins, wie kaum eine Form der Integration sie in Aussicht stellen würde. Der Islam verkörpert mit seiner langen Tradition als mächtige, dem Westen Jahrhunderte lang überlegene Hochkultur wesentlich glaubhafter die Hoffnungen und Ansprüche der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten nach einem menschenwürdigen Dasein, als dies demokratisch-säkulare, laizistische oder republikanische Werte tun.
Das Kopftuch als Symbol für sozialen Protest
Es ist dieser Konsensverlust unter der muslimischen Bevölkerung, der die Besorgnis der europäischen Regierungen ausgelöst hat, stellt er doch die zunehmende Politisierung der verarmten Schichten auf islamischer Grundlage drohend in Aussicht. Dieser Konsensverlust – zunehmend offensichtlich in der Renaissance des Kopftuchs – ist dort am stärksten ausgeprägt, wo die muslimische Immigration am ältesten und am diskriminiertesten ist. Erst jetzt, da sich die Reaktion auf die vom französischen Staat verweigerte soziale Integration ihren radikalen politischen Ausdruck zu suchen droht, beginnt die Situation inzwischen mehrerer Generationen verarmter, marginalisierter und in Gettos weggesperrter Immigranten den französischen Autoritäten den Schlaf zu kosten. Angst vor dieser explosiven Mischung aus sozialem Unmut und islamischer Repolitisierung ist es, welche die französischen Machthaber zum Kopftuchverbot treibt, keineswegs jedoch die geheuchelte Betroffenheit aufgrund der Gewalt in den Vorstädten, die sich oft gegen wehrlose Frauen und Mädchen entlädt.
In Frankreich zeigt der Konflikt auch am deutlichsten seine politisch-soziale Komponente. Während die französische Regierung als Begründung für das Kopftuchverbot laizistische Grundwerte und staatsbürgerliche Gleichheit ins Treffen führt, werden elitäre Privatschulen zumeist katholischer Zugehörigkeit vom Staat mit ansehnlichen Summen gefördert. Für die französische konservative Elite besteht also das Recht auf freie Religionsausübung auch in den Schulen. Den muslimischen Unterschichten wird dieses mit Hinweis auf die religionsneutrale öffentliche Schule verweigert. Die islamische Renaissance in Bekleidung und Verhalten enthält daher auch eine starke Komponente sozialen Protests gegen das, was staatsbürgerliche Gleichheit genannt wird, doch Ausdruck sozialer Ungleichheit ist.
Das Kopftuch als Instrument der Frauenemanzipation
Wir haben die unterschiedlichen Bedeutungen des Kopftuchs gesehen. Neben dem religiösen, kulturellen-politischen oder sozialen Gehalt dieses Kleidungsstücks zeigt sich immer öfter der emanzipatorische Wert, den das Kopftuch unter gewissen Umständen für junge Musliminnen annehmen kann. In manchen Fällen scheint aus dem Unterdrückungssymbol gar ein Instrument der Emanzipation geworden zu sein, das Selbständigkeit und berufliche Weiterentwicklung erst möglich macht. Das Kopftuch kann – wenn es aus Überzeugung getragen wird – zu einem Akt der Auflehnung und der Identitätsaffirmation gegen Elternhaus und Staat werden. Ein Beispiel dafür ist die zunehmende Immigration von Studentinnen aus der Türkei nach Westeuropa, die in ihrem Heimatland aufgrund ihres Kopftuchs von den Universitäten verwiesen wurden. Für diese Frauen, die oftmals von bescheidener sozialer Herkunft sind, vergrößert das Kopftuch die Bewegungsfreiheit anstatt sie, wie gemeinhin angenommen, einzuschränken. Das Kopftuch erlaubt es ihnen ein Studium zu absolvieren, sich der Kontrolle der Eltern zu entziehen, die traditionelle Rolle der Ehefrau und Mutter zumindest bis zur Beendigung des Studiums zu verweigern und in der Gruppe der Gesinnungsgenossinnen eine Form der zumindest teilweise selbstbestimmten Existenz in weiblicher Solidarität zu leben.
Doch auch vielen Mädchen aus Migrantenfamilien hilft das Kopftuch identitäres Selbstbewusstsein zu erlangen und durch schulischen Erfolg einen potentiell möglichen Aufstieg aus den untersten Gesellschaftsschichten erst in Aussicht zu stellen.
Das Kopftuch kann daher, wenn es freiwillig getragen wird, eine vielschichtige identitätsstiftende Funktion erhalten. Es ist ein Symbol gegen westliche kulturelle Modelle. Es setzt der Beliebigkeit des postmodernen spätkapitalistischen Konsumenten die Würde des gläubigen Menschen entgegen. Es weist dem Individuum einen gesicherten Platz in der Gemeinschaft der Gläubigen zu und schützt es so vor dem vereinsamenden Individualismus des menschlichen Beziehungsmarktes. Es verleiht den von der Industriegesellschaft in den Rang der Untermenschen verwiesenen Migrantinnen eine starke kulturelle Identität und damit Selbstbewusstsein.
Auch der politischen Islam als soziales und politisches Phänomen ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Frauenunterdrückung. Die Rolle der Frauen, die sich diesen Bewegungen zugehörig fühlen, ist alles andere als eindeutig. Natürlich ist sie einerseits durch den Bezug auf die religiöse Tradition festgelegt, beschränkt also per definitionem die Freiheit der Frau diese spezifische Rolle abzulehnen. Andererseits allerdings erlaubt und ermöglicht die Zugehörigkeit zur Bewegung des politischen Islam Frauen durchaus jenen hohen Grad an Selbstständigkeit, den berufliche, akademische oder politische Betätigung erfordern. Solche Frauen sind mitunter mündiger, aktiver und politisch bewusster als ihre Geschlechtsgenossinnen aus dem säkularisierten Milieu. Dennoch ergibt sich aus dem Spezifikum der politischen Definition des islamischen Glaubens ein Rahmen, jenseits dessen Grenzen Frauen die Selbstbestimmung verwehrt bleibt. Dieser Rahmen ist allerdings ungleich weiter, als es die Herrschaftsideologie des Westens wahrzunehmen im Stande ist. So kann der politische Islam für Frauen natürlich zu einem Unterdrückungsinstrument werden. Allerdings ist er das nicht notwendigerweise. In Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Gesamtkontext kann er ihnen unter gewissen Umständen auch mehr Selbständigkeit ermöglichen.
Das Kopftuch als Symbol für Frauenunterdrückung anzusehen ist, wie wir gesehen haben, unzulässig. Es kann diese Bedeutung annehmen, aber auch ebenso gut die gegenteilige. Ausschlaggebend dafür ist einerseits der gesamtgesellschaftliche Kontext, in dem das Kopftuch heute immer mehr zum Symbol einer identitären und politischen Renaissance der muslimischen Bevölkerungsteile – zumal in den westlichen Immigrationsgesellschaften – wird. Andererseits muss die Frage in ihrem internationalen Zusammenhang gesehen werden und dieser ist derzeit von einem ungezügelten Zugriff der mächtigen Staaten des Westens auf die Rechte und Reichtümer der Völker im Süden und Osten geprägt, von denen Teile in ihrem Abwehrkampf immer mehr auf den Islam zurückgreifen. In beiden Fällen bedeutet die Verteidigung des Rechts, das Kopftuch zu tragen – was nicht gleichbedeutend mit einem Kopftuchgebot ist – mit jenen Seite zu beziehen, die in diesem sozialen und politischen Konflikt die Unterlegenen sind.

Margarethe Berger

1 Alice Schwarzer: "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz", Kiepenheuer und Witsch 2002
2 a.a.O.