Nein zum Nato-Angriff, aber nicht mit Ghaddafi

19.04.2011
Zum Wandel der Protestbewegung in Libyen
Von Wilhelm Langthaler
Vorabveröffentlichung aus der "Intifada" Nr. 33: Die Ereignisse rund um Libyen passen nicht zum Schema der vergangenen Jahrzehnte, wo der sich humanitär-demokratisch legitimierende Imperialismus gegen Antiimperialisten in den Krieg zog, die er als Menschenfresser deklarierte. Natürlich geht es dem Westen auch bei seinem jüngsten Krieg um die Absicherung seiner Interessen. Doch bleibt offen, ob dies so einfach sein wird. Auf der anderen Seite hat Gaddafi jedes Potential verspielt, einen Beitrag zum arabischen Befreiungskampf zu leisten.

Die zur Debatte stehende Frage ist von tieferer Bedeutung, denn sie berührt den Charakter des Antiimperialismus. Diesem wird vielfach vorgeworfen dem Prinzip vom Feind meines Feindes, der zum Freund würde, anzuhängen. Am libyschen Fall zeigt sich, dass dem nicht so ist. Vielmehr ist das Kriterium, ob eine Kraft auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, mit welchen Schwächen und Fehler auch immer behaftet, die gegen den Imperialismus gerichteten Interessen der Volksmassen repräsentiert.

Charakter des Ghaddafi-Regimes

In der oppositionellen Medienlandschaft findet man nicht selten den Verweis auf die notorischen Listen der Neokons von Schurkenstaaten, denen man im Sinne des „regime change“ einen militärischen Schlag versetzen müsse. Libyen stand mit auf der Abschussliste. Diese Liste gab es wirklich. Mit den Kriegen gegen Afghanistan und Irak begann die Phase der Umsetzung. Es war ein imperiales Maximalprogramm, aufgelegt im Rausch der Omnipotenz. Nach einem Jahrzehnt des Krieges gilt es selbst in der US-Elite als glamourös gescheitert. Der massive Widerstand auf vielen Ebenen brachte es zu Fall.

Ghaddafi war in der Zwischenzeit mit allen Ehren in die „internationale Gemeinschaft“ aufgenommen worden, also unter die Fittiche des Imperialismus zurückgekehrt. Er hatte dafür hohe Ablasszahlungen getätigt und wurde im Gegenzug im Westen nicht nur allseits beliebter Geschäftspartner, sondern sogar zum persönlichen Freund von Berlusconi & Co. Es ging um Ölgeschäfte, Infrastruktur und alles, was von der Ölrente sonst noch gekauft werden kann. Dafür hielt der „Revolutionsführer“ Europa die afrikanischen Hungerleider vom Hals und verkaufte sich wie so viele Diktatoren in Nahost als Bollwerk gegen den drohenden Islamismus.

Ghaddafis zahllose panarabische, panafrikanische und in einem gewissen Sinn auch panislamische Abenteuer – allesamt gescheitert aufgrund autokratischer Schrullen – sollen hier nicht weiter erwähnt werden. Sie hatten aber zum Schluss jeden antiimperialistischen Charakter verloren. Letztlich ging es um Macht und Einfluss in den diversen afrikanischen und subsaharischen Staaten, insbesondere dem Tschad und dem Sudan, wo es auch immer wieder zu Kongruenzen mit imperialistischen Interessen kam.

Warum der Nato-Angriff?

Warum greift der Westen ein solches Regime an, das augenscheinlich eng kollaboriert? Viele vermuten angesichts dieser verwirrenden Tatsache eine „hidden agenda“, also eine Verschwörung.

Der Imperialismus funktioniert jedoch nicht nach einem diabolischen Plan der Weltherrschaft. Auch die herrschenden globalen Eliten bilden sich eine Meinung, reagieren auf veränderte Umstände, machen Schätzungen, die sich mitunter als verfehlt erweisen. Und selbst wenn es diesen Plan gäbe oder gab, wie ihn teilweise die Neokons formulierten, so musste er immer wieder geändert und angepasst werden, bis sich nun Obama mit der Linie durchsetzte, zu retten was noch zu retten ist. Wo möglich mit soft power, wo nötig mit hard power.

Hauptmotiv des westlichen Eingreifens war, das eigene, schwer beschädigte demokratische Image aufzupolieren. Ben Ali und Mubarak hatte man bis zum letzten Moment gehalten, die blutigen Diktaturen am Golf stützt man trotz aller schönen Worte weiterhin. Angesichts der sich schnell entwickelnden Revolte dachte man wohl an einen schnellen Sturz. Warum die Volkserhebung nicht gleich unterstützen, zumal Ghaddafi nicht aus der eigenen Zucht stammt, sondern ein spätberufener und zudem unberechenbarer Partner blieb. Als der Vormarsch der Rebellen ins Stocken geriet, dachte man, mit Luftangriffen die Sache schnell in den Griff zu bekommen.

Ein anderer Verlauf der Bewegung

Das erwies sich als Fehleinschätzung. Die durch die Umstürze in Tunesien und Ägypten inspirierte Bewegung findet in Libyen unterschiedliche Bedingungen vor und verläuft entsprechend anders. Ghaddafi reagierte anders als seine Amtskollegen sofort mit heftiger Repression und zeigte demonstrativ seine Bereitschaft den Volksaufstand in Blut zu ertränken. Dies ließ ihm keine andere Wahl als zu den Waffen zu greifen. Im Osten des Landes löste sich die Armee einschließlich der Kommandostruktur schlagartig auf. Doch scheinen diese Truppenteile schon zuvor von Tripolis marginalisiert worden zu sein, denn außer leichten Waffen ist nicht viel zurückgeblieben.

Auf der anderen Seite stimmt es wohl, dass Ghaddafis Herrschaft sich auch auf Stammesloyalitäten stützt, die in einer Revolte nicht so ohne weiteres unwirksam werden. Die Armee bzw. die direkt Ghaddafi unterstellten bewaffneten Kräfte scheinen in extremer Weise auf und um ihn konzentriert zu sein. Für die politische Variante der Nachbarländer, wo die Militärs letztlich zu dem Schluss kamen, dass der Verbleib der Potentaten das System selbst gefährdet, bleibt kein Platz. Zudem mag auch eine Rolle spielen, dass durch die Verteilung der Ölrente der Lebensstandard in breiten Schichten wesentlich höher ist als in den zwei arabischen Nachbarländern.

Das Zwischenergebnis besteht in der Spaltung des Landes. Ein stabiles prowestliches Regime ist weiter entfernt als vor dem Angriff. Während man Ghaddafi als Partner verbrannt hat, bleibt die Führung von Benghasi äußert rachitisch.

Im Gegensatz zu den französischen Kriegstreibern streben die USA einen Kompromiss an. Sie wollen Ghaddafis Staatsapparat nicht zerschlagen, denn ihnen sitzt ihr irakisches Fiasko noch zu tief in den Knochen. Die Führung in Benghasi hat indes nichts anzubieten und müsste praktisch von null auf anfangen – mit erheblichen Gefahren für den Westen, denn Demokratie zu versprechen, ist nicht gänzlich gratis. Auch in Libyen gibt es antiimperialistische Kräfte, die mehr oder weniger islamisch sind. Darum auch das Zögern hinsichtlich der Bewaffnung der Rebellen.

Noch sträuben sich sowohl Gaddafi als auch Benghasi gegen einen Kompromiss. Doch wenn der Westen Ghaddafis Eigeninteressen (zumindest die materiellen) halbwegs befriedigen kann, dann wird seine antiimperialistische Rhetorik schnell Schall und Rauch sein.

Reaktionäre Volkserhebung?

Angesichts der medialen Unterstützung für die Bewegungen in Tunesien und Ägypten gab es einige Stimmen, die von farbigen Revolutionen osteuropäischen Typs sprachen. Die Ereignisse in Libyen lesen sie als klare Bestätigung für den prowestlichen, reaktionären Charakter der arabischen Revolutionen. Insbesondere in Libyen sehen sie den gestürzten König, die alten Sanussi-Eliten und die CIA am Werk.

Unbestreitbare Tatsache ist, dass die Führung von Benghasi den Westen zu den Luftangriffen einlud und wiederholt deren Intensivierung forderte – jedoch mit der Einschränkung, dass westliche Bodentruppen unerwünscht seien. Die Gegenregierung hat sich insgesamt voll auf die Seite des Westens gestellt.

Das heißt den Bock zum Gärtner zu machen. Eine demokratische Revolution ist antiimperialistisch oder sie ist nicht. Die Benghasi-Führung servierte dem Imperialismus auf dem Silbertablett die Legitimation für seine Militärintervention. Damit konnte ein Gegenmoment zu jenem der arabischen Revolutionen gegen die Westdiktaturen eingebracht werden um deren Dynamik zu bremsen.

Die Erklärung für diesen Verlauf ist einfach: Vermutlich wäre die Rebellion unter den Schlägen Gaddafis zusammengebrochen. Diese militärische Schwäche transformierte sich umgehend in eine politische Schwäche, obwohl es anfangs durchaus Stimmen gegen das westliche Eingreifen gab. Doch gerade die scheinbar dominanten islamischen Kräfte folgen dem Prinzip, gegen den Feind mit dem Teufel zu paktieren, ohne Rücksicht darauf sich damit an den Westen zu binden.

Die Behauptung Ghaddafis gegen al Kaida zu kämpfen ist lächerlich. Warum sollte der Westen mit dem militanten Salafismus kooperieren, während er sich in Afghanistan in einem zehnjährigen Krieg gegen ihn aufreibt? Das können nur Leute glauben, die die gegenwärtigen Taliban als Handlanger der USA ansehen. (In dieser bestechenden Logik der Verschwörung würden die USA am Hindukusch also gegen sich selbst kämpfen.) Aber mehrheitlich islamisch mag die Bewegung durchaus gefärbt sein, was im Übrigen nicht im Widerspruch zu den demokratischen Forderungen steht. Nimmt man das ägyptische Panorama als Vergleich her, dann werden sowohl die städtischen liberalen, verwestlichten Mittelschichten als auch die linke Komponente schwächer sein. Doch die Grundstimmung wird sich von jener im Rest der arabischen Welt nicht grundlegend unterscheiden. So wie die schiitische Führung im Irak vermeint man den Westen für sich zu instrumentalisieren und nicht umgekehrt.

Noch eine Bemerkung zur Lynchjustiz gegenüber Afrikanern: Nicht nur, dass es glaubhafte Berichte gibt, dass Afrikaner unter dem Pauschalvorwurf, Handlanger Gaddafis zu sein, gelyncht wurden. Es liegt auch in der Logik der Situation, da Ghaddafi seit Jahrzehnten tatsächlich Söldner benutzt so wie die meisten Öldiktaturen auch. Doch der Chauvinismus gegenüber Afrikanern ist nicht spezifisch für die Benghasi-Revolte. Sie ist Ausdruck eines arabischen Suprematismus gegenüber den subsaharischen Völkern, die über Jahrhunderte als Sklaven gehalten wurden. Der Ölreichtum und die Millionen Fremdarbeiter, die die niedrigen Arbeiten verrichten, befördern diese Stimmung, wie man nicht nur vom Golf, sondern auch aus Europa selbst weiß. Ghaddafi bediente trotz seiner panarabischen Anwandlungen immer wieder dieses Überlegenheitsgefühl. Die Benghasi-Revolte liegt da auf der selben Linie, wobei Gaddafi natürlich kein Motiv hat gegen seine eigenen Söldner vorzugehen.

Antiimperialistische Position?

In einer ersten Stellungnahme sprach die „Antiimperialistische Koordination“ (AIK) von einem Dreifrontenkrieg: „Potenziell antiimperialistische Kräfte in Libyen haben es nun schwer. Sie müssen gegen drei Fronten politisch wie letztlich auch militärisch kämpfen. Zuerst gegen die westliche Intervention und dann sowohl gegen Ghaddafi als auch die Diener des Westens von Benghasi.“ 1 Das wäre zwar äußerst heldenhaft und mutig, ist aber ein extremes Minderheitenprogramm, denn die Revolte war gegen Ghaddafi einfach politisch wie militärisch zu schwach.

Am ehesten kann man die Solidarität von der arabischen Welt in Rebellion, insbesondere von Ägypten und Tunesien, erbitten. Dabei sind Freiwillige aus der Volksbewegung gefragt. Das Vorbild des spanischen Bürgerkriegs kommt einem in Erinnerung. Doch ohne das Wohlwollen und eine gewisse Beteiligung der Armeen dieser Länder wird es wohl nicht gehen. Trotz aller Schwierigkeiten wäre das politisch leichter von der Volksbewegung kontrollierbar als die imperialistische Intervention. Gerade die kürzlich erfolgten Umstürze machen die Armeen des westlichen und östlichen Nachbarn vom Druck der Bevölkerung besonders abhängig. Ein derartiges Unternehmen könnte die Kräfteverhältnisse in diesen Ländern selbst zugunsten der revolutionären Kräfte verändern.

Der Unterschied zu den anderen Schurken

Warum kann nicht Ghaddafi selbst zum Kristallisationspunkt des antiimperialistischen Widerstands werden, wie es in Jugoslawien, dem Irak und dem gegenwärtigen Iran der Fall ist. Was macht den entscheidenden Unterschied aus?

Man kann nicht abstreiten, dass Ghaddafi noch auf eine gewisse Unterstützung zählen kann, denn sonst wäre sein Regime implodiert. Doch dabei handelt es sich weder um die Unterdrückten und Ausgebeuteten, noch um die politisch artikulierten Antiimperialisten. Es sind die Eigeninteressen Ghaddafis, seiner engsten Familie, seines Clans, seines Stammes, der Wirtschaftselite, die ihn zur Selbstverteidigung treiben. Aus diesem Grund ist auch damit zu rechnen, dass er und seine Entourage einen Kompromiss akzeptieren werden. Die Bedingung dafür ist, dass seine wirtschaftlichen Interessen und vermutlich auch seine persönliche Würde gewahrt bleiben.

Milosevic, Saddam und Ahmadinejad spiel(t)en eine andere Rolle. Trotz aller Fehler, Schwächen, ja Verbrechen betrachten die antiimperialistischen Kräfte diese Führungsfiguren als ein Moment der Verteidigung gegen den Imperialismus. Das heißt nicht sich ihnen auszuliefern, sich ihnen politisch unterzuordnen, sich auf sie zu verlassen. Aber ein Block mit ihnen ist im Sinne der Stärkung des Widerstands unumgänglich.

Ghaddafi ist eher mit Noriega in Panama vergleichbar. Ein ehemaliger US-Diktator fällt in Washington in Ungnade. Es folgt eine amerikanische Militärintervention. Diese muss natürlich bekämpft und abgelehnt und die Souveränität des Landes verteidigt werden, so wie in Libyen auch. Dort kommt noch hinzu, dass die Ereignisse sich im Kontext eines Umsturzversuchs als Teil einer gesamtarabischen Bewegung entspinnen, die objektiv gegen die imperialistische Architektur gerichtet ist.

Die Antiimperialisten müssen Teil dieser demokratischen Massenbewegung sein, die erst an ihrem Anfang steht. Nur so kann sie entwickelt und Fehlentwicklungen wie in Libyen korrigiert werden.