Mursi dazwischen

27.06.2012
Nimmt der frisch gewählte Präsident den kalten Staatstreich der Armee hin oder stellt er sich auf die Seite der Volksbewegung?
Von Wilhelm Langthaler
Eine Woche lang hielt die Wahlkommission des alten Regimes die Ergebnisse der Präsidentenstichwahl unter Verschluss, während sich beide Kontrahenten zum Sieger deklarierten. Die Annahme, dass es hinter verschlossenen Türen zu intensiven Verhandlungen zwischen den Generälen und den Islamisten gekommen wäre, klingt plausibel. Doch wie lautet ihr Deal? Und werden sich die Partner so wenig daran halten, wie sie es bis jetzt getan haben?

Es liegt nahe, dass der Militärrat (SCAF) ernsthaft erwogen hatte, ihren Kandidaten Shafiq zum Präsidenten zu küren. Zumindest wollten sie das glauben machen, um Verhandlungsmasse und Druckmittel gegen die Muslimbrüder in der Hand zu haben.

Doch Shafiq quasi als gewähltem Thronfolger von Mubarak die Krone aufzusetzen, hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Denn das wäre nichts weniger als die Vollendung des Verfassungsputsches gewesen, den die Generäle im Vorfeld der Kür Mursis schrittweise durchgezogen hatten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre damit eine abermalige Tahrir-Bewegung, ein richtiggehender Volksaufstand provoziert worden, der sehr viele Islamisten auf die Seite der Revolutionäre gezogen und die Gesellschaft noch weiter aufgewühlt hätte. Ein Szenario, dass das alte Regime nicht wollen konnte und das gleichzeitig Zeugnis von der potentiellen Stärke der revolutionär-demokratischen Volksbewegung ablegt.

Auch die USA sind an einer Eskalation in keiner Weise interessiert, sondern sie setzen auf den Ausgleich zwischen Militärs und Muslimbrüdern. Auf diese Koalition wollen sie ein neues Regime stützen. Im Namen der Demokratie soll die Demokratiebewegung von unten zurückgedrängt werden.

Muslimbrüder in der Zwickmühle

Es muss daran erinnert werden, dass vor dieser inszenierten „Versöhnung“ durch die Wahl Mursis zum Präsidenten die Militärs de facto die Macht wieder an sich gerissen haben. Die gemeinsam mit den Muslimbrüdern gebildeten Institutionen, die die Demokratie repräsentieren sollten, wurden mit drei Federstrichen zunichte gemacht und damit die Glaubwürdigkeit der Muslimbrüder. Zuerst lösten sie die Verfassungskommission auf, dann das Parlament und schließlich entmachteten sie den Präsidenten, dessen Kompetenzen auch schon zuvor völlig unklar gewesen waren. Die Muslimbrüder wurden ein weiteres Mal Opfer ihrer eigenen Strategie der Kooperation mit dem SCAF.

Die Militärs hatten in einem gewissen Sinn leichtes Spiel und mussten den Tahrir nicht fürchten, denn der hatte all diese Institutionen schon lange als Schwindel abgeschrieben. Für die Revolutionäre gilt seit langem, dass die Demokratie erst dann anfangen kann, wenn der SCAF zurückgetreten ist. Wahlen haben unter der Herrschaft der Junta gar keinen Sinn, noch weniger als ein Parlament, ein Präsident und eine verfassungsgebende Versammlung, die alle von den MB dominiert und letztlich vom SCAF dirigiert werden. Derzeit konzentriert sich der Tahrir auf die Forderung der Annullierung des kürzlich proklamierten Verfassungszusatzes, der die Macht des Militärrats festschreibt.

Was also haben SCAF und MB ausgeheckt, welchen Deal könnten sie geschlossen haben? Die Grundidee der Junta kann nur sein, dass die Islamisten zwar den Präsidenten stellen dürfen, sie aber mehr oder weniger verdeckt dauerhaft die Fäden im Hintergrund ziehen. Gemeinsam soll mit dem Tahrir Schluss gemacht werden. So könnte eine Maximalvariante der Militärs lauten.

Doch so viel können die Muslimbrüder beim besten Willen nicht geben. Nicht nur, dass ihr einjähriger Block mit der Armee ihnen bereits sehr viel Popularität gekostet hat. Nun sind auch ihre Institutionen aufgelöst worden und sie haben ihre Leute dagegen Seite an Seite mit dem Tahrir, den sie bisher so sehr gemieden hatten, auf die Straße geschickt. Sie können nun nicht so einfach auf Parlament, Verfassungskommission und Präsidentenmacht verzichten. Auch ihre Basis wünscht sich ein baldiges Ende der Militärherrschaft. Gewisse Zugeständnisse müssen Mubaraks Handlanger schon machen.

Ohne die Unterstützung der Linken und Säkular-Liberalen bleibt Mursi nichts als die Rolle der Marionette der Generäle, denn die MB haben sich im Verlauf des letzten Jahres als alleine viel zu schwach herausgestellt. Daher hat Mursi in seinen ersten Auftritten die Hand zu diesem Milieu ausgestreckt – ohne jedoch substanzielle Angebote zu machen. Zu den dringenden Verfassungsfragen hat er bisher jegliche Aussage vermieden, während seine Partei durch eine große Bandbreite an öffentlichen Positionen sich alle Optionen offen halten will. Doch dieses Spiel wird nicht lange gehen. Die MB spielen es schon zu lange und das zu exorbitanten politischen Kosten.

Die Revolutionäre fordern daher, dass Mursi den Amtseid vor dem Tahrir ablegt, da das Parlament aufgelöst ist und die Justiz sich in den Händen des alten Regimes befindet. Das wäre eine symbolische Geste. Mursi hingegen spricht davon, dies nur vor dem Parlament tun zu wollen. Zuletzt kamen Meldungen, dass er einknicken und doch die Verfassungsrichter, die Handlanger der Putschisten, den Schwur abnehmen würden – genau so wie es die Regie der Militärs vorgesehen hat. Eine weitere unmittelbare und sehr populäre Forderung ist die Bestrafung der Täter und die Freilassung der politischen Gefangenen. Man kann annehmen, dass Mursi bei den Generälen auch damit auf Granit beißen wird.

Die Muslimbrüder stehen also zwischen den Stühlen. Sie brauchen Zugeständnisse von der Junta, die sie vielleicht nicht bekommen, denn die Generäle haben mit den 12,5 Millionen Stimmen für Shafiq und dem Coup Stärke demonstriert. Können sie diese nicht präsentieren, läuft ihre Basis zu radikaleren Kräften, sei es die in Verwirrung geratenen Salafisten (die zuweilen sich stärker an den Tahrir anlehnen, als die MB), oder zum demokratischen Milieu über. Zu weit können sie aber auch nicht gehen. Das widerspräche ihrer sozialen Natur, die nun einmal die einer kapitalistischen oberen Mittelschicht von Händlern und freien Berufen ist.

„Der Strick des Gehängten“

Lenin verwendete bezüglich Kerenski die Metapher, dass dieser gestützt werden müsse wie der Strick den Gehängten. In grober Vereinfachung war Kerenski 1917 der liberal-sozialdemokratische Regierungschef nach dem Sturz des Zaren (Februarrevolution) aber vor dem Sturz des kapitalistischen Systems (Oktoberrevolution), der das alte System möglichst bewahren wollte, aber von dem die Volksmassen historische Veränderungen erwarteten. In gewisser Hinsicht ist eine Analogie zum Post-Mubarak-Ägypten nicht von der Hand zu weisen. Jedenfalls attackierten die Bolschewiken Kerenski nicht frontal, sondern streckten die Hand zur Zusammenarbeit auf der Basis der Forderungen der Massen aus, die Kerenski beständig ausschlug. Ergebnis war, dass Kerenski zwischen Revolution und Konterrevolution oszillierte und die Volksbewegung schließlich mehrheitlich zu den Revolutionären überging, während Kerenski bei der Konterrevolution endete.

Ist eine ähnliche Herangehensweise auch gegenüber den Moslembrüdern möglich?

26. Juni 2012