Palästina im Umbruch

04.01.2005

Die palästinensische Befreiungsbewegung nach Arafat

Wenige Wochen nach Arafats Tod ist zwar die zunächst erwartete innerpalästinensische Eskalation ausgeblieben, dennoch ist unklar, wie die offiziellen Vertreter der Palästinenserinnen und Palästinenser und wie die palästinensische Befreiungsbewegung mit der neuen Situation umgehen wird. Arafat hinterlässt in jedem Fall ein Machtvakuum, das einerseits Verschiebungen in der innerpalästinensischen Machtkonstellation zu Gunsten des palästinensischen Widerstandes ermöglichen, andererseits vom israelischen Besatzer in dessen Interesse genützt werden könnte.

Arafats Machtbasis – der Balanceakt

Der Tod Arafats bedeutet für die palästinensische Bevölkerung und Befreiungsbewegung den Verlust eines umstrittenen doch geliebten Vaters. Arafat verkörperte für alle, Anhänger wie Gegner, den Widerstand des palästinensischen Volkes und die nationale Einheit im Kampf gegen die israelische Besatzung. Arafats Tod ist jedoch auch das Ende einer ganzen politisch-historischen Periode, deren politische Bedeutung analysiert werden muss, will man versuchen die Zukunftsaussichten der palästinensischen Befreiungsbewegung zu verstehen.

Arafats Politik muss in ihrem historischen Kontext betrachtet und verstanden werden. So, wie dies häufig bei Führern von kolonialen Befreiungsbewegungen der Fall ist, war er zugleich Erhalter und Unterdrücker der palästinensischen Nationalbewegung. Aus dem Befreiungskampf kommend, wandte er sich später einer Politik des versuchten Kompromisses mit Israel zu. Diese stand zwar im Gegensatz zu seinem Kämpfermythos, doch tat sie letzterem keinen Abbruch. Im Gegenteil, geschickt und im Interesse seines Machterhaltes verstand es Arafat über Jahrzehnte hinweg einen Balanceakt zu vollführen – bereit zu Zugeständnissen an Israel und dessen Schutzmacht USA, doch nicht bereit, die Widerstandsbewegung, aus der er seine Autorität schöpfte und als dessen Führer er nach wie vor akzeptiert wurde, zu liquidieren.

Arafat verfügte als einziger palästinensischer Politiker tatsächlich über die Macht, alle Teile der Widerstandsbewegung unter Kontrolle zu halten. Er war unantastbar, weil das Volk ihn als Führer und als Symbol des Widerstandes ansah. Und doch er war es gewesen, der die Kompromisspolitik mit Israel eingeleitet und umgesetzt hatte. Bereits in den 70er Jahren hatte er der historischen Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung nach einem demokratischen säkularen Staat in ganz Palästina den Rücken gekehrt und mit dem Konzept der Zwei-Staaten-Lösung den Oslo-Prozess vorbereitet.

Als seine Kompromisspolitik im Jahr 2000 in die Sackgasse geführt hatte, sichtbar für die gesamte Bevölkerung keine Verbesserungen, dafür aber eine korrupte Klasse von palästinensischen Neureichen geschaffen hatte, war er klug genug, den letzten Schritt nicht zu machen. Er hielt dem Druck Clintons und Baraks stand und weigerte sich die Prinzipien der palästinensischen Befreiungsbewegung im Austausch für vage Versprechungen zu verraten. Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates sind nicht nur die politischen Grundpfeiler der palästinensischen Befreiungsbewegung. Beide Forderungen haben höchsten symbolischen Wert. Die Vertreibung der Palästinenser 1948, die Naqba, hat für das palästinensische Volk insgesamt Identitätsfunktion. Sie ist zu so etwas wie einem nationsstiftenden historischen Ereignis geworden, denn was die Palästinenser von den anderen arabischen Völkern unterscheidet, ist die traumatische Erfahrung der Naqba. Jerusalem als Hauptstadt hingegen hat nicht nur höchsten politischen Stellenwert, sondern als drittheiligste Stätte des Islam auch religiösen. Diese beiden Forderungen auf dem Verhandlungstisch aufzugeben hätte bedeutet, die nationale und die religiöse Identität des palästinensischen Volkes zu verraten. Arafat wusste, was auf dem Spiel stand, und er war klug genug, seinen eigenen Mythos vom Befreiungskämpfer nicht zu zerstören.

Arafat verließ Camp David für den Westen als Spielverderber, doch er behielt seine Autorität unter dem Volk und damit seine eigentliche Machtbasis. Je mehr Israel ihn angriff und demütigte, umso mehr wurde er zum Symbol des palästinensischen Widerstandes und der nationalen Einheit. Das mussten auch jene Organisationen zur Kenntnis nehmen, die im Laufe des Oslo-Prozesses und in Opposition zur herrschenden Fatah entstanden waren. Die Organisationen des politischen Islam, Hamas und Jihad, waren die eigentlichen Erben der ersten Intifada, denn sie waren die einzigen, die den Kampf gegen die israelische Besatzung nicht aufgaben. Obwohl sie einige Zeit lang von Israel unterstützt wurden, um der palästinensischen Linken den Wind aus den Segeln zu nehmen, gelang es ihnen die Enttäuschung und Wut der Bevölkerung über die leeren Versprechungen von Souveränität und Aufschwung zu kanalisieren. Doch Arafats Unantastbarkeit mussten auch seine politischen Gegner, sowohl die palästinensische Linke als auch die Organisationen des politischen Islam, akzeptieren. Opfer seines undemokratischen Führungsstils, waren sie angesichts der permanenten israelischen Offensive dennoch dazu gezwungen, die nationale Einheit zu bewahren und seine Führerschaft anzuerkennen.

Das war der Grund, warum Arafat trotz zahlreicher Versuche ihn durch hörigere Marionetten zu ersetzen, bis zuletzt de facto Ansprechpartner des Westens blieb. Tatsächlich waren es weder die undemokratischen Seiten von Arafats Regime, noch die Korruption, die ihn die Gunst Israels und der USA verlieren ließen. Im Gegenteil, es war ein Teil des israelischen Planes aus Oslo-Zeiten gewesen, eine korrupte Schicht von Neureichen zu schaffen, die bereit wären, mit Israel zu kollaborieren. Arafats Weigerung, die Widerstandsbewegung zu liquidieren, machte ihn in den westlichen Medien zur persona non grata. Doch der Westen brauchte Arafat, allen Demütigungen und Beschimpfungen als Terrorist zum Trotz. Denn Arafat war eine Garantie dafür, dass die nicht kompromissbereiten Teile des Widerstandes sich nicht durchsetzen, dass die Intifada nicht eskalieren würde. Arafats politische Stärke lag darin, den Volksaufstand gleichzeitig zu kontrollieren und ihn zu schützen. Hätte er die gesamte Widerstandsbewegung entwaffnet und inhaftiert, so wäre damit auch unabdingbar seine eigene Machtbasis verloren gegangen.

Neuverteilung der Macht

Arafat hinterlässt ein Machtvakuum. Seine potentiellen Nachfolger verfügen keineswegs über sein Charisma und seine moralische Autorität. Unter den palästinensischen Organisationen herrscht Klarheit darüber, dass es in aller Interesse liegt, eine Neuverteilung der Macht ohne militärische Auseinandersetzung zu Stande zu bringen. Ein innerpalästinensischer Bürgerkrieg wäre zweifellos das von Israel bevorzugte Szenario zur Lösung des Nahostkonfliktes.

Die Interessenslage in der gegenwärtigen Situation ist unterschiedlich. Das Ziel der oppositionellen Organisationen des Widerstandes, der islamischen Hamas und Jihad sowie der linken Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) ist es, einerseits eine ihrem politischen und sozialen Gewicht besser entsprechende Machtverteilung zu erreichen, vor allem jedoch eine einheitliche nationale Führung einzusetzen. Damit geht es vor allem um die Verhinderung einer israelischen Lösung, d.h. einer politischen Struktur, welche die Zersetzung der nationalen palästinensischen Einheit festschreibt. Wie mit dem Rückzugsplan aus Gaza bereits angedeutet, zielt Israel darauf ab, die palästinensischen Gebiete in Bantustans aufzuteilen, um jene urbanen Konglomerate herum, die es mit seinen Siedlungen bereits fast umzingelt hat. Diese Bantustans sollen nach Möglichkeit von Männern angeführt werden, deren politische Qualifikationen nicht über die Bereitschaft zur Kollaboration hinausgehen müssen. Für Gaza ist Israels Wunschkandidat Mohammed Dahlan, ehemaliger Sicherheitschef des Gaza-Streifens und, dem Vernehmen nach, ein in ganz Palästina bekannter Kollaborateur.

Um dem Wunsch nach einer demokratischeren Neuordnung Ausdruck zu geben, verzichten die oppositionellen Organisationen auf eine Kandidatur bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Präsidentschaftswahlen allein, ohne eine allgemeine Neuordnung der palästinensischen Institutionen und Vertretungsstrukturen und vor allem unter den Bedingungen militärischer Besatzung lehnt die Opposition als Wahlfarce ab. Dennoch scheint der Erhalt der nationalen Einheit für die Organisationen des Widerstandes mehr Gewicht zu haben, als eine politische Kampagne in diesem Sinne durchzuführen. Dementsprechend ruft auch keine der Organisationen zur Wahlenthaltung auf, sondern man beschränkt sich lediglich darauf, keinen eigenen Kandidaten zu nominieren.

Anders als bei der Opposition ist die Interessenlage in der Fatah-Mehrheitsströmung. Präsidentschaftskandidat Mahmoud Abbas gehört zwar als Arafats Kampfgefährte der Gründergeneration von Fatah und PLO an, verfügt aber weder über dessen Charisma noch Popularität. Er ist Wunschkandidat der US-Administration, doch gerade deshalb nicht dazu geeignet Arafats geschicktes Machtspiel zwischen Israel und der Intifada weiterzuspielen. Er wird nicht in der Lage sein die Widerstandsbewegung in gleicher Weise hinter sich zu vereinigen und zu kontrollieren, wie dies Arafat vermochte. Es ist daher fraglich, ob die Organisationen des Widerstandes Marionetten wie Abbas als Vorsitzenden der Autonomiebehörde akzeptieren werden. Denn viel mehr als die Fatah oder zumindest der Regierungsflügel stehen diese Organisationen unter dem Druck ihrer eigenen Anhängerschaft, die, verarmt, gedemütigt und im permanenten Kriegszustand lebend, keinen wie auch immer gearteten Kompromiss mit Israel hinnehmen wird.

Ein interessantes Indiz in der gegenwärtigen Lage ist das widersprüchliche Verhalten Marwan Barghoutis, Führer der oppositionellen Fatah-Strömung und derzeit in israelischer Isolationshaft. Barghouti kündigte zweimal seine Kandidatur bei den kommenden Präsidentschaftswahlen an, zog sie jedoch letztendlich zurück. Während die Fatah-Mehrheitsströmung eine Kampagne gegen Barghouti losgetreten hat, die seiner Kandidatur unlautere Beweggründer unterstellen wollte, scheint es vielmehr tatsächlich der Druck von Barghoutis Basis gewesen zu sein, die ihn zu diesem Schritt bewogen hatte, um dem immer offensichtlicher werdenden Kollaborationskurs der Fatah-Führung etwas entgegen zu setzen.

Die Gründe für Barghoutis endgültigen Verzicht auf die Kandidatur sind unklar. Augenscheinlich ging es zwar darum, die Spannungen innerhalb der Fatah nicht auf die Spitze zu treiben und sicherlich wollte sich Barghouti dem vorprogrammierten Konflikt mit den Vertretern des Kollaborationskurses nicht stellen. Andererseits jedoch verlautbart er immer wieder seine Bestrebung, den Wahlen, die tatsächlich weder auf eine Demokratisierung der palästinensischen Gesellschaft noch auf eine Sammlung und Neuordnung des Widerstandes gegen die Besatzung ausgerichtet sind, keine Legitimität zu verleihen. Letztendlich scheint jedoch Barghouti den Druck der aufgebrachten Basis, der sich in kleineren Konflikten bereits in den Sommermonaten entladen hatte, insofern weiter geben zu wollen, als er seinen Rückzug an Bedingungen knüpfte, die den Kollaborationskurs Abbas´ wenn nicht aufhalten, so doch zumindest verlangsamen wollen. Zu den 18 Bedingungen zählen so etwa die Bekenntnis zur Intifada, die Fortsetzung des Widerstandes und bewaffneten Kampfes als grundlegende Prinzipien neben Verhandlungen, die Erzielung eines Einverständnisses aller palästinensischen Strömungen sowie die Beendigung der Besatzung als Vorbedingung für Verhandlungen.

Es ist fraglich, ob es Abbas gelingen wird sich ungeachtet der Tatsache, dass er weder tatsächliche Reformen anstrebt noch dem Wunsch der Bevölkerung nach einer Fortsetzung des Widerstandes zugetan ist, als nationaler Führer zu behaupten. Unklar ist auch das Verhalten Israels im Falle von zukünftigen Entwicklungen in Palästina, die den israelischen Interessen zuwiderlaufen.

Israels Chance?

Die instabile palästinensische Situation und eventuelle innerpalästinensische Konflikte könnten für Israel ein willkommener Vorwand sein, um das mit einem Schlag zu vollbringen, was es seit Jahren auf Raten versucht: die endgültige Vernichtung des palästinensischen Widerstandes. Am israelischen Staat sind vier Jahre Intifada nicht spurlos vorüber gegangen. Die Wirtschaftsdaten sind so schlecht wie nie zuvor, die soziale Unzufriedenheit wächst, die Einwanderung nimmt ab und der zionistische Konsens in der Bevölkerung scheint sich langsam, in politisch unkohärenter Weise aber dennoch aufzuweichen. Sharons Gaza-Rückzugsplan ist zwar nichts anderes als der Versuch, die militärische Besatzung des Westjordanlandes festzuschreiben, eine politische Lösung vom Tisch zu wischen und stattdessen den Weg der Bantustan-Lösung zielstrebig zu beschreiten. Dennoch drückt dieses Manöver bis zu einem gewissen Grad politische Schwierigkeiten des Regimes aus.

Die Aufgabe der Siedlungen in Gaza – zumal es sich keineswegs um eine tatsächliche Souveränität handeln würde – hätte zwar keine militärische Schwächung Israels zur Folge, wohl aber hätte sie innenpolitische Implikationen, von denen auch die Armee betroffen wäre. Seit einigen Jahren stützt sich die israelische Armee wesentlich auf einen Mittelbau aus religiösen Zionisten (nicht Orthodoxen), für die jegliche Aufgabe vermeintlichen jüdischen Bodens einem Verrat an Glaubensgrundsätzen gleichkommt. Manche Beobachter sehen die Spannungen zwischen der Regierung auf der einen und der rechtsradikalen Siedlerbewegung bzw. ihren Verbündeten in der Armee auf der anderen Seite als so ernsthaft an, dass sie von potentiellen Bürgerkriegsszenarien sprechen. Dies scheint zwar höchst unwahrscheinlich, zumal die bevorstehende Koalition mit der Arbeitspartei das Regime auf eine noch stabilere Basis als bisher stellt, dennoch könnten an diesen Entwicklungen tendenzielle Erschütterungen der Strukturen der israelischen Gesellschaft abgelesen werden.

Die Umbrüche in den palästinensischen Gebieten könnten für das israelische Regime einen unverhofften Ausweg bieten. Ohne sich auf riskante politische Manöver einlassen zu müssen, hätte es die Möglichkeit der palästinensischen Widerstandsbewegung einen entscheidenden Schlag zu versetzen.

Chance für die palästinensische Befreiungsbewegung

Arafat war ein Symbol der palästinensischen Befreiungsbewegung. Mit ihm stirbt ein Stück ihrer historischen Identität. Sein Tod birgt das große Risiko einer israelischen Generaloffensive, welche, die Gunst der Stunde ausnützend, versuchen könnte, die Widerstandsbewegung endgültig zu zerstören. Die antiimperialistische und demokratische Bewegung in aller Welt ist aufgerufen, sich dieser Gefahr mit Entschlossenheit entgegenzustellen, das palästinensische Volk, sein physisches Überleben und seinen politischen Widerstandskampf zu verteidigen.

Andererseits jedoch, so widersprüchlich wie Arafats Politik war, so stellt auch sein Tod nicht nur eine Gefahr für die Widerstandsbewegung dar, sondern eröffnet ihr auch eine Chance. Der Glassturz des Balanceakts, der moralische und politische Imperativ der nationalen Einheit unter der Führung eines letztendlich kompromissbereiten Machthabers hat eine Weiterentwicklung der Widerstandsbewegung verhindert. Zweifellos liegt es auch nach Arafats Tod im Interesse des Widerstandes einen Bürgerkrieg, der alle Beteiligten zu Gunsten Israels schwächen würde, zu vermeiden. Das Wegfallen des Glassturzes eröffnet jedoch die Möglichkeit einer Vereinigung der konsequenten Widerstandskräfte, von der Linken bis zum politischen Islam, in einer gemeinsamen Front. Das politische Ziel einer solchen Front müsste es sein, den Kampf der Befreiungsbewegung wieder auf ihre historische Forderung und, wie sich inzwischen auch in der Praxis bewiesen hat, einzig mögliche Lösung des Nahostkonfliktes, die Schaffung eines demokratischen Staates in ganz Palästina, auszurichten. Ob es einer solchen Front gelingen kann, die so stark vernachlässigte politische Ebene des palästinensischen Befreiungskampfes wiederzubeleben und die stagnierenden Kräfteverhältnisse zu verschieben, wird von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren abhängen. Wesentlich wird sein, ob die Interessen des Widerstandes die Oberhand über innere Machtkämpfe behalten werden können. Darüber hinaus wird auch die Frage eine Rolle spielen, ob sich die pro-zionistische Einheit des Westens weiter festigt, oder im Gegenteil ob sie zu bröckeln beginnt. Zu den entscheidenden Faktoren wird allerdings die Entwicklung des irakischen Widerstandskampfes zählen und im Allgemeinen die Solidarität der arabischen Massen außerhalb der palästinensischen Gebiete, deren bisherige Passivität nicht nur die Stärke ihrer jeweiligen korrupten Regime ausmacht, sondern auch die des israelischen und amerikanischen Imperialismus.

Margarethe Berger
14. Dezember 2004

Margarethe Berger ist Mitglied der Intifada Redaktion.