Postdemokratie oder Post-Postdemokratie?

15.05.2012
Von A.F.Reiterer
Vorläufige Bemerkungen zu Griechenland

Im Frühjahr 1953 wollten sich die Rechtsparteien in Italien mit einer Wahlrechtsänderung die Staatsmacht auf Dauer sichern. Das „Betrugsgesetz“ (legge truffa) sah für die stärkere Parteienallianz eine gewaltige Prämie von gleich einem Viertel der Abgeordneten vor. Kommunisten und Sozialisten mobilisierten. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen, die fast an einen Bürgerkrieg erinnerten. Das Gesetz wurde ein Jahr später zurück gezogen. Nur als Nebenbemerkung, denn das gehört eigentlich nicht hierher: Die Nachfolgepartei der KPI beschloss in den 1990er Jahren zusammen mit den schmutzigsten Reaktionären ein Wahlgesetz ganz im Geist jenes Betrugsgesetzes mit einer Prämie für die Stärkeren…
Die ND (Nea Demokratia) hat am 6. Mai mit 19 % der Stimmen einen doppelt so hohen Anteil an Mandaten geschafft. Aber ob das Betrugsgesetz auf Griechisch die Situation für die EU noch retten wird, ist ungewiss. Allerdings beherrscht Furcht vor Neuwahlen derzeit alle Konservativen. Denn nach derzeitigem Stand käme das Wahlbetrugsgesetz der Linken, Syriza, zugute.

Syriza ist in seinem Charakter derzeit nicht klar. Die stärkste Komponente kommt aus dem sogenannten Eurokommunismus – ebenso wie Dimar, die „Demokratische Linke“ mit ihren 7 %! Und die möchte derzeit Hand für die Rettung der alten Eliten zu bieten, weiß aber noch nicht recht, ob sie es wagen soll. Doch auch die Einstellung des Syriza: Gegen das sozial-wirtschaftliche Crash-Programm, aber für den Euro, scheint nicht nur eine taktische Angelegenheit zu sein. Dann aber steht eine fundamental-fehlerhafte Analyse dahinter.

Wenn man in den Ländern des Olivengürtels für die Beibehaltung der Einheits-Währung ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es gibt einen chaotisch-anarchischen Zerfall – etwas, was derzeit in Griechenland ja offenbar stattfindet. Oder aber es gibt die von den Eliten gesteuerte Dualisierung und Verelendung in geordneter Weise: Man benennt dies mit dem fast harmlosen Ausdruck „innere Abwertung“. Es ist der estnische Weg, der dort bisher von der Bevölkerung akzeptiert wird; und man kann sagen: Es ist bislang der osteuropäische Weg überhaupt. Will man den nicht, dann gibt es zum Austritt aus der Eurozone keine Alternative.

Und das, so scheint mir, muss man der Bevölkerung auch sagen, auch auf die Gefahr hin, ein oder zwei Prozentpunkte zu vergraulen und zu verlieren. Errikos Finalis hat an unserem Euro-workshop im Herbst in Wien für seine Gruppe, Teil von Syriza, gemeint: „Wir sind gegen den Euro, sagen dies aber jetzt nicht so“. Ich halte dies auch taktisch für einen Fehler. Politische Ehrlichkeit ist dann meist auch taktisch ein Gewinn, wenn man nicht gegen den Großteil der Bevölkerung agiert.

Denn grundsatzorientierte Politik ist keineswegs dasselbe wie die hirnlose und ganz unverständliche Politik der Politikverweigerung seitens der KKE, der Traditionskommunisten. Eine Analyse, die sich keine Illusionen macht ist eine Sache. Eine ganz andere ist das Beleidigtsein auf die Wirklichkeit. Und noch einmal ein himmelhoher Unterschied besteht zwischen einer realistischen Politik für die Gegenwart und einem prinzipienlosen Opportunismus.

Die eigentliche Drohung seitens der EU sowie der eigenen, griechischen, politischen und wirtschaftlichen Elite wird nicht offen ausgesprochen. Der griechische Staat ist derzeit nahe an, wenn schon nicht einem Primärüberschuss, so doch einer ausgeglichenen Primär-Bilanz. Ohne Schuldendienst könnte das Land also kurzfristig über die Runden kommen und wäre keineswegs gezwungen, Gehälter- und Pensionszahlungen einzustellen, wie u. a. auch die österreichische Hetzpresse schreibt. Ein Schulden-Moratorium von mehreren Jahren, von Syriza befürwortet, wäre die rationalste und beste Möglichkeit. Aber es würde auf Dauer nicht ausreichen. Nun ist es durchaus denkbar, dass die amtierende Protektorats-Regierung von ND und PASOK mit Unterstützung der EU/EZB die vorhandenen Mittel im laufenden Schuldendienst einsetzt. Dann wäre Mitte Juni wirklich der Teufel los, und die Gehälter und Pensionen nicht mehr gedeckt. Dann gibt es Erpressungs-Potenzial seitens der EU die Fülle.

Die EU hat ein Lieblings-Szenario. Es heißt Postdemokratie. Man will die demokratischen Formalien, die demokratische Façade, beibehalten. Die Entscheidungen aber sollen mit anderen Mitteln und anderswo fallen. Man will weiterhin Volksabstimmungen. Aber doch bitte nicht über den Vertrag von Lissabon. Über Hausmeister in Gemeindebauten, ja! Man will weiterhin Parlamentswahlen und Parlaments-Debatten. Aber die Parlamente sollen das abnicken, was Merkel und Sarkozy / Hollande und einige Akteure ohne bekanntes Gesicht beschlossen haben.

In Griechenland ist dies, wie es scheint, haarscharf daneben gegangen. Das Betrugs-Wahlgesetz war für eine Norm-Situation konzipiert, wo die beiden damals noch größeren Parteien zumindest 30 % hatten. Es war das politische Lotto, welches das finanzielle Lotto ideal ergänzen sollte. Und jetzt hat es nicht ganz funktioniert. Und es gibt keinen „Plan B“, wie dümmliche Journalisten zu sagen pflegen. Was nun? Die Eliten sind ganz und gar keine Einheit. Sie haben unterschiedliche Ideologien, Konzepte, Interessen und daher auch unterschiedliche Politiken.

In Griechenland gibt es stets auch die Versuchung des Blanquismus, der „Politik der Tat“, kurz: des bewaffneten terroristischen Widerstands. Es werden keine Massen sein, die in diese Richtung drängen. Bisher haben diese Tendenzen weitgehend still gehalten, vielleicht auch, weil sie die Wahlen abwarten wollten. Was aber, wenn jede Veränderung durch Wahlen ausgetrickst wird? Auch einige Hunderte reichen aus, bestimmten Gruppen der herrschenden diesen Gefallen zu tun. Sie können ihnen den gewünschten Anlass bieten, um nun einen „Plan C“ zu verwirklichen. Auf die Postdemokratie könnte durchaus die Post-Postdemokratie folgen.

13. Mai 2012