„Washington Consensus“

22.04.2012
Von A.F.Reiterer
Der Konsens der Herrschenden und ihrer Intellektuellen, wie die Welt auszusehen hat

Der Zusammenbruch des Sowjetsystems war nicht nur real ein Jahrhundert-Ereignis. Er war ideologisch eine ungeheure Erleichterung für die westlichen Eliten. Wie wenig attraktiv das Sowjet-Modell inzwischen auch war, wie wenig effizient es die Wünsche der Menschen dort auch erfüllte: Sein Anspruch, ein Gegenmodell darzustellen, war eine grundsätzliche Bedrohung. Die Erleichterung war also groß; das kann man aus dem kennzeichnenden Buch-Titel eines hohen US-Beamten und Akademikers ermessen: „Das Ende der Geschichte“.

Eines der Ergebnisse sowohl auf ideologischer als auch auf politischer Ebene war der Washington-Konsens. Er war zuerst ein Programm für die Entwicklungspolitik Lateinamerikas. Schnell wurde er das Grund-Konzept für die Entwicklungspolitik der Welt schlechthin. Er wurde zum „umfassenden ideologischen Rahmen“ (Naim 2000) als Alternativ-Anbot zum verblichenen (Sowjet-) Sozialismus. Später distanzieren sich der Verfasser der ursprünglichen Version von den gängigen Versionen und insbesondere der Version der Bush-Regierung (Williams 2003). Doch ist in der ursprünglichen Version, einem Konferenzprogramm 1989, alles Wesentliche enthalten.

Dieser Consensus war der Konsens von Akademikern und hohen Beamten der IFIs (IMF, WB, Interamerikanische Entwicklungsbank; U.S.-Schatzamt) in Washington 1990 über den Rest der Welt. Das Imperium dekretierte, was die anderen in Hinkunft zu tun hatten. Die neuen 10 Gebote sind durchaus lesenswert!

(1) Hohe staatliche Defizite müssen abgebaut werden – nicht, weil sie nach oben umverteilen und inkonsistent sind. Sie würden Inflation und Kapitalflucht hervorrufen; das ist in keiner Weise gesichert. Von Anfang weg siegt also das Dogma. (2) In den öffentlichen Ausgaben sind Prioritäten zu setzen; Bildung, Gesundheit und Infrastruktur seien zu bevorzugen. Das klingt vernünftig. Dies ist Teil der Erklärung, warum der Konsens einen so durchschlagenden Erfolg hatte: Neokonservative Kritik greift häufig berechtigte Anliegen auf. Die Details sind dann eine andere Frage. „Theoretisch kann eine Liberalisierung des nationalen Finanzmarkts ... die wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen. Empirisch lassen sich diese potenziellen Wohlfahrtsgewinne jedoch nicht nachweisen. … Entwicklungs- und Transformationsländer mit relativ offenen Kapitalmärkten sind besonders krisenanfällig“ (BMZ 2002, 49).
(3) Die Steuerbasis soll „verbreitert“ werden und die Grenzsteuersätze „moderat“ sein. Auch die Unterschichten sollen also Steuern zahlen; dafür sollen aber die Steuern für die Oberen Mittelschichten und die Oberschichten sinken. Kann man etwas Kennzeichnenderes erfinden? (4) Einheimische Finanzmärkte sollen entwickelt werden, damit sie die heimischen Zinssätze bestimmen. Die aber sollen positiv sein, damit Kapitalflucht entmutigt wird. Auch das ist eine ideologische Forderung. Zinssätze in schlecht entwickelten Ländern sind nie Null oder negativ.
(5) Ein „kompetitives Regime des Wechselkurses“ wäre durchaus sinnvoll und gegen eine starre Orthodoxie gerichtet. Es setzt aber natürlich eigenständiges Handeln voraus. Wie wir gleich sehen werden, ist dies keineswegs gegeben.
(6) Liberalisierung des Außenhandels soll die Einbindung in die Weltwirtschaft vorantreiben – und damit die Unumkehrbarkeit der neoliberalen Politik. Eine eigenständige Politik wird damit unmöglich. Die Folge waren ständige „externe Schocks“; Darunter fasste man Finanzkrisen, Rohstoffpreis-Verfall, Kriege und Naturkatastrophen zusammen. Alle 3 Jahre, so errechnete man, hat man damit zu rechnen. Faktisch sind dies Prozesse, die im Modell einfach nicht vorgesehen sind. Wenn sie so häufig sind, dann wäre doch die logische Folgerung: Man darf ihr Auftreten nicht durch Finanzmarkt-Integration fördern. Man muss sie verhindern, durch eine gewisse Abschottung. In anderen Fällen schreit man nach „firewalls“.
(7) Direkte Investitionen durch ausländisches Kapital sollen dasselbe bewirken.
(8) Privatisierung von Staatsbetrieben ist das Um und Auf. Gerechtfertigt wird sie rein ideologisch. Private Betriebe seien effizienter, weil die Manager dort einen „stake“ hätten. Auch hier hat man einen Aufhänger: Die endemische, überbordende Korruption bei den staatlichen Betrieben der Dritten Welt – und anderorts – ist nicht zu bestreiten. Allerdings ist das andere Auge blind. Denn was die Direktoren der staatlichen Betriebe in Form der Korruption machen, tun Managern in privaten Betrieben legal: Bereicherung. Niemand denkt daran, dort Kritik zu üben. Überall, wo es um Renten geht, d. h. um Zusatzprofite und -einkommen aus günstigen Umständen, tritt das Problem der Korruption besonders akut auf: Das durfte man nicht zugeben, denn der Übergang von „normalen“ Profiten zu Renten ist fließend.
(9) Deregulierung ist ein anderer Ausdruck des gesamten bisherigen Programms. Man gibt sogar zu, dass dies stärkere Ungleichheit bewirkt. Also will man auch „Armutsbekämpfung“. Das ist auch ganz und gar die Logik der EU: Das Lissabon-Programm gab Liberalisierung und Deregulierung als Ziel. Eine andere Generaldirektion soll dafür Bekämpfung der „Armut und der sozialen Ausgrenzung“ betreiben.
(10) Am Ende steht die Krönung durch gesicherte Eigentumsrechte. Auch hier bezieht man sich wiederum auf echte Schwächen. Eine korrupte Justiz und unsichere Rechts-Situation ist notorisch in der Dritten Welt. Das aber sei nicht ein Nachteil für die Bevölkerung allgemein, es hindere „die Anhäufung von Reichtum“ – steht wörtlich dort.

Es gibt in diesen „strategischen“ Texten einige Vokabel, die wie ein Mantra wiederkehren. Makroökonomisch heißt ein marktfundamentalistischer Theorie- und Politikansatz aus der Gleichgewichts-Ideologie. Es ist ein Code-Wort für eine Politik, welche auf die Abschaffung von Wirtschaftspolitik aus ist. Politik soll sich darauf beschränken, einige fetischisierte grobe Indikatoren (Zahlungsbilanzsaldo, Inflation, u. ä.) zu beobachten und deren lehrbuchartiges Verhalten zu garantieren. Wirtschaftspolitik ist „mikroökonomisch“ und eine „Störung des Marktgeschehens“. Der Markt reguliert Alles, und die Politik soll nicht stören. Ökonomische Aussagen sind unabhängig von Zeit und Ort gültig. – Marktfundamentalismus kommt immer den Vermögenden zugute. Denn Marktkräfte sind Machtverhältnisse. Einkommen und Vermögen, also Anbot und Nachfrage auf Märkten, sind die sichersten Indikatoren für Machtausstattung. Deregulierung heißt, mit den politischen Institutionen eine potenzielle Gegenmacht ausschalten. Das Vokabel „makroökonomisch“ stellt sich als Kennwort für übersimplistische Ideologie, mangelnde analytische Kapazität und Unterkomplexität heraus.
Hohe Wachstumsraten werden zum Fetisch schlechthin. Nun ist Wachstum Voraussetzung für Wohlstandssteigerung. Aber diese Leute kommen nicht im Traum auf die Idee, die Gültigkeit der üblichen Wachstumsrate des BIP als Indikator für allgemeinen Wohlstand in Frage zu stellen. Die „makroökonomisch“ unbedarft angestrebten Wachstumsraten sind in der Entwicklung mit Umverteilung nach oben verbunden. Dies ist rein rechenmechanisch logisch, sobald sie das Wachstum der Masseneinkommen übersteigen, also z. B. die Lohneinkommen.

Die „makroökonomische Stabilisierung“ ist heute ein ideologischer Tick der Ökonomen des Zentrums, ausgebildet auf US-amerikanischen Universitäten in der Walras’schen allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Sie ist der bewusstlose Ersatz für Planung, die es nach der reinen Lehre nicht geben darf. Ohne sie geht es aber ganz offenkundig nicht. Das wichtige Thema, wie diese Planung auszusehen hat, dass weder Korruption herrscht, noch innovative Impulse von unten abgewürgt werden, diese Frage wird nicht gestellt. Dafür finden wir einen neokonservativen Jargon, „sound money“, „reasonable inflation“, etc.

Der Washington Konsens wurde zur eigentlichen Globalisierungspolitik. Der erste Ansatz war naiv-interessensorientiert und ganz offenkundig ideologisch. Er setzte das institutionelle Umfeld der hoch entwickelten Länder auch in der Dritten Welt und in Osteuropa voraus. Als man sah, dass es nicht funktionierte, ergänzt man ihn („Augmented Washington Consensus“). Die Neue Institutionenökonomik, eine Modeströmung Ende der 1980er, wurde einbezogen: Sie wollte politische bzw. bürokratische, „formelle“ Institutionen zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig wollte man aber auf die alte Orthodoxie nicht verzichten. Man begründete die Institutionen wiederum mit den unzulänglichen Begriffen und Dogmen der Orthodoxie. Institutionen sind nicht mehr zentrale Begriffe sozialer Analyse. Sie sind erst recht wieder reduzierte auf völlig verengte operationale Variablen. Dementsprechend hilflos sind die Konsequenzen: Allgemeine Politikempfehlungen seien nur sehr begrenzt möglich; und man müsse das „lokale Umfeld“ zur Kenntnis nehmen.

Aus dem ursprünglichen Washington-Konsens, einer verkürzten und verstümmelten Debatte um lateinamerikanische Entwicklungspolitik, wurde so die allgemeine neoliberale Strategie für die sozio-ökonomische Ordnung der post-sowjetischen Welt. Sie wird in regionalisierten Politik-Programmen realisiert:

In Europa ist es die EU, Maastricht, die Währungsunion, das thatcheristische Lissabon-Programmm und nunmehr „Europa 2020“.
In Asien ist es die pinochetistische oder dengistische Politik der VR China und Vietnams und zunehmend Indiens; es ist das Entwicklungsmodell der aufstrebenden Peripherie.
In der Dritten Welt greifen schließlich die IFIs selbst ein und setzen ihr Programm durch.

21. April 2012