Zur Zukunft des Zweistromlandes

19.03.2010
von Felix Taal
Sieben Jahre sind nun vergangen seit dem Überfall der USA auf den Irak – Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die Perspektiven für das Land zu untersuchen.

Der Preis des Krieges

Für die „Demokratie“ mussten die Iraker bisher folgenden Preis bezahlen – und der Horror ist noch lange nicht vorbei1:
10 Millionen Iraker leben in absoluter Armut2
1,5 Millionen Tote (Lancet Studie)
2 Millionen Verstümmelte (offiziell)
2 Millionen Witwen (offizielle Schätzung)
5 Millionen Waisen (offiziell)
5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene (offiziell)
200.000 registrierte Vermisste (offiziell)
162.000 Iraker in Gefangenschaft3
1400 Kinder unter 15 Jahren in Regierungsgefängnissen
900 Kinder unter 15 Jahren in US Gefängnissen

Dazu kommen zahllose weitere Verbrechen: Die Bilder aus Abu Ghraib gingen um die Welt und sprechen für sich. In Fallujah und anderen Städten gebären die Frauen völlig deformierte Babys, die meist nur wenige Tage überleben. Grund ist scheinbar die auch beim jüngsten Gaza-Massaker eingesetzte Uran-verseuchte Munition der US-Armee. Der Irak ist gegenwärtig eines der korruptesten Länder der Welt, jede Partei unterhält eigene Milizen, Armut hat Organraub, Prostitution und Menschenhandel zur Folge. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 20 Prozent.

Während der Irak in den 80ern ein in jeder Hinsicht führendes Land der Region war, zahlreiche Krankheiten ausgerottet werden konnten, ein landesweites Elektrizitätsnetz ausgebaut wurde und die Analphabetenrate auf für beide Geschlechter auf unter 10 Prozent sank, sind heute 40 Prozent der Frauen Analphabeten. Zahlreiche Wissenschaftler und Ärzte sind gezielten Angriffen zum Opfer gefallen oder geflohen.4

Aufstieg und Fall des Irakischen Widerstandes
Im Angesicht der brutalen Zerstörung der irakischen Gesellschaft bildeten sich im ganzen Land Widerstandsgruppen, die mit den Waffen der alten irakischen Armee gegen die Amerikaner und ihre Helfer zu kämpfen begannen. Mit der Zeit wurde diese Bewegung übersichtlicher, vernetzte sich und entwickelte eigene Informationsnetzwerke und Waffensysteme. Ihr großer Verdienst besteht darin, von dem Völkerrecht auf Widerstand gegen den illegale Angriffskriege Gebrauch gemacht zu haben, die Verwundbarkeit der stärksten Streitmacht aller Zeiten mit einfachsten Mitteln öffentlich zu machen und die „letzte Supermacht“ zu lehren, dass ein großer Teil der Iraker eher bereit ist zu sterben als ihr Land und ihre Würde an amerikanische Konzerne und Panzerkolonnen zu verkaufen. Dass trotz allem der erbitterte Widerstandskampf gescheitert ist, liegt nicht an den Milliarden, die von den Amerikanern für den Krieg verschwendet wurden, sondern den Besonderheiten des modernen Irak:

1. Die regierende Ba’ath-Partei verkündete bis zur letzten Stunde großspurig den schnellen Sieg über die Amerikaner und war dann über Nacht verschwunden. Auch lies ihre selbstherrliche Haltung keinen Aufbau einer breiten Opposition aller Besatzungsgegner vor dem Kriegsbeginn zu. Darum entstanden ideologisch unterschiedlichste Gruppen, die es bis heute versäumt haben, unter einem Grundsatzprogramm ein gemeinsames Befreiungsprojekt zu formulieren, dass sowohl Iraker als auch Antiimperialisten auf der ganzen Welt unterstützen, verbreiten und diskutieren könnten.

2. Die Bewegung um alQaida wollte zumindest die wichtigsten Hochburgen des Widerstands unter ihre Kontrolle bringen, um von dort ihre weltweite Utopie zu starten. Ihre brutale Vorgehensweise (auch gegen Widerstandskämpfer, Stammesälteste und angesehene Geistliche) stießen auf breite Ablehnung und beschädigten das Ansehen des Widerstands nachhaltig.

3. Die Badr-Brigaden und die Mahdi-Armee beteiligten sich mit Todesschwadronen an regelrechten Hetzjagden gegen die alte Intelligenz und die Ba’ath-Partei. Da dies oft sektiererische Ausmaße (Schiiten vs. Sunniten) annahm und auch alQaida hoffte, über diese Spirale der Gewalt an Einfluss zu gewinnen, gerieten die Sunniten unter doppelten Beschuss. Sie hatten ihre historische Rolle als Staatstragende Minderheit eingebüßt und waren vom politischen Prozess weitgehend ausgeschlossen. Darin sahen die Amerikaner, die zwischenzeitlich die Kontrolle über ganze Regionen verloren hatten, ihre Chance: Sie boten Geld für ein Ende der Widerstandsaktionen. Die Kämpfer sollten ihre Gebiete von alQaida säubern und gegen Milizen verteidigen dürfen und später in die neue Armee integriert werden.

4. Ein überwiegender Teil des Widerstandes ging auf dieses Angebot ein – zu unwahrscheinlich war ein Sieg sowohl über die USA als auch die schiitische Marionettenregierung, ihre Milizen, die alQaida und die kurdischen Einheiten im Norden, die sich nun die Öl-Vorräte um Kirkuk sichern wollten. Obwohl die „Erweckungsräte“, wie die Überläufer sich nennen, ein widersprüchliches Verhältnis zu den Marionetten in Bagdad haben, sind sie nicht zum Widerstand zurückgekehrt und haben dessen Erfolgsaussichten quasi ausgeschlossen.

Amerikanisch-Iranische Besatzung?
Seit jeher sind die irakische Ba’ath-Partei und die Iranische Republik Erzfeinde. Beide behaupten, standhaft für die palästinensische Sache einzutreten, den US-Imperialismus zu bekämpfen und wesentlich gerechter, zivilisierter und aufrichtiger zu sein als ihr Gegner.
Der US-Imperialismus hat sich diese Situation immer wieder zu Nutze gemacht. Denn beide Staaten könnten eine ernste Bedrohung für den Zugang zum Öl, das zionistische Gebilde und die arabischen Marionettenregimes werden. Stattdessen begann der Irak einen achtjährigen, absurden Krieg gegen den Iran (mit der stillschweigenden Zustimmung des Westens) – und 2003 begann der Iran (wieder mit der stillschweigenden Zustimmung des Westens) seinen Krieg gegen die Ba’ath-Partei und die verbundene alte Intelligenz.

Der Iran findet sich im Irak an der Seite des „Großen Satan“ gegen die Ba’ath-Partei, ihre Anhänger und den (teilweise sehr Saddam-kritischen) Widerstand. Auch wenn den USA die unabhängige Politik des Iran ein Dorn im Auge ist, könnten sie ohne dessen Kooperation schwerlich so erfolgreich sein. Warum hilft der Iran den Palästinensern und Libanesen gegen die „amerikanisch-zionistischen“ Interessen, die er im Irak scheinbar unterstützt?

Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Fragen zu beantworten. Die iranische Argumentation ist, dass unter allen Umständen eine „Rückkehr der Ba’ath-Partei ausgeschlossen“ werden muss (Ahmadinejad). Die Schiiten als Bevölkerungsstärkste Gruppe müssten nach Jahrzehnten die ihnen zustehende Position als führende Kraft der Gesellschaft einnehmen. Parallel zu der Zusammenarbeit mit der Marionettenregierung unterstützt der Iran den Aufbau einer schiitischen Guerilla, die mit iranischen EFPs einen Großteil der wirklich effektiven Angriffe auf die Besatzer durchführt und sich dabei an den Anfängen der libanesischen Hisbollah orientiert: Widerstand und Politik, guter Kontakt zur lokalen Bevölkerung, striktes Verbot von Angriffen auf Zivilisten oder Mitglieder der irakischen Polizei.

Die andere Leseart wird von vielen Sunniten, dem Widerstand und der Ba’ath vertreten: Der Iran ist eine klassische Regionalmacht, die ihren Einfluss ausweiten will. Parallel zur Vernichtung der alten irakischen Intelligenz wird ein sektiererisches, pro-iranisches Netz von Geheimdiensten, religiösen Instituten, Firmen usw. über den Irak gespannt, um die durch Sanktionen geschwächte iranische Wirtschaft zu beleben und ein Druckmittel gegen die Amerikaner zu besitzen, um so das Atomprogramm vorantreiben zu können. Die antiimperialistische Rhetorik sei durch keine entsprechenden Taten bewiesen, sei vielmehr ein ideologisches Machtmittel der Regierung gegen Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Der Irak zeige, dass der Iran sehr wohl bestens mit den Amerikanern kooperieren könne, allen Parolen zum Trotz…

Die Zukunft des Mittleren Osten
Wenn die „Front für Jihad und Veränderung“, eine moderate und bedeutende Kraft im Irakischen Widerstand, sich beklagt, dass sie zwar gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstrebten, der Iran aber leider seine eigene Agenda verfolge5, so kann nur die zukünftige Entwicklung zeigen, ob der Iran seine Haltung überdenken kann. Beste Vorraussetzung dafür wäre eine Front aller patriotischen Widerstandskämpfer, die bereit sind, eine schiitische Bevölkerungsmehrheit zu akzeptieren und ein Programm für die Zukunft des Irak ausarbeitet.

Die Ba’ath-Partei, die in Damaskus ihren Unterschlupf gefunden hat und sich spätestens seit Ende 2008 im Irak militärisch reorganisiert hat, ist neben den vom Iran finanzierten Gruppen mittlerweile die bedeutendste Kraft im Widerstand geworden. Ihre „Naqshabandiya-Armee“6 stellt seit über einem Jahr wöchentlich Filme ins Netz gestellt, in denen nicht nur unzählige erfolgreiche Angriffe, sondern auch viele Trainingscamps, überfüllte Waffenlager- und Produktionsstätten und die Infiltration der Polizei zu sehen sind. Taktisch klug richten sie sich ausschließlich gegen die Besatzer und kooperieren eng mit den Stämmen. Aber welche Rolle wollen sie in der Zukunft spielen?

Der Iran, Syrien, die Hisbollah und ihr Bündnis im Libanon sowie die palästinensischen Widerstandsgruppen – und, im weiteren Rahmen, Venezuela, Bolivien und Kuba – bilden eine starke Allianz, die eine Möglichkeit darstellt, die US-amerikanische Dominanz politisch und wirtschaftlich zurückzudrängen und alternative Gesellschaftsmodelle zu entwickeln.
Israel wiederum droht dem Iran immer aggressiver mit einem offenen Krieg, während sich die USA aus der ungelösten Wirtschaftskrise mit der Entfesselung eines neuen Weltkrieges7 zu retten versuchen könnten. Das Dauerfeuer der Medienpropaganda gegen den Iran immerhin ähnelt stark dem, was es am Vorabend des Irakkrieges über das Land zu lesen gab.

Die Irakische Widerstandsbewegung unterdessen hat scheinbar keine eindeutige Antwort auf diese Entwicklungen. Wenn sie in die Allianz eintreten möchte, muss sie sich beeilen. Wenn sie sich mit Saudi-Arabien gegen die Iraner verbündet (was einige sunnitische Gruppen Gerüchten zu Folge bereits getan haben), lässt sie sich von einem extremreaktionären Regime in einen Stellvertreterkrieg ziehen, den sie nur verlieren kann. Wenn sie weiterhin die Parolen der letzten Jahre wiederholt wird sich auch der Trend der letzten Jahre fortsetzen: Verluste ihrer Möglichkeiten und Mangel an Geld, Unterstützern und Verbündeten.

Der Widerstand im Irak ist ein heroisches Beispiel für alle Unterdrückten auf der Welt gewesen, sein Unvermögen zu siegen aber ist untrennbar verbunden mit der verfahrenen Situation in einer Region voller Widersprüche und einer Welt, die sich an Genoziden nicht stört, solange ihnen keine weißen, privilegierten Völker zum Opfer fallen.